Neuer Schutzplan in Arbeit

Ostsee – das kranke Meer

Ein toter Fisch liegt im Sand an der Ostsee, im Hintergrund Menschen und ein strahlend blauer Himmel.
Eigentlich sollte sich bis 2021 der Zustand der Ostsee deutlich verbessert haben. Doch die Ziele werden verfehlt. © imago / Dieter Mendzigall
Von Silke Hasselmann · 05.09.2018
Müll, Öl, Mikroplastik, Überdüngung und Sauerstoffmangel - die Ostsee ist in einem schlechten Zustand. Das Ökosystem droht aus dem Lot zu geraten. Nun soll ein neuer Schutzplan das kleinste Meer der Welt wieder gesund machen.
Stadthafen Rostock, dritter Ostseetag. Gemeinsam präsentieren sich die vier größten Meeresforschungseinrichtungen von Mecklenburg-Vorpommern der Öffentlichkeit. Auch die "Elisabeth Mann Borgese" hat angelegt, das 56 Meter lange und 10 Meter breite Forschungsschiff des Leibniz Instituts für Ostseeforschung Warnemünde.
Damit stechen auch Michael Naumann und Alexander Darr gelegentlich in See. An diesem Tag jedoch steht der eine an Deck vor großen Schautafeln und erklärt anhand der bunten Grafiken, Balken und Zahlen, was sie über Sauerstoffmangelzonen herausgefunden haben. Der andere sitzt in einem der Schiffslabore und demonstriert mithilfe von Videoaufnahmen vom Meeresboden, wie er den Zustand der Ostsee vor Mecklenburg-Vorpommerns Küste einschätzt.
"Als wir Anfang August gefahren sind durch die Mecklenburger Bucht, haben wir auch Wasserproben genommen aus dem bodennahen Wasserkörper, und der Sauerstoffgehalt war unter einem Milliliter pro Liter. Das ist schon viel zu wenig. Bei Fischen sagt man, ab vier Milliliter wird es schwierig. Und bei unseren bodenlebenden wirbellosen Muscheln, Schnecken, Würmern - die kriegen Probleme ab zwei Millilitern pro Liter."

Überdüngung ist eines der Hauptprobleme

Alexander Darr nimmt immer wieder Videofilme auf. Was er jetzt zeigt, ist ganz frisch aus den heißen Augusttagen, aufgenommen leicht westlich vor Kühlungsborn. Auf dem 20 bis 25 Meter tiefen Grund sieht es aus, wie es muss, sagt der 41-jährige Meeresbiologe:
"Wir sehen jetzt hier in 20, 25 Metern Wassertiefe eine Menge größere und kleinere Steine. Jede Menge Steine, auf denen Miesmuscheln siedeln. Auf diesen Miesmuscheln sind jede Menge Seesterne, die diese Miesmuscheln auffressen. Das ist eine ganz natürliche Erscheinung. So, jetzt sind wir ein bisschen tiefer in der Mecklenburger Bucht. Hier sehen wir einen Schlickboden. Auf dem Schlickboden haben wir eine organische Auflage, das heißt, die Planktonblüte aus dem Frühjahr ist abgesunken und bedeckt jetzt den Meeresboden. Unter dieser Oberfläche ist quasi alles schwarz. Es lebt da auch keine Fauna mehr drin, sondern nur noch Bakterien und ganz kleine Tiere. Was wir gleich innerhalb der nächsten Minuten sehen können sind weiße Flecken. Und diese weißen Flecken sind Schwefelbakterien, die für uns immer ein klares Zeichen für Sauerstoffmangel sind."

Das Problem: Je höher die Wassertemperatur, desto weniger Sauerstoff kann sich darin lösen. Zugleich sorgen Nährstoffe aus der Landwirtschaft, die mit den Flüssen oder über das Grundwasser in die Ostsee geschwemmt werden, wie Brandbeschleuniger. Denn Cyanobakterien, die Unmengen an Sauerstoff verbrauchen, vermehren sich in derart nährstoffreichem Wasser hervorragend.
Meeresbiologe Alexander Darr
Meeresbiologe Alexander Darr untersucht den Sauerstoffmangel in der Ostsee.© Deutschlandradio / Silke Hasselmann

"Das gesamte Gewässer ist nicht gut"

Nahmen die extremen Sauerstoffmangel-Zonen in der Ostsee vor über 100 Jahren noch rund 5000 Quadratkilometer ein, so sind es mittlerweile etwa 60.000 Quadratkilometer. Kein anderes Meer der Welt kann der Ostsee in diesem Punkt, nun ja, das Wasser reichen.
Doch das ist nicht der einzige menschengemachte Stress für die hiesigen Ostseegebiete. Die Kadet-Rinne ist die meistbefahrene Schiffsroute. Vom supertiefen Massengutschiff über den Fischtrawler bis zu Tanker, Fähre, Kreuzfahrtschiff - sie alle kommen und mit ihnen Schiffsdieselabgase, Unterwasserschall und auch so mancher Über-Bord-Verlust an Müll, Öl, Mikroplastik, sagt Alexander Darr vom Warnemünder Leibniz Institut für Ostseeforschung.
"Also in der Mecklenburger Bucht würde ich sagen: Das gesamte Gewässer ist nicht gut. Einer der Hauptgründe ist tatsächlich die Eutrophierung, die Überdüngung, die nicht nur zu diesen dramatischen Bildern führt, sondern auch an anderer Stelle zu einer Verarmung der Gemeinschaften und zu Veränderungen, die eindeutig nicht gut sind. Ich werde aber nicht müde auch darauf hinzuweisen, dass es Gebiete gibt, in denen es gut ist. Die Hartböden im Bereich Fehmarn Belt oder auch Teile des Adlergrundes - das sind die küstenfernen Gebiete, wo wir eine hohe Artenvielfalt haben und die bedeutet sind als Rückzugsgebiete. Sei es für den Dorsch, sei es auch für meine Arten, die Muscheln und anderen Wirbellosen. Und es sind auch Gebiete, die meiner Meinung nach unter Schutz gehören, damit es auch so bleibt."

Bisheriger Schutzplan funktioniert nicht

Volles Haus derweil im benachbarten Theater am Stadthafen. Hochrangige Beamte aus einem Landes- und vier Bundesministerien sowie zwei Meeresbiologen diskutieren über den Zustand der Ostsee. Im Publikum auch Schüler aus Hamburg. Sie hören zum ersten Mal von dem europäischen Helsinki-Prozess und dem daraus entsprungenen "Ostsee-Aktionsplan". Sie erfahren, dass sich Deutschland verpflichtet hat, bis 2021 in elf genau beschriebenen Bereichen einen "guten Umweltzustand" zu erreichen. Doch derzeit schreiben die EU-Umweltminister einen neuen Ostsee-Schutzplan, denn der bisherige funktioniert nicht. Kein Wunder, findet Maja und denkt an die Podiumsdebatte zurück. Wann immer das Publikum etwas Konkretes zum schnelleren Schutz der Ostsee vorgeschlagen habe - zum Beispiel ein Verbot von Kreuzschifffahrten - hieß es von den Ministerialen: "Ja, schädlich für die Ostsee ist das, aber verbieten geht nicht so einfach."
"Ich selbst tauche auch in der Ostsee, und mir war nie bewusst, wie gefährdet das eigentlich ist. Hier gibt es so viele Probleme, und trotzdem werden diese Ziele irgendwie nicht genug angegangen, nicht richtig priorisiert. Und jetzt sind wir wieder in so einem Teufelskreis. Es fängt alles wieder von vorne an: Alle Probleme werden wieder angesprochen; man muss alles angehen. Aber ich glaube, man muss irgendwo anfangen."
Ihr Klassenkamerad Yannis nimmt als gute Nachricht mit, dass in Deutschland im Bereich Mikroplastik in Kosmetika schon einiges passiert ist. Die schlechte Nachricht:
"Also ich fand auch noch interessant, dass er gesagt hat, wir hatten über 100.000 - wie hießen die Wale noch mal? - Schweinswale. Jetzt haben wir 500. Das sind jetzt wenig im Vergleich zum Anfang. Das hat mich schon ein bisschen geschockt, als ich das gehört habe."

Dennoch: Die Kegelrobben kommen zurück

Diese Information kam von Henning von Nordheim, der auf der Insel Vilm vor Rügen vor über 25 Jahren die Außenstelle Meeresschutz vom Bundesamt für Naturschutz aufgebaut hat. Was den europäischen Ostsee-Aktionsplan betrifft, so kennt der undogmatische Naturschützer mit Beamtenstatus jede Einzelheit und bescheinigt Deutschland einige Fortschritte.
"Wir bringen nicht mehr so viel Nährstoffe auch in Deutschland ins Meer ein. Gleichwohl ist der Nährstoffbestand sehr, sehr hoch, und deswegen haben wir ja so viele Blaubakterien und Blüten. Wir müssen auch feststellen, dass gerade beim Artenschutz unsere Seeadlerbestände sich deutlich erholt haben im Lande Mecklenburg-Vorpommern. Die Kegelrobben kommen endlich wieder zurück, nachdem wir sie vor 100 Jahren hier ausgerottet haben. Oder wir stellen fest, dass es einigen Vogelarten, die nicht so bekannt sind, auch relativ gut geht im Lande. Wo wir keine Fortschritte haben, ist die generelle Belastung verschiedener Lebensräume. Also die Belastung der Sandbänke, der Riffe, der Großalgenwälder, die wir unter Wasser haben, oder auch der Küstenregionen hat sich leider in den letzten Jahren nicht substanziell verbessert."

Auch das Thünen-Institut für Ostseefischerei beteiligte sich am "Ostseetag" und verlegte ein Schiff in den Rostocker Stadthafen. Lieblingsthema der Besucher: der Hering. Das passt. Dorothee Moll bittet einen älteren Herren an das Mikroskop. Der passionierte Angler staunt: Heringslarven in einem so frühen Entwicklungsstadium habe er noch nie gesehen.
"Das ist das einjährige Stadium?"
"Das ist gerade geschlüpft."
Doch wer wisse schon, wie lange es überhaupt noch Hering in der Ostsee gebe. Dass das Meer nicht gesund ist, habe man doch diesen Sommer besonders gemerkt.
Das Thünen-Institut erklärt beim "Ostseetag" den Besuchern, wie es um die Fische in der Ostsee bestellt ist.
Das Thünen-Institut erklärt beim "Ostseetag" den Besuchern, wie es um die Fische in der Ostsee bestellt ist.© Deutschlandradio / Silke Hasselmann

Die Wassertemperaturen steigen

"Wenn man am Strand langgeht - die Algenpopulation oder was angespült wird vom Meer. In den 70er-Jahren, kann ich mich erinnern - ich bin ja schon ein älteres Semester -, da waren die Ostseetemperaturen weitaus geringer als heute. Da hatten wir Wassertemperaturen 17, 18 Grad im Durchschnitt. Heute sind es 21 Grad in diesem Sommer. Das wirkt sich doch auf das ganze Ökosystem aus, ne?"
Dorothee Moll, spezialisiert auf die Laichgebietsökologie des Ostsee-Herings und den menschlichen Einfluss auf seinen Reproduktionserfolg, kommt auf die Wassertemperaturen zurück. Die Kinderstube des Ostseeherings, der Greifswalder Bodden, sei früher im Winter stets von Eis bedeckt gewesen. Doch durch die deutlich milderen Winter setze das Laichen und das Reifen der Larven mittlerweile bis zu zwei Wochen vor der normalen Zeit ein. Mit gravierenden Folgen.
"Jetzt dieses Jahr beispielsweise hatten wir einen milden Winter und die Heringe wollten laichen. Und dann gab es einen Temperatursturz. Das ist dann natürlich auch tödlich. Und wenn man sich jetzt den Klimawandel betrachtet und diese Wetterextreme, merkt man schon Veränderungen. Sie laichen früher. Wir finden früher Eier im Gebiet."
Die Kollegen vom Leibniz Institut für Ostseeforschung Warnemünde messen die Wassertemperatur der Ostsee rund um die Uhr an vielen verschiedenen Stationen. Kürzlich erklärten sie, bezogen auf die gesamte Ostsee und das Jahresmittel sei kein klarer Trend zu einer Erwärmung zu erkennen. Doch das sei kein Widerspruch zu dem Befund des Thünen-Instituts für Ostseefischerei, sagt Direktor Christoph Zimmermann. Denn das Wichtigste für die Fischbestände sei die Wassertemperatur zu ganz bestimmten Winterzeiten an ganz bestimmten Orten.
"Und da reichen zwei Grad mehr, um das ganze sorgfältig eingestellte Gefüge zwischen 'Wann muss der Heringsnachwuchs an welcher Stelle sein, um ausreichend Nahrung zu haben?' - dieses Gefüge gerät aus dem Lot. Und das führt dazu nach unserer Erkenntnis, dass der Heringsbestand weniger produktiv ist und jetzt die Heringsfischerei, selbst wenn der Bestand in gutem Zustand wäre, nur noch halb so viel Hering ernten könnte, wie sie sie noch vor 30 Jahren ernten konnten. Das sind einfach mal vierzig-, fünfzigtausend Tonnen Hering, die in der Anlandestatistik fehlen - aufgrund, wie wir glauben, des Klimawandels, selbst wenn er nicht überfischt wäre, was er zurzeit ist."

"Wasser hat ein langes Gedächtnis"

Die Landesregierung habe ihre Hausaufgaben gemacht, ist derweil von Till Backhaus zu erfahren, Landesminister für Umwelt, Landwirtschaft und Fischerei in Mecklenburg-Vorpommern. Für den neuen Ostseeschutzplan habe sein Haus dem Bund bereits zugearbeitet und alles notiert, was aus Sicht des Landes mit seiner fast 2000 Kilometern langen Ostseeküste nötig und machbar ist. Denn vor allem mit Blick auf die vielen Nähr- und Schadstoffe, die einige Jahrzehnte lang nahezu ungebremsten ins Ostseewasser gelangt sind, sagt er:
"Wir haben für dieses kleinste Meer der Welt einen klugen Plan entwickelt mit dem Ziel, den guten ökologischen Zustand bis zum Jahr 2021 herzustellen. Das wird uns nicht gelingen. Leider. Denn Wasser hat einfach ein langes Gedächtnis. Und ehe diese Maßnahmen greifen, das dauert Jahrzehnte. Aber wir sind auf dem richtigen Weg."
Backhaus zählt auf: Seit diesem Jahr in Mecklenburg-Vorpommern in Kraft - eine strengere Düngemittelverordnung. Zudem biete das Land den Bauern eine grundwasserschonende Dünge-Beratung an, und zwar passgenau für ihre jeweiligen Äcker und Kulturen.

"Wir haben über 3000 Beratungsgespräche geführt. Wir haben 2500 Hektar Flächen gekauft, die wir in die Umsetzung der Wasserrahmen-Richtlinie einsetzen. Das heißt, Flächen liegen an den Gewässern, und die werden quasi für die Renaturierung bereitgestellt. Oder daraus werden Blühwiesen, oder darauf werden Hecken gepflanzt. Wir haben 276 wasserseitige Nährstoffsenken angelegt."
Besonders stolz ist Till Backhaus auf den sogenannten "Phosphor Campus", zu dem sich die fünf in Mecklenburg-Vorpommern sitzenden Leibniz-Institute und die beiden Universitäten Greifswald und Rostock zusammengeschlossen haben. Sie forschen daran, Phosphor-Einsatz in der Landwirtschaft vermeiden oder verringern zu können. Andererseits suchen sie Verfahren, um den als Rohstoff immer seltener werdenden Phosphor aus Klärschlamm und Gülle rückzugewinnen.
"Und da sind wir ziemlich an der Spitze der Bewegung weltweit, und das ist doch auch ein Lichtblick."
Umweltverschmutzung in der Ostsee: Ein Klumpen liegt am Strand.
Umweltverschmutzung in der Ostsee - die bisherigen Maßnahmen zur Verbesserung reichen nicht aus.© dpa / picture alliance / Martina Rathke
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