Neuer Prozess gegen Kunstmäzen Osman Kavala

Ohne Urteil jahrelang inhaftiert

06:42 Minuten
Ein Mann hält bei einer Mahnwache des PEN-Zentrums für den türkischen Verleger und Kulturmäzen Osman Kavala vor der Türkischen Botschaft ein Bild von Kavala.
Auch der Schriftstellerverband PEN setzt sich für den seit 2017 in der Türkei inhaftierten Kulturmäzen Osman Kavala ein. © dpa
Susanne Güsten im Gespräch mit Eckhard Roelcke · 18.12.2020
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Seit mehr als drei Jahren sitzt der Kulturmäzen Osman Kavala in Untersuchungshaft in der Türkei. Ein erstes Urteil hatte der Europäische Gerichtshof für ungültig erklärt, doch die Türkei findet auch im neuen Prozess Vorwände, Kavala nicht freizulassen.
Vor einem Gericht in Istanbul hat ein zweiter Prozess gegen den Unternehmer und Kunstmäzen Osman Kavala begonnen. Kavala muss sich wegen mutmaßlicher Beteiligung an dem gescheiterten Putsch in der Türkei im Jahr 2016 verantworten. Menschenrechtler kritisieren das Verfahren und dessen Umstände massiv – auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte bereits vor einem Jahr gefordert, Kavala freizulassen.

Haltlose Vorwürfe

Von dem Vorwurf, Kavala habe den Umsturz von Erdogans Regierung organisiert, sei er bereits im Februar freigesprochen worden, sagt die Journalistin Susanne Güsten – sie hat den ersten Tag des neuen Prozesses miterlebt. Denn für diesen Vorwurf hatte es überhaupt keine Beweise gegeben, so Güsten.
Doch vor einer Freilassung habe die Staatsanwaltschaft damals Beschwerde eingelegt und eine neue Anklageschrift vorgelegt: "Über die wurde heute verhandelt. In der neuen Anklageschrift steht, ja gut, wenn er nicht für die Gezi-Proteste verantwortlich war, dann ist er halt für den islamistischen Putschversuch vom Jahr 2016 zuständig. Dann wird er halt dafür vor Gericht gestellt. Und seither sitzt er weiterhin in Untersuchungshaft wegen dieses Vorwurfs."

Jahrelang gefangen ohne Urteil

Die Hoffnung, dass Kavala für die Dauer des Prozesses freikomme, sei nicht erfüllt worden. Dies sei überraschend, weil der türkische Präsident Erdogan – nach den angedrohten und zum Teil auch vom Westen verhängten Sanktionen – zuletzt mehrfach angedeutet hätte, mehr Demokratie und Verständigung mit Europa zu erreichen.
"Aber nein. Das Gericht sagt nach einer äußerst merkwürdigen Verhandlung am Ende wieder: Ab in die Zelle und weitere zwei Monate bis zur nächsten Verhandlung. Also bis zum nächsten Mal überhaupt darüber gesprochen wird, werden drei Jahre und vier Monate vergangen sein, in denen er hinter Gittern sitzt, ohne dass er für irgendetwas verurteilt worden wäre."

Erdogan entscheidet

Das große internationale Aufsehen des Prozesses führe nicht zum Einlenken der Türkei, sagt Güsten, denn die türkische Justiz sei schon längst nicht mehr unabhängig. "Seit die Türkei umgestellt hat auf das Präsidialsystem von Erdogan, werden alle Richter und Staatsanwälte durch einen Richterrat ernannt und abberufen, der mehr oder weniger direkt Erdogan untersteht." Direkt oder indirekt benenne Erdogan alle Mitglieder dieses Richterrates, die wiederum die Richter ernennen würden. "Da gibt es überhaupt keine richterliche Unabhängigkeit mehr – das ist eine ganz klare politische Entscheidung."
Alle Richter, die Kavala im Februar freigesprochen hatten, stünden längst selber in Ermittlungsverfahren. "Gegen die hat das Justizministerium damals sofort ein Disziplinarverfahren eingeleitet, das immer noch nicht abgeschlossen ist."

Mehr als Unrecht

Der 63-jährige Kavala sei am ersten Prozesstag nur per Videoschalte aus dem Hochsicherheitsgefängnis Silivri zugeschaltet gewesen. "Und er sagte, für ihn ist das schon längst noch mehr als Unrecht. Für ihn ist das Folter, was ihm angetan wird – psychische Folter." Was sich Kavala "quasi zuschulden" habe kommen lassen, sei, dass er anders gedacht habe als Erdogan, sagt Güsten.
"Er war für eine Verständigung und mehr Austausch mit Europa, für eine Förderung der Kultur der nichtmuslimischen Minderheiten in der Türkei. Und er hat sich für die armenisch-griechisch-jüdische Kultur eingesetzt." Doch auch dies werde ins Gegenteil verkehrt, darum sei es am ersten Prozesstag vor Gericht gegangen.

Krude Theorien

"In der Verhandlung wurden antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet, Zeugen angehört, die aus dritter Hand wussten, dass irgendein jüdischer Geschäftsmann mit einem jüdischen Amerikaner über diesen Putsch gesprochen haben soll." All das werde dann Kavala in die Schuhe geschoben, so Güsten. Das Signal, das das Gericht setze, sei: "Wer anders denkt als Erdogan, der hat keine Gnade zu erwarten."
(mle)
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