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"La Bohème" in Stuttgart
Prekariat unter Künstlern

Die Inszenierung von Giacomo Puccinis "La Bohème" kommt modern daher. Regisseurin Andrea Moses verlegt die Handlung ins Unterschichten-Milieu der Skripted Reality-Formate und zu den gescheiterten Individualisten. Ein frischer Impuls, allerdings schon mit fadem Beigeschmack.

Von Frieder Reininghaus | 31.05.2014
    Im Vordergrund Musetta (Yuko Kakuta), Marcello (Bogdan Baciu), Colline (Adam Palka), Rodolfo (Atalla Ayan) und Mimì (Pumeza Matshikiza) in der Weihnachtsmall.
    Regisseurin Andrea Moses inszeniert in Stuttgart Puccinis "La Bohème". (A.T. Schaefer)
    Die Bohème ist heruntergekommen – gefühlte fünf Stockwerke. Die vier Pariser Dachgauben-Existenzen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts haben sich zu ebener Erde in einem Hinterhof in einem Mehrzweckraum eingenistet. Der ist realistisch bis in alle Details als Wohnwerkstatt und zugleich Studio eingerichtet. Da stehen Fernseher, als wollten sie repariert werden. In erster Linie aber pflegen die vier netten Jungs "neue Medien". Mit munterem Rollenspiel ironisieren sie ihre prekäre Situation. Dem Literaten Rodolfo fällt für den Leitartikel, den er rasch in den Laptop klopfen will, erwartungsgemäß nichts ein.
    Die kitschverdächtigen schönen Stellen, die sich mit dem Herantasten von Mimi an Rodolfo eröffnen, inszeniert Andrea Moses dann effektsicher als Episoden einer Reality-Show. Die Protagonisten gerieren sich, als wären sie Peter Alexander und René Kollo bzw. Catharina Valente und Song-Contest-Kandidatin in einem. Der Schmelztenor Atalla Ayan gibt sich so erfolgsgewiss, dass der Erfolg einfach gewiss sein muss und einige ältere Damen zum Schlussapplaus auch spontan für ihn aufspringen.
    Die Mimi, mit der sich die Liebe auf den ersten Griff einstellt, signalisiert Migrationshintergrund. Pumeza Matshikiza kommt für dieses französisch-italienische Stück nicht nur von der Gegenküste des Mittelmeers, sondern aus dem noch viel südlicheren Afrika: eine überzeugende jugendliche Liebhaberin, deren Leiden und Sterben von der Videokamera festgehalten und groß projiziert wird. Das ist eine plausible Grundierung einer Produktion, die mit optischen Affekten wahrlich nicht geizt.
    Eine schmucke Arbeit, die der Geschmacksträgerschicht dem Beifall zufolge zusagte
    Fürs Weihnachtsfest bot der Ausstatter Stefan Strumbel auf, was grell bunt und schreiend werbewirksam ist – das Rudel Kinder ist ein Running Reklame-Gag für Jugendmoden, das Café Momos ein nostalgisches Überbleibsel in der Einkaufsmeile, die ein riesiger Christbaum schmückt. An seiner Spitze der Stuttgarter gute Stern auf allen Straßen und – als wäre damit nicht schon deutlich genug gezeigt, wem die Stadt gehört – die vom Werbebanner verkündete froheste aller frohen Botschaften: "Heilig's Blechle".
    Auch der dritte Akt atmet die Luft von Lokalkolorit. Musettas Puff könnte es so oder so ähnlich auch an einer Straßenecke südlich der Leonhards-Kirche geben. Und wenn der Blick zum trostlosen Ende Mimis wieder zurück ins Elendsquartier der Bohème gehen muss, dann hat sich das diskret verändert: Es wurde ausgemistet und aufgeräumt und ein "Tag des offenen Ateliers" anberaumt. Die Jungkünstler haben gelernt, sich zu vermarkten und gehen als Happening-Akteure ihrem Frühling im Kulturbetrieb entgegen. Das ist tröstlich. Denn mit dem Tod Mimis gelingt ein starker Moment: Das zum Standbild erstarrte Konterfei verblasst. Es erblasst in einer ganz unmittelbar verständlichen Weise.
    Die Regisseurin Andrea Moses hat die Aktualisierung des scheinhaften Glücks und der elenden Dürftigkeit der Bohème durchaus im Visier gehabt. Ihr Blick auf die Nachwuchskünstlerschaft orientiert sich freilich mehr an der Nach-Wende-Generation, nicht an den kontemporären Hungrigen und Prekären im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts. Es ist der Frische-Impuls von vorgestern, der dem Schmunzeln der TheatergängerInnen preisgegeben wird. Ein Wurf, der nachhaltig in Erinnerung bleiben könnte, ist ihr zur Krönung der Stuttgarter Tätigkeit nicht gelungen. Aber immerhin eine schmucke Arbeit, die der Geschmacksträgerschicht dem Beifall zufolge zusagte – wie auch das inspiriert beginnende, dann aber wieder in alte Puccini-Unarten (wie überzogene Rubati etc.) ausgleitende Dirigat von Simon Hewett.