Neuer Film von Xavier Giannoli

"Können wir in dieser verrückten Welt an etwas glauben?"

Regisseur Xavier Giannoli am 4. September 2015 bei den Filmfestspielen von Venedig
Regisseur Xavier Giannoli: "Mir war es wichtig, einen Film zu machen, in dem ich sage: ein Bild ist wichtig." © Xinhua via ZUMA Wire
Xavier Giannoli im Gespräch mit Susanne Burg · 08.12.2018
Der französische Regisseur Xavier Giannoli hat einen Thriller gedreht, in dem es um Glauben, Wunder und Wahrheit geht: In "Die Erscheinung" untersucht ein Ausschuss, ob es die Erscheinung wirklich gab. Im Film sieht man sie natürlich nicht.
Regisseur Xavier Giannoli ist mit seinen Arbeiten regelmäßiger Gast bei den großen europäischen Festivals. Mit "Superstar", seinem Film um einen Hochstapler, der sich als Bauunternehmer ausgibt, war er in Venedig eingeladen. Gleiches gelang ihm mit "Madame Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne", einer freien Adaption des Lebens der Wohltäterin und Möchtegern-Opern-Diva Florence Foster Jenkins. Jetzt kommt Giannolis jüngstes Werk in die Kinos, "Die Erscheinung".
Susanne Burg hat mit dem französischen Regisseur über seinen Film gesprochen: Einen Thriller, bei dem es um Glaube, Wunder und Wahrheit geht.
Susanne Burg: Ein Thriller und Wunder scheint erst mal nicht so ganz zusammen zu gehen, aber es geht. Der Film beginnt damit, dass der Journalist Jacques, gespielt von Vincent Lindon, einen Anruf von einem Geistlichen bekommt. Ein Mädchen hatte vor zwei Jahren in Südfrankreich eine Marienerscheinung.
Jacques soll also nun zusammen mit anderen ergründen, ob das jetzt 18-jährige Mädchen gelogen hat oder ob es sie gab, diese Erscheinung. Das alles ist ein Spielfilm – aber es gibt sie tatsächlich, diese Untersuchungsausschüsse. Sie arbeiten im Geheimen – und ich habe Xavier Giannoli gefragt, wie er überhaupt an Informationen gekommen ist, wie er recherchiert hat:
Xavier Giannoli: Ich fand es interessant, dass es solche kanonischen Untersuchungsausschüsse gibt. Ein Bischof entscheidet, ob er solchen übernatürlichen Sachverhalten wie Wunderheilungen und Erscheinungen nachgeht. Und wenn er das beschließt, werden unterschiedliche Menschen in den Ausschuss berufen. Ärzte, Priester, Journalisten. Wie Kriminalbeamte versuchen sie dann, die Wahrheit herauszufinden. Sie versuchen herauszufinden, ob die Menschen über die Erscheinung gelogen haben oder nicht.
Wie Sie sagen, sind diese Ausschüsse sehr geheim. Es gibt ein Buch, das ich gelesen habe. Ich habe mit ein paar Menschen gesprochen, die in einem solchen Ausschuss waren. Sie haben mir Dokumente gezeigt. Es war aufregend, darüber einen Film zu machen, weil es bislang im Kino noch nichts über diese kanonischen Untersuchungsausschüsse gab, die sich mit Fakten über Gott und den Glauben beschäftigen sollen.

"Jacques will erstmal seinen Job erledigen"

Susanne Burg: Jacques kommt als Reporter aus dem Krieg zurück. Er ist traumatisiert. Er hat sein Leben lang an Zahlen und Fakten geglaubt. Er kommt dann in eine Welt, in der es Erscheinungen und Exorzismus gibt. Er könnte einfach dicht machen und sagen "Das ist Quatsch." Aber das macht er nicht. Er hat zumindest eine gewisse Offenheit im Geiste.
Xavier Giannoli: Ich glaube, er will erst mal seinen Job erledigen. Ein Bischof fragt ihn, ob er an der Untersuchung teilnehmen will, und Jacques sagt zu. Er sucht nach Fakten. Ich bin in meiner Arbeit ähnlich. Aber ich habe auch etwas von dem Mädchen in mir. Sich für andere Dimensionen zu öffnen, politische, filmische, spirituelle oder moralische Dimensionen. Und die Spannung zwischen den beiden Polen ist auch in mir angelegt.
Susanne Burg: Sie untersuchen verschiedene Dimensionen. Und eine davon ist die der Bilder. Jacques erzählt im Film von den Fotos seines Kollegen, mit dem er viel gearbeitet hat, der im Krieg gestorben ist. Er hat immer versucht, wahre Bilder zu finden. Und Jacques fragt sich, wie das überhaupt möglich ist, "wahre Bilder" zu finden. In gewisser Weise müssen Sie sich das als Filmemacher ja auch fragen, oder?
Xavier Giannoli: Als Regisseur ist es interessant, einen Film über eine Erscheinung zu machen, aber man sieht die Erscheinung nie im Film. Denn Filmemachern geht es natürlich immer darum, was man sehen kann und was nicht. Wenn man irgendwo in einer Stadt ein Haus sieht, ist es ein Haus. Wenn Tarkowski ein Haus zeigt, ist es plötzlich mehr, es ist ein poetischer Ort, in dem es um Geschichte und Gefühle geht. Dinge, die wir nicht sehen können. Im Kino ist es wichtig, der Realität eine andere Dimension hinzuzufügen. Das versuche ich auch in meinen Filmen. In "Die Erscheinung" gibt es eine Szene mit einer Ikone, und eine Ikone ist für mich das Symbol dessen, was ein Bild ist. Und am Ende des Filmes sieht man, dass Jacques großen Respekt vor dem Bild hat. Es gibt heute einen Überfluss an Bildern, alle produzieren ständig Bilder, und mir war es wichtig, einen Film zu machen, in dem ich sage: ein Bild ist wichtig. Ein Bild ist poetisch. Da geht es um das Leben, es geht tief.
Susanne Burg: Ein Film ist ja nun auch eine Folge von Einzelbildern…
Xavier Giannoli: Ja, 24 Bilder in der Sekunde. Oh nein, mehr, 25 Bilder in der Sekunde, weil es digital ist.

Mitten in der modernen Welt die Frage nach Gott

Susanne Burg: Meine Frage zielt auch auf die Dramaturgie ab: Welche Bilder haben Sie für die religiösen Momente finden wollen, für den Mystizismus?
Xavier Giannoli: Für mich gibt es eine wichtige Szene. Man sieht einen Flur in dem Kloster, in dem die junge Nonne wohnt und arbeitet. Und plötzlich gibt es überall Federn. Die Zuschauer sollen denken, da ist ein Wunder passiert. Schließlich hatte sie ja auch eine Erscheinung. Und dann sieht man ein paar Sekunden später, dass es nur eine Maschine ist, die Federkissen produziert. Und plötzlich ist es sehr faktisch und konkret und profan. Ich wollte als Filmemacher etwas finden, dass wahr erscheint und in der Beleuchtung auch sehr real. Und Stück für Stück eröffnet sich im Realen eine weitere Dimension, etwas Poetisches. Jacques hat einen Computer und ein Telefon, das Mädchen hat einen Computer und hört Musik auf ihrem iPhone, aber im Inneren stellen sich beide die Frage: Können wir an Gott glauben?
Susanne Burg: Jacques denkt viel über die Wahrheit nach und sagt an einer Stelle: Seelen haben ihre Wahrheit. Das hat mich an ein Interview mit Ingmar Bergman erinnert, in dem er über die Macht der Kamera redet. Er sagt, dass die Kamera manchmal Gesichtsausdrücke und Seelenzustände einfängt und vergrößert, die ihm am Set gar nicht aufgefallen sind.
Xavier Giannoli: Darüber denke ich auch jeden Tag nach einem Dreh nach. Es gibt mehr als man denkt. Aber es gibt auch weniger als man denkt. Das ist wahrscheinlich die Geschichte des Lebens, aber es gibt da dieses poetische Geheimnis einer Kamera. Manchmal, wenn ein Schauspieler auf eine Geschichte trifft, auf ein bestimmtes Licht, in einem bestimmten Moment, dann gibt es plötzlich mehr als du erwartet hast. Manchmal merkt man das tatsächlich erst im Schnitt. Beim Drehbuch konzentriere ich mich ganz auf die Geschichte, am Set dann voll auf diesen poetischen Moment der Kamera. Und manchmal ist es gut und manchmal nicht ganz so gut.

"Können wir in dieser verrückten Welt an etwas glauben?"

Susanne Burg: Sie haben davor einen Film gemacht, "Madame Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne".
Xavier Giannoli: Ja, wissen Sie, da ging es um eine reiche Frau, die von der Oper besessen war und die sehr schräg gesungen hat, aber immer glaubte, sie sei eine gute Sängerin. Der Film war ein großer Erfolg in Frankreich, aber lief gar nicht in Deutschland. Und jemand sagte mir: "Für Deutsche ist es wirklich schwer, Mitgefühl für jemanden zu empfinden, der so tut, als sei sie eine Opernsängerin und dabei immer schief singt." Ich glaube, da gab es ein kulturelles Problem. Für uns Franzosen und auch für Amerikaner war das sehr lustig, aber für Deutsche nicht.
Susanne Burg: In dem Film geht es ja auch um die Kraft, die sich entwickeln kann, wenn man an etwas glaubt – oder in dem Fall: an sich glaubt. Madame Marguerite glaubt daran, dass sie gut ist, und sie trägt diese Haltung nach außen. Sehen Sie da auch eine Verbindung zu Ihrem neuen Film?
Xavier Giannoli: Ich schreibe alle Drehbücher selbst. Es gibt immer etwas Persönliches, Intimes. Es geht viel um Lügen, um Hochstapler, um Gläubige. Vielleicht hat es etwas mit meiner christlichen Erziehung zu tun. Kann ich noch daran glauben, was meine Eltern mir erzählt haben? Was ist mit christlicher Fiktion? Ist sie Fiktion oder gibt es auch etwas Wahres daran? Was ist mit den Lügen in der Politik? Mit den Lügen in der Wirtschaft? Ich glaube, Menschen wollen an etwas glauben. Vielleicht habe ich den Film auch deswegen gemacht: Können wir in dieser verrückten Welt an etwas glauben?
Susanne Burg: Hat der Film Ihre Ansichten verändert?
Xavier Giannoli: Ich denke, ich wollte mit "Die Erscheinung" Frieden finden. Mein Protagonist findet diesen Frieden, was den Glauben, was Religion angeht, auch was die Gewalt in der Welt und die Gewalt des Christentums angeht. Der Protagonist sagt am Ende: "Ich weiß nicht."
Als ich den Schauspieler, Vincent Lindon, diese Zeile sagen hörte, wurde mir klar: Zweifel sind für mich der Anfang einer Geschichte. Im Leben ist Zweifel ja häufig das Ende: Ich kann diese Frau nicht heiraten, weil ich Zweifel habe. Ich kann den Job nicht machen, weil ich Zweifel habe und so weiter. Für mich ist es so: Weil ich Zweifel habe, wie ich zur christlichen Geschichte stehe, habe ich beschlossen, diesen Film zu machen über eine sehr faktenbasierte Untersuchung. Und ich hoffe, ich habe damit vielleicht Frieden gefunden.
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