Neuer Dokumentarfilm: "Mein Stottern"

Ein Entblößungsgefühl, das schwer zu verarbeiten ist

Aus dem Pressematerial des Dokumentarfilm "Mein Stottern"
Im Film "Mein Stottern" geht es um den Kampf gegen Vorurteile und das Leben mit Eigenheiten des Sprechens. © Plaesion/Illustration: Michael Roher
Von Christian Berndt  · 22.10.2018
Den Herausforderungen für stotternde Menschen im Alltag widmet sich der Dokumentarfilm "Mein Stottern". Birgit Gohlke, eine der Regisseurinnen, kennt das Problem seit ihrer Kindheit.
Im Kino sind Protagonisten, die stottern, in der Regel Witzfiguren. 2010 kam ein Film in die Kinos, in dessen Zentrum mit dem britischen König George VI. eine ernstzunehmende stotternde Hauptfigur stand. Damit wurde "The King’s Speech" zur entscheidenden Inspiration für einen deutschen Film, der diese Woche ins Kino kommt. "Mein Stottern" heißt der Dokumentarfilm, der einen seltenen Blick darauf wirft, welche Herausforderungen stotternde Menschen hierzulande in ihrem Alltag zu meistern und gegen welche Vorurteile sie anzukämpfen haben.

Singen überwindet das Stottern

Es war ein besonderer Moment in der österreichischen Talentshop "Die große Chance" im Jahr 2012, den der Film zeigt: "Ich krieg mit, Du möchtest nicht so viel reden, weil Du da dieses kleine Problem hast, Du stotterst. – Genau. – So, bitte sing einfach für uns", war die entscheidende Aufforderung. Der 15jährige Benedikt fängt an zu singen und reißt das Publikum mit.
Vor einem großen Publikum aufzutreten, bedeutet für jemand, der stottert, zumeist Überwindung. Nicht so für Benedikt, der stotternd sagt: "Stottern war beim Singen noch nie da. Ich weiß nicht warum, Singen geht immer, Stottern muss man wegtrainieren."
Aus dem Pressematerial des Film "Mein Stottern"
Benedikt überwindet das Stottern, wenn er mit anderen Jungen singt. © Plaesion/Judith Benedict
Benedikt ist einer der Protagonisten des Dokumentarfilms "Mein Stottern" von Petra Nickel und Birgit Gohlke. Gohlke, die selbst seit ihrer Kindheit stottert und im Film auftritt, bewundert an Benedikt, wie selbstbewusst er schon als Jugendlicher mit dem Stottern umgegangen ist. Sie dagegen sei als Schülerin oft verzweifelt gewesen vor Scham. Im Gespräch in einem Berliner Café strahlt die 34-jährige Mutter, die zwischendurch ihr Baby stillt, heute charmantes Selbstbewusstsein aus.

Das Flashback-Erlebnis

Die Filmschaffende aus Franken, die in Wien Theaterwissenschaften studiert hat, erzählt, wie "The King’s Speech" für sie zum Anstoß für den eigenen Film wurde. Die Szene, in der dem künftigen König bei einer Rede die Worte versagen, und die Reaktionen im Kinopublikum weckten Erinnerungen. "Für mich war das auch so, als ich "The King’s Speech" im Kino angeschaut habe, war das dann so ein Flashback-Erlebnis, irgendjemand im Kino lacht und ich fühle mich sofort zurückversetzt – Birgit als kleines Kind wird ausgelacht", sagt sie. "Also ich habe dann gemerkt, so aufgearbeitet habe ich das offensichtlich doch noch nicht."
Das Stottern hört man bei Gohlke bis auf ein gelegentliches glucksendes Geräusch kaum. Trotzdem ist es ein lebenslanger Begleiter, es ist therapierbar, aber nicht heilbar. Entgegen der früheren Annahme, Stottern sei eine psychische Störung, ist mittlerweile wissenschaftlich belegt, dass es genetisch veranlagt ist und vermutlich durch zu schwach ausgeprägte Nervenverbindungen im Gehirn ausgelöst wird.

Das Stottern akzeptieren

Gohlke fand diese Erkenntnis erleichternd: "Also, es kommt immer wieder, dass die Leute denken, es ist psychisch, Dir ist was Schlimmes passiert, deshalb stotterst Du", sagt sie. "Und dann immer, dass es auf die Eltern zurückgeführt wird, dass es im Elternhaus schwierig war, das fand ich teilweise schon anstrengend."
Aus dem Pressematerial des Filmes "Mein Stottern"
Die Regisseurin des Films "Mein Stottern", Birgit Gohlke und einer ihrer Darsteller Alexander © Plaesion/Judith Benedict
Etwa ein Prozent aller Erwachsenen stottern und fünf Prozent der Kinder, von denen die meisten nach einer zeitlich begrenzten Phase wieder damit aufhören. Wer in der Pubertät noch stottert, wird es lebenslang tun, weiß man heute. In neueren Therapien setzt man deshalb darauf, das Stottern zu akzeptieren statt auf Vermeidungsstrategien, wie sie viele Stotterer anwenden.
Betroffene wie der 46-jährige Volker erzählen in dem Dokumentarfilm von ihren Erfahrungen mit dem neuen Ansatz. Er habe früher nur Gerichte bestellt, die er aussprechen konnte. Das habe sich jetzt geändert.

Stottern, was das Zeug hält

Man lernt auch, bewusst zu stottern, erzählt Gohle. "Der erste Schritt ist die Desensibilisierung, das heißt, Stottern, was das Zeug hält. Dass man einfach lernt, ich stottere den Leuten ins Gesicht, aber es macht mir nichts aus. Dass man im Stottern stärker wird. Dann kann man ansetzen und daran arbeiten." Wenn man selbstbewusst mit dem Stottern umgehe dann, seien die Reaktionen der Menschen oft erstaunlich positiv, ist ihre Erfahrung. Aber im Berufsleben traue man stotternden Menschen immer noch wenig zu.
"Mein Stottern" ist ein sehr intimer Film geworden, der berührend zeigt, wie verletzbar Stottern in bestimmten Alltagssituationen machen kann: "Ich bin eigentlich gar nicht mehr ich irgendwo, ich habe keine Gedanken mehr", schildert Volker die eigene Not in solchen Situationen. "Es geht nur noch darum, scheiße, wie komme ich raus aus der Situation."
Es ist ein Entblößungsgefühl, das schwer zu verarbeiten ist, das merkt man den Betroffenen an. Aber gleichzeitig erfährt man in dem Film auch viel über die ganz unterschiedlichen und kreativen Mechanismen, die Menschen anwenden, um mit seltenen Veranlagungen umgehen. Das wirft einen erhellenden Blick darauf, wie schwierig es in unserer Gesellschaft ist, mit abweichenden Verhaltensweisen ernst genommen zu werden. (gem)
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