Neuer Bundestag

"Echte Diskussion mit der Bundesregierung fördern"

Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen) sitzt am in Berlin in seinem Abgeordneten-Büro vor einem Regal mit Ordnern
Seit 1998 saß der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele im Parlament und holte mehrfach ein Direktmandat in Berlin-Kreuzberg. Dem neuen Bundestag gehört der 78-Jährige nicht mehr an. © picture alliance / Kay Nietfeld/dpa
Hans-Christian Ströbele im Gespräch mit Dieter Kassel  · 24.10.2017
Mehr echte Debatten im neuen Deutschen Bundestag wünscht sich der ausgeschiedene Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele. Den Umgang mit der AfD sieht er gelassen und ist für eine lange Leine. Die Grenze sollte das Strafrecht sein.
Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele saß mehr als 20 Jahre als Abgeordneter im Bundestag. Aus Altersgründen stellte sich der 78-Jährige nun nicht mehr zur Wahl, beobachtet aber mit Interesse, wie sich der neue Bundestag konstituiert. Ströbele sagte im Deutschlandfunk Kultur, er wünsche sich eine bessere Debattenkultur: "Heute hat man manchmal den Eindruck, und deshalb ist das Plenum sehr häufig auch eher wenig besetzt, dass es den Abgeordneten mehr darauf ankommt, einen selbstgeschriebenen oder von anderen geschriebenen Text dort unterzubringen, zu verlesen, möglichst viele Einzelheiten zu nennen", sagte er. "Das ist eigentlich nicht der Sinn der Debatten."

Auftrag der Abgeordneten ernst nehmen

Von dem neuen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble (CDU) wünsche er sich, dass er Rechte und Pflichten der Abgeordneten wieder in den Vordergrund stelle und die Abgeordneten dazu ermutige, ihren Auftrag ernst zu nehmen. Sie sollten nur selbstverantwortlich entscheiden und versuchen, die Arbeit des Bundestags so neu zu gestalten, dass die Diskussionen im Parlament für die Wähler wieder nachvollziehbarer würden.

Gegen Zwangsmaßnahmen

Den Umgang mit der AfD sieht Ströbele gelassen. "Da bin ich für eine lange Leine", sagte er. "Ich halte nichts von Zwangsmaßnahmen des Deutschen Bundestags."Der Bundestagspräsident habe durchaus das Recht, Abgeordnete dazu zu ermahnen, zur Sache zu reden. Aber die Grenze sollte eigentlich nur das Strafrecht sein. "Wenn wirkliche Beleidigungen – das kann der Jurist Schäuble ja auch beurteilen – ausgesprochen werden, dann muss er auch von seiner Möglichkeit Gebrauch machen, zu ermahnen, darauf hinzuweisen und unter Umständen auch Konsequenzen zu ziehen."

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Wir werden heute im Laufe des Tages viel berichten über die konstituierende Sitzung des neuen Deutschen Bundestags. Sie haben auch schon in unseren Nachrichten gehört, Missstimmungen geben wird bei der Wahl der stellvertretenden Bundestagspräsidenten. Wer jedoch neuer Bundestagspräsident wird, wer dieses Amt eigentlich ausfüllt, das ist ziemlich klar, und es gilt als ziemlich sicher, dass Wolfgang Schäuble gewählt werden wird. Ich habe mich deshalb über Schäuble unterhalten gestern Nachmittag mit Hans-Christian Ströbele.
Der Grünen-Politiker ist einerseits jetzt ein bisschen neutral, was das Parlament angeht, weil er da nicht mehr drin sitzt. Er ist auch nicht mehr zur Wahl angetreten, hat aber über 20 Jahre Bundestagserfahrung und kennt Wolfgang Schäuble auch ganz gut. Deshalb habe ich Hans-Christian Ströbele zum Beginn unseres Gesprächs gefragt: Wenn, rein hypothetisch, Wolfgang Schäuble ihn mal fragen würde, was geben Sie mir mit für dieses neue Amt, was würde Ströbele ihm antworten?
Hans-Christian Ströbele: Ich würde ihn bitten, die Rechte und Pflichten der Abgeordneten wieder in den Vordergrund zu stellen und die Abgeordneten zu ermutigen, wie ich das selbst auch immer wieder getan habe, ihren Auftrag, den sie von der Bevölkerung, von den Wählerinnen und Wählern erhalten haben, ernst zu nehmen, und wirklich nur selbstverantwortlich zu entscheiden und zu versuchen, die Arbeit des Bundestags neu zu gestalten, dass Diskussionen der Abgeordneten, der Volksvertreter wieder nachvollziehbar von der Bevölkerung miterlebt werden können.
Heute hat man manchmal den Eindruck, und deshalb ist das Plenum sehr häufig auch eher wenig besetzt, dass es den Abgeordneten mehr darauf ankommt, einen selbstgeschriebenen oder von anderen geschriebenen Text dort unterzubringen, zu verlesen, möglichst viele Einzelheiten zu nennen. Das ist eigentlich nicht der Sinn der Debatten.
Kassel: Nun gehen ja viele davon aus, dass sich die Debatten im 19. Deutschen Bundestag, dem neuen jetzt also, in einem Punkt unterscheiden werden von der Vergangenheit aufgrund der Anwesenheit von 92 Abgeordneten der AfD. Und manche glauben auch, ein Bundestagspräsident werde in Zukunft stärker als seine Vorgänger bisher auch als Ordner, als Dompteur auftreten müssen, ja schlicht darauf achten, dass die Vorgaben des Grundgesetzes auch in allen Äußerungen eingehalten werden. Wie sollte Wolfgang Schäuble denn damit umgehen?
Ströbele: Da bin ich für eine lange Leine. Ich halte nichts von Zwangsmaßnahmen des Deutschen Bundestags. Und ganz wichtig ist auch, die Möglichkeiten der Abgeordneten zu fördern, eine echte Diskussion auch mit der Bundesregierung hinzubekommen.

Spielraum für Bundestagspräsidenten

Kassel: Nun wissen wir aber aus Erfahrungen, die man schon gemacht hat mit AfD-Vertretern in zahlreichen Landtagen in Deutschland, und außerdem natürlich auch bei Interviews und Fernsehsendungen, dass es zu einer erprobten Technik regelrecht dieser Partei gehört, zu provozieren. Und die Empörung, die dann meistens folgt, die ist ja quasi schon mit eingepreist bei einigen AfD-Politikern. Was heißt das auch für den neuen Bundestag? Wie diese Entscheidung treffen, wann man wirklich eingreift, wann man auch eine empörte Gegenrede, die vielleicht nicht immer ganz sachlich ist, zulässt, oder wann man andererseits auch auf gewisse Provokationen besser nicht reagiert?
Ströbele: Der Bundestagspräsident hat durchaus das Recht, Abgeordnete dazu zu ermahnen, zur Sache zu reden. Aber die sonstige Grenze sollte eigentlich nur das Strafrecht sein. Wenn wirkliche Beleidigungen – das kann der Jurist Schäuble ja auch beurteilen – ausgesprochen werden, dann muss er auch von seiner Möglichkeit Gebrauch machen, zu ermahnen, darauf hinzuweisen und unter Umständen auch Konsequenzen zu ziehen.
Kassel: Das hört sich für mich so an, Herr Ströbele, als ob Sie durchaus für eine grundsätzliche Gleichbehandlung aller Fraktionen und aller Abgeordneten plädieren, was ich auch für sehr logisch halte. Es sind ja nur demokratisch gewählte Politiker in diesem Parlament. Andererseits könnte es schon bei der konstituierenden Sitzung plötzlich keine Gleichbehandlung mehr geben. Es gehört ja, auch wenn das nicht vorgeschrieben ist, zum guten Usus im Bundestag, dass die Stellvertreter des Präsidenten relativ direkt gewählt werden.
Jede Fraktion darf einen nennen, und der wird dann auch gewählt, und zwar von allen. Es sieht ja jetzt so aus, als wäre das möglicherweise diesmal nicht der Fall. Viele wollen den AfD-Kandidaten für das Amt des stellvertretenden Präsidenten, Albrecht Glaser, nicht wählen. Das könnte schon zu einem Eklat führen. Halten Sie diese Sonderbehandlung der AfD von Anfang an für richtig?
Ströbele: Nein, es geht überhaupt nicht um Sonderbehandlung, sondern die Wahl des Bundestagspräsidenten beziehungsweise seiner Stellvertreter, hat ja einen Sinn. Das heißt, die Abgeordneten, die den wählen sollen, auch der anderen Parteien, nicht nur der eigenen Fraktion – die werden ihn wahrscheinlich sowieso wählen, die sind natürlich frei in ihrer Entscheidung. Der Bundestagspräsident muss nicht dafür sorgen, dass ein Kandidat, der von einer Mehrheit nicht gewollt wird, gewählt wird.
Ich erinnere mich, bei der Wahl zum Parlamentarischen Kontrollgremium muss auch jeder einzelne Abgeordnete, aus welcher Fraktion auch immer, die absolute Mehrheit, also die Kanzlermehrheit im Bundestag erringen. Und mir ist es mehrfach passiert, dass ich die nicht gleich erreicht habe, weil nicht genügend Abgeordnete aus den anderen Fraktionen mich gewählt haben. Dann habe ich es noch mal versucht und wurde dann irgendwann doch gewählt. Das ist natürlich das Risiko. Sonst kann man sich die Wahl ja sparen und kann gleich sagen, die Fraktion soll nominieren, wen sie wollen.

Zweithöchste Amt im Staat

Kassel: Wo wir gerade darüber reden, dass das Leben eines Politikers nicht nur von Erfolgen bestimmt ist, es auch gar nicht sein kann und das manchmal auch persönlich schwierig ist – das Amt des Präsidenten des Deutschen Bundestags, das ist zum einen natürlich eine hohe Ehre und ein sehr hohes und wichtiges Amt. Aber wir wissen beide, dass Wolfgang Schäuble das auch nicht so ganz freiwillig macht. Das ist ja auch so eine Art Trostpflaster, weil er in der neuen Regierung nicht mehr Minister werden darf. Wie schwierig ist denn so ein Umstieg. Ich meine, er ist ein sehr mächtiger Mann gewesen in den letzten Regierungen, und eine politische Macht hat ein Bundestagspräsident ja strenggenommen nicht.
Ströbele: Das kann ich überhaupt nicht beurteilen. Der Herr Schäuble ist ja fast so alt wie ich und noch viel länger im Bundestag gewesen als ich. Wobei ich Ihnen sage, der Bundestagspräsident ist nicht ohne Grund das zweithöchste Amt bei uns im Staate. Ich denke, er hat sogar mehr Möglichkeiten, zu gestalten, als das der Bundestagspräsident hat.
Kassel: Sie haben ja so was entfernt Ähnliches. Ihre Situation war gar nicht vergleichbar mit der Schäubles, aber Sie selbst haben ja nun gesagt, bei dieser Bundestagswahl, ich trete nicht mehr an, ich habe das jetzt lange genug gemacht, ich möchte nicht mehr. Aber wenn Sie, Herr Ströbele, beobachten, was sich in der Bundespolitik jetzt so tut: Auf der einen Seite der Einzug der AfD in den Bundestag, auf der anderen Seite eine – es ist ja noch keine sichere Sache, aber eine doch recht wahrscheinliche – Jamaika-Koalition, das erste Mal auf Bundesebene. Sitzen Sie dann manchmal da und sagen, das sind so spannende Zeiten, eigentlich wäre ich doch gern wieder dabei?
Ströbele: Ich mache überhaupt keinen Hehl daraus, dass ich gern weitergemacht hätte. Aber es war einfach mir zu stressig. Zwölf, 14 Stunden am Tag ist für einen Abgeordneten, der jetzt 78 Jahre alt geworden ist – und da war die Vorstellung, dass ich das jetzt noch mal vier Jahre so mache, war keine, die mich überzeugt hat.

Skepsis bei Jamaika-Koalition

Kassel: Wir haben hypothetisch begonnen, lassen Sie uns doch auch rein hypothetisch enden: Nehmen wir an, Sie säßen noch im Deutschen Bundestag, wäre denn mit einem grünen Abgeordneten Ströbele eine Jamaika-Koalition zu machen?
Ströbele: Da warten wir doch mal ab, was die da vereinbaren. Ich war immer einer bei den Grünen, der gesagt hat, wir wollen auch gestalten, wir wollen auch in Regierung, wenn wir da was erreichen können. Aber ich sehe diese Jamaika-Koalition nicht als richtig an, weder für die Grünen noch für die Politik in Deutschland insgesamt. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass wesentliche grüne Inhalte da umgesetzt werden können, weil einfach die politischen Positionen viel zu weit auseinander sind. Und da reicht das Sich-Zulächeln, das Sich-freundschaftlich-auf-die-Schulter-Klopfen nicht aus, um das zu übergehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Bei seiner konstituierenden Sitzung wird der Bundestag heute eine Erfahrung machen, die für die meisten Landtagen längst nicht mehr neu ist. Dort sitzen AfD-Abgeordnete schon länger mit im Landesparlament und die anderen Parteien mussten einen Umgang mit ihnen finden. In Thüringen zog die AfD bereits im Herbst 2014 in den Landtag ein, nach den Wahlen im März 2016 sitzt die Partei auch im Landtag von Baden-Württemberg. Wir haben mit unserer Korrespondentin in Stuttgart Uschi Götz und unserem Korrespondenten in Thüringen Henry Bernhard über die dortigen Erfahrungen gesprochen.

Das Gespräch hören Sie hier: Audio Player

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