Neuer Blick auf vertraut Geglaubtes

Von Adama Ulrich · 16.08.2006
Seit 20 Jahren macht Angie Hiesl in Köln Straßen und Plätze, Hausfassaden, Bahnunterführungen und Rheinbrücken zu Kunstwerken auf Zeit. Sie versteht sich als darstellende und bildende Künstlerin. Damit hat sie sich zwischen alle Stühle gesetzt – und zwar bewusst: Ihre Produktionen sind inspirierende Kreuzungen aus Theater, Tanz, Performance, Aktionskunst und Installation.
Angie Hiesl: "Ariane hing in Barcelona mal in einer ganz engen Straße, wo ganz viel Wäsche aufgehängt war. Diese alten Viertel. Unten drunter waren viele Ältere mit ihren Enkelkindern unterwegs. Das sind Bilder, wo man stark über sich selber, die Stadt, das Leben nachdenkt."

Ariane war eine von zehn Frauen und Männern, die an Häuserfassaden hingen. Grundvoraussetzung, um mitmachen zu dürfen: Sie mussten mindestens 60 Jahre alt sein.

Angie Hiesl: "X –mal Mensch Stuhl nennt sich das Projekt mit den älteren Herrschaften an den Häuserfassaden."

Darin geht es um das Thema alt werden in unserer Gesellschaft. Die Inszenierungsorte sind Häuserfassaden in Stadtzentren. Die Fassaden werden in einer Höhe zwischen drei und sieben Metern mit weißen, schlichten Stahlstühlen bestückt. Auf ihnen sitzen, hoch über den Köpfen der Passanten, die älteren Menschen und führen ganz alltägliche, auf zurückhaltende Weise inszenierte Handlungen aus:

Angie Hiesl: "Eine Frau schneidet Brot, die andere hat ein Huhn gerupft, die andere legt Wäsche zusammen, jemand anderes liest, jemand spielt Karten."

X-mal Mensch Stuhl ist das wohl erfolgreichste Projekt von Angie Hiesl. Es hatte vor 11 Jahren Uraufführung und wurde seit dem in 26 Städten in Europa und Südamerika mit insgesamt 79 Aufführungen gezeigt. 1998 wurde sie dafür mit dem Europäischen Straßentheaterpreis ausgezeichnet.

Angie Hiesl: "Für mich ist eigentlich alles Raum und den gilt es immer wieder neu zu definieren, anders zu besetzen. Dabei ergibt es sich, dass es mal mehr choreografisch, mal mehr theatralisch ist und auf jeden Fall immer die bildende Kunst mit einbezieht."

Seit Anfang der 80er Jahre arbeitet Angie Hiesl als Regisseurin, Choreografin und Performance-Künstlerin in Köln. Unter ihrer Leitung entstehen künstlerische Aktionen im öffentlichen und privaten Raum:

Fußgängerunterführungen werden zu grünen Oasen, Menschen schweben an Häuserwänden, auf Bahnhöfen werden Unterwassertänze aufgeführt. Angie Hiesl verrückt die Realität. Ihre Aktions-Installationen sind sinnliche Provokationen, aus Passanten werden Zuschauer, die einen neuen Blick auf vertraut Geglaubtes werfen.

Angie Hiesl: "Wo wird's interessant? Ganz oft dort, wo es wirklich mit dem Leben zu tun hat, mit Authentizität. (...) Da finde ich es interessanter, mit Leuten zu arbeiten, die eine bestimmte Qualität haben, die ich als Regisseurin gar nicht erfinden kann. Oder Situationen, die sind viel interessanter, so wie sie wirklich im Leben sind und die eben dann nehmen, als das irgend jemand mit ich weiß nicht was für einer Emotionslage so etwas spielt. Das ist für mich lange nicht mehr so interessant."

Angie Hiesl ist eine kleine, durchtrainierte Frau. Ihre langen Haare trägt sie meist offenen. Sie hüllt sich gerne in bequeme, weite Kleider. 1954 wurde sie in der Oberpfalz geboren, aufgewachsen ist sie aber in Venezuela und Peru.

Angie Hiesl: "Dieses Südamerika war was ganz Prägendes. Neben dieser anderen Kultur vor allem auch das Wasser. Deshalb kommt in vielen Performances eben Wasser vor."

Von Südamerika ist sie mit ihren Eltern und ihren jüngeren Zwillingsschwestern nach Bonn gezogen und hat dort das Abitur gemacht

An der Sporthochschule Köln hat sich Angie Hiesl auf elementaren Tanz und Bewegungstheater spezialisiert. Sie ist zu einem Zirkus-Theater gegangen und hat in Polen und den USA verschiedene Theater-, Tanz- und Körperarbeitsmethoden studiert .

Angie Hiesl: "Das hat mich eben dazu gebracht, nach meinen eigenen Ausdrucksformen zu suchen. Es hat mich ganz schnell überhaupt nicht interessiert, auf Bühnen zu kommen.

Es war immer mein Wunsch einzugreifen, selber zu gestalten, andere Leute zu erschließen. Auch welche, die nicht kommen, sondern wir gehen zu ihnen. Die Kunst wird da installiert, wo sie darüber stolpern oder nicht umhin kommen, irgendwie davon berührt zu werden. "

So auch bei dem Projekt Kachelhaut, das Angie Hiesl zusammen mit ihren langjährigen Kollegen Gerno Bogumil und Roland Kaiser erarbeitet hat. Es ist eine Raum-Installation und Performance für gekachelte Räume. Uraufgeführt wurde sie Köln.

Angie Hiesl: "Zum Beispiel in der U-Bahnstation Appellhofplatz. Die verbindet 2 Stationen mit einem ganz, ganz langen Gang.(...) Es ist eigentlich ein Un-Ort, mitten in der Stadt. Den haben wir belebt, indem wir eine Wasserfläche und über 2000, 3000 qm Rasenfläche installiert haben."

Ein bis anderthalb Jahre arbeitet Angie Hiesl an ihren Aktionen. Die Kölner Künstlerin ist bekannt dafür, dass sie mit ihren Projekten die gewohnte Alltagswahrnehmung auf surreale Weise aus den Angeln hebt. Die Überraschung auf den zweiten Blick ist dem Betrachter sicher.

Angie Hiesl: "Mir kommt es nicht darauf an, dass es spektakulär des Spektakels willen ist, manches sieht vielleicht so aus, wegen der Größe oder Höhe. Aber wichtiger ist mir, was bewirkt es bei den Leuten, komme ich an, bewegt es sie, konfrontiert es sie oder öffnet es ihren Blick"

Service:
In dem neuesten Projekt von Angie Hiesl geht es ganz haarig zu. Zusammen mit dem Kölner Schauspiel ist sie dem Phänomen Haar auf der Spur – Haare gelten als Ausdruck der Persönlichkeit, als Sinnbild von Macht und Vitalität, aber auch von sexueller Attraktivität. Haare besitzen eine Faszination, die rational kaum erklärbar ist. Dem will Angie Hiesl nachgehen und sucht dafür noch besonders behaarte oder eben nicht behaarte Mitwirkende. Weitere Informationen auf ihrer Homepage