Neue Schullektüren in Ungarn

Imre Kertész ist aus dem Lehrplan gestrichen

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Imre Kertész 2009
Er ist dann mal weg: Nobelpreisträger Imre Kertész (1929-2016) verabschiedet sich aus dem ungarischen Lehrplan. © imago/Leonardo Cendamo/Leemage
Noémi Kiss im Gespräch mit Joachim Scholl · 05.03.2020
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In Ungarn gilt ein neuer Lehrplan, der für eine andere Schullektüre sorgt: Texte des Nobelpreisträgers Imre Kertész zum Beispiel wurden gestrichen, dafür sollen die Schüler antisemitische Autoren lesen.
"Imre Kertészs 'Roman eines Schicksalslosen' ist der wichtigste Roman ungarischer Literatur", sagt die Autorin Noémi Kiss. Allerdings soll das Buch, das vom Holocaust erzählt, nicht mehr in der Schule gelesen werden. Auf dem neuen Lehrplan, der seit Januar gilt, fehlt der einzige Literaturnobelpreisträger des Landes, aber auch Namen wie Péter Esterházy und Péter Nádas sucht man vergeblich.
Stattdessen finden sich dort nationalistische und antisemitische Autoren, wie etwa Ferenc Herczeg, Lőrinc Szabó und der verurteilte Kriegsverbrecher Albert Wass. "Populistische Heimatliteratur", nennt Noémi Kiss diese Bücher. Abgesehen von der bedenklichen Tendenz der Werke findet sie diese Literatur auch "sehr langweilig": "Ich würde nicht meine Kinder quälen, diese Texte zu lesen." Der Lehrplan sei altmodisch und sie bezweifelt, dass Kinder durch diese Lektüre zur Literatur finden werden.

Kritik von Eltern und Schülern

Ein weiterer Kritikpunkt ist für sie, dass auch zeitgenössische und weibliche Autoren im Lehrplan nicht vorkommen, obwohl Frauen in der ungarischen Literatur eine lange Tradition bilden, die sogar in die Romantik zurückreicht: "Ich finde es sehr blöd, wenn Kinder lernen, dass nur Männer Bücher schreiben können", sagt Kiss.
Doch auch in Ungarn gibt es viel Kritik an dem ideologisch geprägten Lehrplan, der von Viktor Orbáns Regierung vorgegeben wird. Eltern und Schüler demonstrieren dagegen, selbst christliche rechtskonservative Organisationen begehren auf.
"Dieser Lehrplan ist demokratiefeindlich", schrieb der Vorsitzende der Ungarisch-Lehrer György D. Fenyö. "Er ist der Grundlehrplan einer Diktatur." Die Diskussion um die Schullektüre laufe schon seit Jahren und sei noch nicht abgeschlossen, sagt Noémi Kiss.
(leg)
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