Neue Liebe mit 59
Mercedes Medina lebt nur für ihren Mann, einen berühmten Cellisten. Sie pflegt den inzwischen Schwerkranken, der seinem Lebensende entgegengeht. Eines Tages begegnet sie der 29-jährigen Blumenverkäuferin Lennie und verliebt sich in sie. Der Roman über eine Lebenswende ist ein gelungenes Debüt der US-Amerikanerin Ann Wadsworth.
Mercedes Medina ist 59 Jahre alt und gut situierte, kultivierte Ehefrau in Boston. Sie unterrichtet einen Kurs in italienischer Literatur an der Universität und arbeitet hin und wieder an der Übersetzung eines italienischen Romans. Ihr Mann Patrick, 25 Jahre älter als sie, war einst ein berühmter Cellist. Mittlerweile ist er sehr krank, kann das Haus nicht mehr verlassen und hat zuweilen geistige Ausfälle.
Das hindert ihn nicht daran, weiterhin mit Charme, gespielter oder echter Hilflosigkeit und ironischem, oft gar zynischem Scharfsinn seinem ausgeprägten (Künstler-)Egoismus zu frönen und Mrs. Medina das Leben einerseits schwer zu machen und diesem Leben andererseits einen Sinn zu geben. Sie lebt nur für ihn. So wie sie früher seine Karriere unterstützt hat, pflegt sie ihn nun; sie unterhält ihn, kocht für ihn, fügt sich seinen Launen. Sie ist genervt, ohne das je offen einzugestehen - und sie liebt ihn bedingungslos. Beide wissen und akzeptieren ohne jede Larmoyanz, dass er sterben wird, und das gibt diesem Zusammenleben eine ganz besondere Atmosphäre.
Die Geschichte einer Ehe also. Und einer Frau, über die es scheinbar wenig zu erzählen gibt und die es sonst nicht ohne weiteres bis zur Heldin eines Romans schaffen würde. Hier schafft sie es —und das liegt an der Geschichte, vor allem aber daran, wie diese Geschichte erzählt ist.
"Im Alter von neunundfünfzig Jahren —in ihren Augen noch keineswegs alt —, keimte in Mercedes Medina der Verdacht, dass die meisten wichtigen Ereignisse in ihrem Leben gekommen und gegangen waren."
Eines Tages aber begegnet sie der 29-jährigen Blumenverkäuferin Lennie. Und verliebt sich in sie. Das passt nicht zu ihrem gut situierten bürgerlichen Leben: nicht nur weil die neue Liebe eine Frau ist, sondern auch, weil sie gesellschaftlich so gar nicht "passt". Und doch: Nachdem die ersten Ängste überwunden sind, lebt Mrs. Medina diese Liebe ohne Wenn und Aber.
Und in Umkehrung literarischer Modelle ist es Mrs. Medina, die ältere, gebildete Dame der besseren Gesellschaft, die "erweckt" wird, nicht die viel jüngere Frau aus einfacheren Verhältnissen: Lennie ist alles andere als eine Eliza Doolittle, die sich formen ließe wie die Statue Pygmalions. Allerdings krempelt Mrs. Medina nicht ihr ganzes bisheriges Leben um, indem sie ihren Mann verlässt und glücklich bis an ihr Ende mit Lennie lebt: Das wäre viel zu platt. Nein, sie steht zu ihrer Vergangenheit, zu ihrer Ehe, sie entdeckt nur ganz neue, ungeahnte Gefühlsmöglichkeiten in sich selbst.
Patrick Medina gibt sich großzügig: Er habe immer Affären gehabt, sie sei immer treu gewesen, diese Liebesgeschichte stehe ihr nun zu —vorausgesetzt, dass sie ihn nicht verlässt. Trotzdem kann er seine Eifersucht nicht unterdrücken. Seine verbalen, oft hilflos-zynischen Attacken und Strategien sind oft verletzend, oft aber auch sehr komisch.
Eines Tages ist Lennie verschwunden, kein Mensch weiß wohin. Mrs. Medina ist am Boden zerstört, aber sie lebt ihr Leben weiter, begleitet Patrick beim Sterben — und bricht dann zusammen.
Der Roman beginnt als Ich-Erzählung mit ihrem Aufenthalt in einer Klinik nach ihrem Zusammenbruch und entfaltet von da aus rückblickend (und auktorial erzählt) die ganze Geschichte. Er endet mit einer Reise Mrs. Medinas in die Karibik, wo sie sich erholt. Und mit einem Wiedersehen mit Lennie — freilich nicht im Sinne eines klassischen Happy End. Die Liebe ist noch da, aber sie hat sich verändert.
"Was geschehen würde, war mehr wie ein langsames Auflösen des Gewebes, aus dem ihr Leben war, Faden für Faden, um anschließend vollkommen neu verwoben zu werden."
Das Erstlingswerk der US-Amerikanerin Ann Wadsworth ist ein kluger, verhalten und mit subtiler Ironie sehr präzise erzählter Roman, der einen sanften, aber umso wirkungsvolleren Sog entfaltet. Ebenso frei von Pathos wie von plakativen psychologischen Klischees oder feministischen oder anti-feministischen Polemiken entfaltet er differenziert das Leben und den Charakter einer nicht nur sympathischen älteren Frau, die am Wendepunkt ihres Lebens nicht resigniert, sondern mit neu gefundener Selbstbestimmtheit in eine neue Lebensphase aufbricht.
Der Roman fokussiert auf die Perspektive Mrs. Medinas, deren gut erzogene Reserviertheit heftige Gefühlsausbrüche kaum zulässt, was die Darstellung ihrer Gefühle umso eindringlicher macht. Das erinnert entfernt an Virginia Woolfs "Mrs Dalloway" (schon der Titel deutet darauf hin). Der Roman wurde von Andrea Krug kongenial ins Deutsche übersetzt.
Rezensiert von Gertrud Lehnert
Ann Wadsworth: Mrs. Medina
Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Krug.
Krug & Schadenberg, Berlin 2006, 420 Seiten, 22,90 Euro
Das hindert ihn nicht daran, weiterhin mit Charme, gespielter oder echter Hilflosigkeit und ironischem, oft gar zynischem Scharfsinn seinem ausgeprägten (Künstler-)Egoismus zu frönen und Mrs. Medina das Leben einerseits schwer zu machen und diesem Leben andererseits einen Sinn zu geben. Sie lebt nur für ihn. So wie sie früher seine Karriere unterstützt hat, pflegt sie ihn nun; sie unterhält ihn, kocht für ihn, fügt sich seinen Launen. Sie ist genervt, ohne das je offen einzugestehen - und sie liebt ihn bedingungslos. Beide wissen und akzeptieren ohne jede Larmoyanz, dass er sterben wird, und das gibt diesem Zusammenleben eine ganz besondere Atmosphäre.
Die Geschichte einer Ehe also. Und einer Frau, über die es scheinbar wenig zu erzählen gibt und die es sonst nicht ohne weiteres bis zur Heldin eines Romans schaffen würde. Hier schafft sie es —und das liegt an der Geschichte, vor allem aber daran, wie diese Geschichte erzählt ist.
"Im Alter von neunundfünfzig Jahren —in ihren Augen noch keineswegs alt —, keimte in Mercedes Medina der Verdacht, dass die meisten wichtigen Ereignisse in ihrem Leben gekommen und gegangen waren."
Eines Tages aber begegnet sie der 29-jährigen Blumenverkäuferin Lennie. Und verliebt sich in sie. Das passt nicht zu ihrem gut situierten bürgerlichen Leben: nicht nur weil die neue Liebe eine Frau ist, sondern auch, weil sie gesellschaftlich so gar nicht "passt". Und doch: Nachdem die ersten Ängste überwunden sind, lebt Mrs. Medina diese Liebe ohne Wenn und Aber.
Und in Umkehrung literarischer Modelle ist es Mrs. Medina, die ältere, gebildete Dame der besseren Gesellschaft, die "erweckt" wird, nicht die viel jüngere Frau aus einfacheren Verhältnissen: Lennie ist alles andere als eine Eliza Doolittle, die sich formen ließe wie die Statue Pygmalions. Allerdings krempelt Mrs. Medina nicht ihr ganzes bisheriges Leben um, indem sie ihren Mann verlässt und glücklich bis an ihr Ende mit Lennie lebt: Das wäre viel zu platt. Nein, sie steht zu ihrer Vergangenheit, zu ihrer Ehe, sie entdeckt nur ganz neue, ungeahnte Gefühlsmöglichkeiten in sich selbst.
Patrick Medina gibt sich großzügig: Er habe immer Affären gehabt, sie sei immer treu gewesen, diese Liebesgeschichte stehe ihr nun zu —vorausgesetzt, dass sie ihn nicht verlässt. Trotzdem kann er seine Eifersucht nicht unterdrücken. Seine verbalen, oft hilflos-zynischen Attacken und Strategien sind oft verletzend, oft aber auch sehr komisch.
Eines Tages ist Lennie verschwunden, kein Mensch weiß wohin. Mrs. Medina ist am Boden zerstört, aber sie lebt ihr Leben weiter, begleitet Patrick beim Sterben — und bricht dann zusammen.
Der Roman beginnt als Ich-Erzählung mit ihrem Aufenthalt in einer Klinik nach ihrem Zusammenbruch und entfaltet von da aus rückblickend (und auktorial erzählt) die ganze Geschichte. Er endet mit einer Reise Mrs. Medinas in die Karibik, wo sie sich erholt. Und mit einem Wiedersehen mit Lennie — freilich nicht im Sinne eines klassischen Happy End. Die Liebe ist noch da, aber sie hat sich verändert.
"Was geschehen würde, war mehr wie ein langsames Auflösen des Gewebes, aus dem ihr Leben war, Faden für Faden, um anschließend vollkommen neu verwoben zu werden."
Das Erstlingswerk der US-Amerikanerin Ann Wadsworth ist ein kluger, verhalten und mit subtiler Ironie sehr präzise erzählter Roman, der einen sanften, aber umso wirkungsvolleren Sog entfaltet. Ebenso frei von Pathos wie von plakativen psychologischen Klischees oder feministischen oder anti-feministischen Polemiken entfaltet er differenziert das Leben und den Charakter einer nicht nur sympathischen älteren Frau, die am Wendepunkt ihres Lebens nicht resigniert, sondern mit neu gefundener Selbstbestimmtheit in eine neue Lebensphase aufbricht.
Der Roman fokussiert auf die Perspektive Mrs. Medinas, deren gut erzogene Reserviertheit heftige Gefühlsausbrüche kaum zulässt, was die Darstellung ihrer Gefühle umso eindringlicher macht. Das erinnert entfernt an Virginia Woolfs "Mrs Dalloway" (schon der Titel deutet darauf hin). Der Roman wurde von Andrea Krug kongenial ins Deutsche übersetzt.
Rezensiert von Gertrud Lehnert
Ann Wadsworth: Mrs. Medina
Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Krug.
Krug & Schadenberg, Berlin 2006, 420 Seiten, 22,90 Euro