Aus den Feuilletons

Die Kultur lebt wieder auf

04:25 Minuten
Ein Freilichtkino in Hamburg in Corona-Zeiten. Die Besucher sitzen mit Abstand auf einer Wiese mit Stühlen und Decken vor einer großen Filmleinwand.
Ausblick auf Lockerungen: Nach den Museen sollen auch andere Kulturbetriebe bald wieder zum Leben erweckt werden. © imago images/Hoch Zwei Stock/Angerer
Von Arno Orzessek · 18.05.2021
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Corona-Lockerungen in den Kulturbereichen stehen bevor. Während der "Tagesspiegel" die neue Freiheit kaum erwarten kann, trauert die "TAZ" dem "Lockdown-Frieden" nach und ist weniger begeistert: "Jetzt geht der vermaledeite Amüsierzwang wieder los."
Der Berliner TAGESSPIEGEL titelt "Es liegt was in der Luft" und posaunt erwartungsfroh: "Die Kultur kommt zurück – draußen unter freiem Himmel, im Hof oder im Skulpturengarten. Wir freuen uns auf Naturschauspiele, Open-Air-Konzerte, Kino in der Nacht und Lesungen am See."

Die Rückkehr des Amüsierzwangs

Gar nicht gut drauf ist dagegen Uli Hannemann, der in der TAGESZEITUNG den Corona-Auflagen nachtrauert:
"Tja, schade. Der Lockdown-Frieden ist zerstört. Es war eine schöne Zeit, ohne Verpflichtungen, ohne 'Partys', 'Kultur', 'Amüsement', Zusammenkünften aller Art. Jetzt geht der vermaledeite Amüsierzwang wieder los, dieser blinde Aktionismus aus 'hast du schon', 'wollen wir nicht mal' und 'da müssen wir ja auch noch hin!' Ich habe Ausstellungen schon immer gehasst. Konzerte sind mir längst zu laut, der Rücken tut mir weh, oft sind die anderen Besucher frech zu mir."
So der jammervolle Lockdown-Liebhaber Uli Hannemann, der sich damit trösten mag, dass Corona nicht die letzte Pandemie gewesen sein muss.

Gegen den Antisemitismus

Und nun: Sarkasmus off! Nils Minkmar wirft in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG angesichts der Lage in Israel die Frage auf: "Wie solidarisch ist die Kunst mit Jüdinnen und Juden?".
Uns fällt auf: Je länger, desto stärker wechselt Minkmar von der journalistischen in die aktivistische Tonlage.
"Die deutsche Zivilgesellschaft darf sich nicht damit zufriedengeben, Anne Frank heiligzusprechen, Klezmer zu hören und Hummus zu kochen, sondern sie muss sichtbar für die Sicherheit Israels und der europäischen Juden eintreten: durch Texte, auch in den sozialen Netzwerken, durch Demos, durch direkte Ansprache.
Der Kampf gegen Antisemitismus wird nicht gewonnen, wenn wir noch einen greisen Menschen wegen der Massenmorde der Vierzigerjahre vor Gericht stellen. Wir müssen unsere eigenen gegenwärtigen Monster und Dämonen konfrontieren. Alle sind wir nun aufgerufen, ganz vorne die Künstlerinnen und Künstler im Land, dazu die Intellektuellen. Wir alle sind aufgerufen hinzuschauen. Und unseren jüdischen Freundinnen und Freunden zu sagen: Wir sind für euch da", fordert Nils Minkmar.
Wir wünschen seinem Ansinnen Erfolg, vermuten jedoch, dass ein solcher "Wir alle, wir müssen"-Aufruf eher anrührend als wirkungsvoll ist.

Judenhass in progressivem Gewand

Um beim Thema zu bleiben:
"Deutschland tut bisweilen so, als habe sich die Sache mit dem Judenhass erledigt. Dabei hat der sich nur ein lieblich-progressives Gewand übergezogen: postkolonial und antirassistisch. Das macht ihn so gefährlich", heißt es in der Tageszeitung DIE WELT. Zum Beleg zitiert Deniz Yücel aus dem Aufruf zu einer der Demonstrationen kürzlich in Berlin:
"Wenn wir ein freies Palästina vom Mittelmeer bis zum Jordanfluss fordern, dann fordern wir kein Palästina ohne Juden und Jüdinnen. Sondern wir fordern, dass das historische Palästina befreit und dekolonisiert werden muss, befreit von Zionismus, von Besatzung, von (White) Jewish Supremacy und Rassismus, weil es ein freies Land braucht, in dem alle Menschen, die vom Jordan bis zum Mittelmeer wohnen, frei und gewaltlos leben können. Das bedeutet 'Palestine will be free – from the River to the Sea'."
Soweit der Aufruf zur Demo, den Deniz Yücel wie folgt kommentiert: "Das ist keine Kritik an der israelischen Regierungspolitik, sondern Antisemitismus von und für Abitur-Antisemiten. Nicht vulgär, sondern State of the Art: postkolonial, antirassistisch, gendergerecht. Ein Antisemitismus, der keiner sein will und der seine Vernichtungsfantasie in ein lieblich-progressives Gewand kleidet."

Rahel Varnhagen zum 250. Geburtstag

Von den Tumulten rund um Israel zum 250. Geburtstag der Jüdin Rahel Varnhagen. "Warum ragt sie so aus ihrer Zeit heraus?", fragt Michael Maar in der SZ.
"Ganz Esprit, ganz Herz, Feministin avant la lettre, für die Judenemanzipation kämpfend, Freidenkerin – alles wahr, aber das Entscheidende ist etwas anderes. Es ist ihre Sprache, ihr Stil, in dem sich ihr freies Denken niederschlägt. Dies 'große, kühne, göttlich-teuflische Geschöpf', wie Friedrich von Gentz sie nannte, steckte an Originalität, Selbstironie, Quecksilbrigkeit und Wahrheitsliebe die meisten Romantiker in die Tasche." Bewundernde Worte von Michael Maar.
Übrigens: Wir enden auch heute mit einer Überschrift. Falls Ihnen das nicht passt, dann denken Sie jetzt vermutlich mit einem Titel der TAZ: "Muss ich nicht haben."
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