Neue Ideen gebären neuen Formen

Von Albrecht Dümling · 21.09.2010
Das Autograph des Orchesterliedes "Ich bin der Welt abhanden gekommen", das Mahler 1905 dem Wiener Musikwissenschaftler Guido Adler zum 50. Geburtstag geschenkt hatte, liegt heute in einer amerikanischen Universität. Auch das Originalmanuskript der Tondichtung "Tod und Verklärung" von Richard Strauss ist in Folge des Zweiten Weltkrieges in die USA geraten und gehört inzwischen zu den Schätzen der Pierpont Morgan Library New York.
"Tod und Verklärung" hatte der 25-jährige Komponist 1889 gleich nach dem Sensationserfolg seines "Don Juan" in Angriff genommen. Der musikalischen Darstellung kraftstrotzender Vitalität ließ er damit überraschend die minutiöse Schilderung des Sterbens folgen. Nie zuvor in der Musikgeschichte ist der Todeskampf, beginnend mit dem stockenden Herzschlag eines Fieberkranken, so genau in Töne gefasst worden. Aus einem kleinen Seitenthema aus der Mitte der Komposition entwickelt sich das Verklärungsmotiv, das zunehmend Gestalt gewinnt und schließlich in die hymnische C-Dur-Apotheose einmündet. Denn kein normaler Mensch stirbt hier, sondern ein Künstler, der hohen, unerfüllbaren Idealen nachjagt. Dazu der Komponist: "Die Todesstunde naht, die Seele verlässt den Körper, um im ewigen Weltraum das zu vollenden, in herrlichster Gestalt zu finden, was es hienieden nicht erfüllen konnte."

Getreu dem Credo der "neudeutschen" Komponisten, wonach "jede neue Idee ihre eigene neue Form" verlange, verband Strauss die detailgenaue Orientierung an einem poetischen Programm mit einer originellen musikalischen Form. Die sehr lange Einleitung und die äußerst knappe Reprise verschleiern dabei die Sonatenform. Sinnvoller lässt sich die Form begreifen, wenn man sie im Sinne von Franz Liszt als eine Verknüpfung von Sonatensatz und Sonatenzyklus versteht. Unter diesem Aspekt ist das Seitenthema, die "Kindheitserinnerungen" in G-Dur, auch als langsamer Satz zu deuten und die lange Coda als Finale.

Fünf Jahrzehnte nach der überaus erfolgreichen Eisenacher Uraufführung hat Strauss 1948 das hymnische Verklärungsmotiv aus seinem populärsten symphonischen Werk im letzten seiner "Vier letzten Lieder", "Im Abendlicht", zitiert – als Vorgriff auf seinen eigenen Tod. Anders als bei Mahler nahm somit bei ihm ein Orchesterwerk ein Lied vorweg.