Neue Gesamtausgabe mit Benjamins Werken

20.06.2008
Der Suhrkamp Verlag beginnt mit einer Kritischen Gesamtausgabe des Kulturphilosophen Walter Benjamin ein Projekt, das 2018 abgeschlossen sein soll. Als erster Band liegt seine Dissertation "Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" vor. Namhafte Forscher verantworten als Herausgeber die einzelnen Bände.
Bis zur 1955 erschienenen Ausgabe der "Schriften" Walter Benjamins, die von Theodor W. Adorno herausgegeben wurde, war Benjamin, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm, nur ganz wenigen bekannt. Durch den Streit um die eigenwillige Auswahl der Texte und die Auslassungen, die sich in der 1966 erschienenen Briefausgabe Benjamins fanden, wurde sein Name zum Begriff.

Der Suhrkamp Verlag versuchte, 1972 die Streitereien durch die Ausgabe von Benjamins "Gesammelten Schriften" zu beenden. Doch auch gegen diese Ausgabe wurden kritische Einwände erhoben. Der Aufnahme des Benjaminschen Werkes gereichte dies jedoch nicht zum Nachteil. Er wurde in den letzten Jahrzehnten zum Klassiker, aber dieses Werden war – anders als bei anderen Klassikern – begleitet von einer intensiven Rezeption seiner Schriften und einer nicht nachlassenden Diskussion darüber, in welcher Gestalt seine Schriften angemessen zu präsentieren wären.

Nur neun Jahre nachdem der letzte Band der bei Suhrkamp erschienenen Ausgabe der "Gesammelten Schriften" erschienen ist – die Ausgabe umfasst 14 Teil- und drei Supplement-Bände – hat sich derselbe Verlag zusammen mit der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur entschlossen, Benjamins Schriften und die bislang unpublizierten Texte aus dem Nachlass in einer neuen 21-bändigen Werkausgabe vorzulegen, die 2018 ihren Abschluss finden soll. Es könnte sein, dass der Streit noch lange nicht beendet ist.

Als erster Band, es handelt sich um den dritten in der Zählung der Werkausgabe, liegt nun Benjamins 1919 verteidigte Dissertation "Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" vor, die 1920 als Buch erschien. Im Unterschied zu den "Gesammelten Schriften" werden in der Neuausgabe einige unbekannte Dokumente veröffentlicht. Dazu zählt u.a. das Prüfungsprotokoll der Dissertationsverteidigung, aus dem ersichtlich wird, dass der Prüfungskommission entweder eine Doktorarbeit mit dem Titel "Der Begriff der Kunstkritik bei den deutschen Romantikern" vorlag oder der Protokollant hat den Titel der Arbeit falsch notiert.

Durch die Neuausgabe können nun auch die Hinweise Florens Christian Rangs nachgelesen werden, die Benjamin äußerst wichtig waren. In dieser Hinsicht erfüllt die Ausgabe, was man von ihr erwarten durfte, denn namhafte Benjamin-Forscher verantworten als Herausgeber die einzelnen Bände. Der nun vorliegende erste Band der Gesamtausgabe sieht wie ein Arbeitsbuch aus, das gebraucht werden will – grauer Pappeinband festes Papier. Das Äußere der Ausgabe ist überzeugend in seiner Schlichtheit.

Im Nachwort zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte rekonstruiert Uwe Steiner Benjamins Arbeit an der Dissertation, seine damaligen Lebensbedingungen und Arbeitsverhältnisse sowie die Vorbereitungen und den Verlauf der Doktorprüfung. Dass Benjamin seine Examensprüfung am 27. Juni 1919 mit "summa cum laude" bestand, war bekannt, nun weiß man auch, dass die Prüfung "um 4 Uhr nachmittags" stattfand. Auch dieses Wissen ist eine Bereicherung, ohne Frage.

Ein Manko allerdings stellt die äußerste Zurückhaltung dar, die sich Steiner in seinem Nachwort auferlegt, wenn es darum geht, den Stellenwert des Kritik-Begriffs für das Benjaminsche Denken wenigstens andeutungsweise aufzuzeigen. Wer keine Kenntnisse darüber besitzt, dass Benjamin daran dachte, eine Theorie der Literaturkritik zu verfassen – wobei die in der Dissertation ausgeführten Aussagen eine entscheidende Rolle spielen sollten – der muss sich solche Informationen anderweitig beschaffen. Beispielsweise, indem er zum Walter Benjamin-Handbuch greift. Dennoch wird an dieser Ausgabe nicht vorbeikommen, wer zu und mit Benjamin arbeiten will. Aber es bleibt im Auge zu behalten, ob die Bände singulär und allein für sich stehen oder ob es den Herausgebern der Gesamtausgabe gelingt, gerade auch das "Beieinander der Teile" zu verdeutlichen, wie es Benjamins Wunsch war.

Rezensiert von Michael Opitz

Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik,
Hrsg. von Uwe Steiner, Werke und Nachlaß, Kritische Gesamtausgabe, Band 3,
Hrsg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin Archiv, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008,
398 Seiten, 34,80 Euro.