Neue Freiheit, neue Rolle

Von Alexander Göbel · 19.10.2011
Jahrzehntelang wurden Journalisten, die sich gegen das tunesische Regime stellten, zensiert, unterdrückt, verfolgt, eingesperrt und gefoltert. Jetzt herrscht Presse- und Meinungsfreiheit in Tunesien: Zeitungen, Radio- und Fernsehsender schießen wie Pilze aus dem Boden. Doch die Journalisten reiben sich die Augen: Wie plötzlich all die vielen Meinungen aushalten?
Fahem Boukadous genießt das Sonnenlicht. Er kann es immer noch nicht glauben. Er sitzt tatsächlich in einem Café auf der Avenue Bourguiba, der Flaniermeile von Tunis – und atmet die Freiheit. Gegenüber versteckt sich – noch immer hinter Stacheldraht - das Innenministerium: Dort, in den Verhörzellen im Keller des Gebäudes, hatte sich das Ben-Ali-Regime an unzähligen Journalisten wie Fahem gerächt. Weil das Wort, weil das Bild ihre Waffe war, im Kampf gegen den mittlerweile gestürzten Ex-Diktator.

Über zwanzig Jahre hatte Fahem Boukadous gegen Ben Ali angeschrieben. Dafür musste er teuer bezahlen – mit Gefängnis und Folter. Fahems Augen verraten, dass er unvorstellbare Qualen erlebt haben muss. Reden will er darüber nicht mehr:

"Das Regime hat mich immer als Aktivisten, als Terroristen gebrandmarkt. Nun darf ich endlich sein, was ich schon lange bin, und das ist ein großartiges Gefühl: Fahem Boukadous ist jetzt ganz offiziell ein Journalist in Tunesien!"

Ein paar Hundert Meter weiter – der Sitz der Tageszeitung "La Presse Tunisie". Fouzia Mezzi ist müde – viel Schlaf bekommt die neue Chefredakteurin nicht. Sie muss ein Jahrzehnte altes System auf den Kopf stellen, Vertrauen schaffen. Sie muss aufräumen in einem Zeitungshaus, das zu Propaganda und Selbstzensur verdammt war, so wie der gesamte Blätterwald der repressiven Ben-Ali-Diktatur. Kein leichter Job:

"Wir haben alle ein journalistisches Berufsethos, das wir niemals anwenden durften – und jetzt ist alles anders. Jetzt müssen wir beweisen, wie wir es mit den Werten unseres Berufs halten. Aber wie geht man mit dieser Freiheit um? Wir müssen ganz neu lernen, frei zu sein, mit anderen Meinungen umzugehen, Kontroversen auszuhalten. Wir müssen uns in einer pluralistischen Gesellschaft zurechtfinden. Mehr als 20 Jahre lang waren das nur leere Worte für uns!"

Jetzt müssen diese Worte endlich mit Inhalt gefüllt werden. Und das, während sich Tunesiens Medienlandschaft in fast atemloser Geschwindigkeit verändert. INRIC, die unabhängige Kommission für die Reform des Medien- und Kommunikationswesens, arbeitet derzeit an einem neuen Mediengesetz – es soll ein Fundament sein für echte Pressefreiheit. Gleichzeitig wächst die Vielfalt: Das Internet ist frei, Tunesiens staatliche Medienbehörde vergibt immer neue Lizenzen: Bis jetzt wurden landesweit bereits über 120 neue Zeitungen zugelassen, zehn neue Radiosender, und fünf Fernsehkanäle.

Francesco Diaso ist Medienexperte von der Internationalen Vereinigung sogenannter "community radios". Er beobachtet den Wandel vor Ort – und mahnt zur Vorsicht, bei aller Euphorie:

"Die gute Nachricht ist, dass bei den älteren Medien viele Chefredakteure und Direktoren aus der Ben-Ali-Zeit ersetzt wurden. Aber einige Zeitungen und Sender schleppen alte Funktionärskader weiter mit durch. Das zu ändern, ist ein Prozess, der viel Zeit braucht. Auf der anderen Seite haben wir diese Zeit nicht, denn im Oktober stehen die Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung an – ein sehr wichtiger Schritt in Richtung Demokratie. Dabei werden die Medien eine sehr wichtige Rolle spielen."

Neue Rolle, neue Freiheit - in einem fast schon unübersichtlichen Markt der Meinungen. In den nächsten Wochen und Monaten wird sich zeigen, wie Tunesiens Medien mit dieser Verantwortung umgehen. Ob sie es schaffen, den Mächtigen auf die Finger zu schauen. Ob sie das Erbe der Jasmin-Revolution bewahren können. Das Erbe der vielen tunesischen Journalisten, die für dieses große Ziel ihr Leben riskiert haben.


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