Neue Chancen durch Musik

Von Johannes Kaiser · 27.02.2013
Kibera in Kenias Hauptstadt Nairobi ist einer der größten Slums Afrikas. Ein besonderes Projekt bietet Schülern jetzt einen Weg aus der Misere: Jazzposaunist Nils Landgren hat bei seinen Kollegen nicht mehr benötigte Musikinstrumente gesammelt und an Schulen in Kibera verteilt.
Strahlende Gesichter, angespannte Konzentration, totale Hingabe an die Musik – auch wenn nicht jeder Ton sitzt, sind doch alle Schüler und Schülerinnen der Baraka Za Ibrahim Waisenschule mit Begeisterung dabei - so wie der 15-jährige Trompeter John.

"Ich würde gerne Musiker werden, weil ich gerne singe und tanze. Ich bin sehr glücklich hier in der Band. Wenn ich mit den Bläsern zusammen bin, wir denselben Song spielen, macht das mich glücklich. Ich würde gerne weiter Musik machen, wenn ich die Schule beendet habe."

Musikdirektor Gideon Kitavi Mwania ist zufrieden mit seinem Blasorchester, das alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist, mitten in Kibera, mit rund 700.000 Einwohnern der größte Slum in Kenias Hauptstadt Nairobi.

Auf engstem Raum drängeln sich dort zehntausende primitiver Einzimmerhütten - ohne Strom, ohne Wasser, ohne Toiletten. Da ist die Schule mit ihren schlichten Gebäuden aus Ziegelsteinen, ihrem Brunnen, ihren Sanitäranlagen eine Ausnahme.

Dutzende Kinder, große wie kleine, Mädchen wie Jungs, tummeln sich auf dem Schulgelände oder toben hinter einem aus Lumpen zusammengenähten Ball. Dann spielt das 14-köpfige jugendliche Blasorchester in schönster Lautstärke, als wolle es die Mauern von Jericho zu Fall bringen. Der 15-jährige Posaunist Josef:

"Es ist eine Leidenschaft, etwas, das ich im Blut habe. "

Seine Existenz verdankt das Schulorchester einer Handvoll europäischer Jazzmusiker. Die sind vor gut zweieinhalb Jahren einem Aufruf des schwedischen Jazzposaunisten und Bandleaders Nils Landgren gefolgt, gebrauchte Musikinstrumente für Kibera zu sammeln.

Landgren und die Mitglieder seiner Band ‚Funk Unit‘ packten die gespendeten Musikinstrumente ein und flogen nach Nairobi, um sie dort an Schulen in Kibera zu verteilen. Um für die Aktion zu werben, gab die Band ein kostenloses Konzert auf einem Fußballplatz in Kibera. Den Mitschnitt haben sie später zu einer CD verarbeitet.

Schreckliche Zustände im Slum
Der Slum erinnert an eine Müllhalde aus Abfall und Schlamm. Der Boden der schmalen Gassen besteht aus zahllosen Schichten dreckiger Plastiktüten. Kleine, bestialisch stinkende Rinnsale durchschneiden das Gelände. Da sich nachts niemand auf die unbeleuchteten Gassen hinaustraut, entsorgen die Bewohner ihre Notdurft in Plastiktüten. Die fliegen dann tagsüber auf jeden freien Flecken, zerplatzen und erzeugen nicht nur einen grauenhaften Gestank, sondern auch zahlreiche Krankheiten.

60 Prozent aller Infektionen, unter denen die Bewohner leiden, gehen auf die miserablen hygienischen Verhältnisse zurück. Einen Entwicklungsplan für Kibera gibt es staatlicherseits dennoch nicht, so gut wie keine staatlichen Gelder für die Gesundheitsversorgung, Trinkwasserbereitstellung, Sanitäranlagen oder Strom.

Die Hilfsorganisation ‚Ärzte ohne Grenzen‘. betreibt in Kibera vier kleine Kliniken. Drei kümmern sich um erkrankte Bewohner, die vierte um Opfer von Missbrauch und Vergewaltigung. Behandlung und Medikamente sind kostenlos. Kumar Chandiramni, Kibera-Koordinator von ‚Ärzte ohne Grenzen‘ freut sich über das Engagement des schwedischen Musikers:

" "In Kibera haben die Menschen tagtäglich viele Schwierigkeiten zu bewältigen. Wir können den Patienten, insbesondere den Kindern zeigen, dass sich nicht alles um das Leben im Slum dreht, dass es Alternativen gibt, die mit Musik zusammen-hängen. Die berühren und gehören auch zum Menschsein. Daran können sie teilhaben. Das ist eine sehr schöne Ergänzung."

Vertrauen durch Musik
Viele, vor allem Frauen, haben in Kibera vor ihren Hütten kleine Garküchen aufgemacht. Kibera ist eine eigene Stadt - mit Kneipen und Lebensmittelläden, Friseuren, Tischlern, Fahrradreparateuren, Schneidern. Vor manchen Hütten hängt gebrauchte Kleidung zum Verkauf, stapeln sich billige Haushaltswaren. Es gibt in den engen Gassen und an den Umgehungsstraßen von Kibera alles, was die Bewohner tagtäglich brauchen – Hauptsache es ist billig. Denn an Geld fehlt es in dem Viertel, in dem man von der Hand in den Mund lebt.

Die Initiative der schwedischen Jazzmusiker, Schulen mit Musikinstrumenten auszustatten, hat auch der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen einen neuen Zugang zu den Bewohnern von Kibera gebracht.

"Das bedeutet, dass die Gemeinde uns jetzt als enger mit ihr verbunden ansieht. Für unsere Krankenschwestern, unseren Stab, der in den Klinken auf Patienten mit Aids, Tbc, Verbrennungen oder Opfer von Gewalt trifft, kommt es zwar völlig überraschend, plötzlich eine Gruppe von 30 oder 40 Kindern zu erleben, die mit verschiedenen Instrumenten jammen. Es ist eine große moralische Stärkung und versorgt mit ausreichend Kraft, um weiterzumachen."

Die Bewohner Kiberas kommen aus allen Teilen Kenias, vor allem vom Land. Sie gehören unterschiedlichen Ethnien an, die sich bis heute stark voneinander abgrenzen. Damit ist Kibera nicht nur durch eine Eisenbahnlinie geteilt, die das Gebiet durchschneidet, sondern auch durch unsichtbare Grenzen in zahlreiche Dörfer oder Kleinstädte. Immer wieder kommt es – auch durch Politiker aufgeputscht - zu blutigen Konflikten zwischen den Ethnien, vor allem zwischen den Luo und Kikuyu. Bei der letzten Wahl 2007 gab es hunderte Tote, zahlreiche Hütten und Läden gingen in Flammen auf. Jetzt fürchten viele vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im kommenden Monat erneut einen Ausbruch der Gewalt.

Selbstjustiz im Slum
Die Polizei traut sich nur selten nach Kibera. Jugendgangs haben die Macht übernommen und die Gebiete untereinander aufgeteilt. Sie leben von Schutzgelderpressung und Drogenhandel in Kibera, brechen von dort aus zu Raubüberfällen und Autodiebstahl auf. Die Gewaltbereitschaft ist enorm. Frauen in Kibera leben gefährlich. Es kommt häufig zu Vergewaltigungen. Für Fremde ist es nicht ratsam, sich alleine in Kibera umzusehen.

Rund 100 Musikinstrumente von der Flöte über die Gitarre bis zur Trompete sind bislang verteilt worden. Zu den sieben Schulen, die in Kibera berücksichtigt wurden, gehört auch die Baraka Ze Ibrahim Waisenschule. Sie ist auf Spenden angewiesen. Geld, um sich Musikinstrumente leisten zu können, hat sie nicht. Umso glücklicher ist Musikdirektor Gideon Kitavi Mwania über das unverhoffte Geschenk:

"Als die Baraka Ze Ibrahim Schulband begründet wurde, fingen wir mit einem einzigen Instrument an, mit nur einer Trompete. Im Augenblick besitzen wir 14 Instrumente. Wir haben drei Posaunen, sieben Hörner, Trompeten und ein Saxophon. Als ich die Band gründete, war unser Traum, auch Saxophone zu bekommen. Jetzt haben wir eines bekommen und sind darüber sehr glücklich."

Im Probenraum sind die einfachen, farbig bemalten Holztische, an denen die Kinder sonst sitzen, übereinander gestapelt, damit die Band Platz zum Spielen hat.

Die Waisenschule lebt von Spenden und einer geringfügigen staatlicher Unterstützung. Unterrichtet wird nach denselben Lehrplänen wie an den staatlichen Schulen. Ein kleiner Teil der Kinder lebt auf den Schulgelände, die anderen bei Eltern oder Verwandten im Slum. Schulgeld müssen sie alle nicht zahlen. Da es hier eine kostenlose Schulspeisung gibt, kommen die Kinder schon deswegen regelmäßig her. Denn für manche ist es das einzige Essen am Tag.

"Neben dem Üben in der Band lernen sie Musiktheorie. Sie müssen Noten lesen können. Sie müssen zusätzlich nach Gehör spielen können, damit sie in der Lage sind, auch ohne Noten zu spielen, falls wir irgendwo auftreten, wo es regnet. Sie ler-nen also beides. Das ist nicht einfach. Aber nach den ersten 16 Stunden können die Schüler bereits ein paar einfache Melodien spielen und zwar vom Blatt und nach Gehör. "

Auftritt in der ganzen Stadt
Die Erfolge sind offensichtlich, wie der Bandleader stolz berichtet, denn seine Gruppe hat sich bereits einen Namen über Kibera hinaus erspielt.

""In den letzten drei Monaten sind wir insgesamt sechsmal an unterschiedlichen Plätzen aufgetreten. Vor zwei Wochen zum Beispiel waren wir von der Organisation ‚Fight cancer‘ eingeladen worden, den Festzug anzuführen. Es ist die einzige Band, die es hier im Langata Gebiet gibt. Bei jeder Feier, bei jeder staatlichen Festveranstaltung ist es diese Band, die eingeladen wird, die Festzüge anzuführen."

Die Kinder an der Bethel Grundschule, das ist deutlich zu hören, müssen dagegen noch kräftig üben. Manche aus der Band des Musiklehrers Gilbert Omar sind kaum größer als die Posaune, die sie halten. Dennoch versuchen sie mit Hingabe und Begeisterung, den zwölf gespendeten Musikinstrumenten vernünftige Töne zu entlocken. Dreimal wöchentlich übt Gilbert Omar drei bis vier Stunden lang mit seinen Schülern.

"Wenn sie hören, dass es Zeit für Musik ist, kommen sie alle angerannt. Es gefällt ihnen gut. Sie kämpfen regelrecht darum."

"Ich kann deutliche Änderungen bei den Schülern sehen, die sich am Musikunterricht beteiligen. Wenn sie zurück in die Klasse kommen, sind sie aufgeweckt. Die Musik hat ihre schulischen Leistungen verbessert. Die Eltern sind glücklich darüber. Abgesehen vom schulischen Lernen können die Kinder ihr Talent entwickeln und das ist sehr gut."

Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit hoffen viele, später als Musiker in der Armee unterzukommen. Dafür sind gute Noten eine Voraussetzung.

Wegen Essen zur Schule
In der Bethel Grundschule ist Mittagsessenzeit. In langen Reihen stehen die Kinder vor einer Plastikwaschschüssel an, in der sie die Hände waschen. Dann dürfen sie sich zur Essenausgabe anstellen. Auf einen Plastikteller bekommen sie einen großen Schlag Ugali, Maisbrei mit ein bisschen Soße. Überall sitzen sie dann auf dem staubigen Erdboden an die Wellblechwände der Klassenzimmer gelehnt, lachen und freuen sich über das Essen. Fröhliche Kinder.

"Wenn es was zu essen gibt, dann ist es einfacher, die Kinder in die Schule zu locken. Wenn es nix zu essen gibt, dann müssen die im Müll da rumlaufen und irgendwas finden."

Immer noch sind in Kenia 30 Prozent der Bevölkerung Analphabeten. Umso wichtiger ist es, dass möglichst viele Kinder die Schule besuchen. Das ist allerdings gerade auf dem Land leichter gesagt als getan. Zwar gibt es auch dort Schulen, aber oftmals müssen die Kinder viele Kilometer zu laufen, um sie zu erreichen. Schulbusse sind eine Seltenheit. Außerdem müssen viele zuhause in der Landwirtschaft mithelfen, zum Beispiel das Vieh hüten.

Dass Bildung jeder Art ihnen neue Perspektiven eröffnet, wissen die Schüler durch-aus, sagt der 15-jährige John von der Baraka Ze Ibrahim Schule:

"Ich wurde zum Lehrer gerufen. Er sagte, die Band könne mir helfen, mein Leben zu verbessern, ich könnte von ihr profitieren. Denn wenn ich zur Armee gehen würde, könnte ich auch dort Posaune spielen. Und darum spiele ich Posaune."

Genau dafür trainiert Musikdirektor Mwania die Schüler seiner Band:

"Ich möchte, dass diese Gruppe noch größere Fortschritte macht, denn die meisten meiner früheren Schüler, die ich einmal in der Band unterrichtet habe, sind zum Militär gegangen. Einige gehören zur Militärband, andere zur Ehrenband des Präsidenten und einige sind auch in der Armeeband. Die, die meinen Unterricht absolviert haben, haben überall angefangen."

Trotzdem bleiben die Aussichten für die Jugendlichen, einen Job zu finden, gering. Gerade weil für viele dann die kriminelle Karriere der einzige Weg aus dem Elend zu sein scheint, möchte Nils Landgren eine Alternative bieten:

"Wir glauben an die Möglichkeiten, die Musik geben kann und natürlich sind sie am Anfang sehr klein. Wenn einer von diese Kinder Musiker werden kann, dann haben wir was erreicht und mit Musik man kann man sich sogar Geld verdienen und man kann auch eine ganze Menge Spaß mit Musik haben."

Dass kann Alex nur bestätigen, einer der Absolventen der Baraka Ze Ibrahim Schule, der Musiker geworden ist, mit Freunden eine Band gegründet hat, die auf Hochzeiten und Festen auftritt:

"Einmal Musiker, immer Musiker. Normalerweise verdienen wir unseren Lebensunterhalt durch Musik. Wir treten auf und am Ende des Tages haben wir 500 oder 1000 Shilling in der Tasche und das ist unsere Chance. Denn heute in Kenia ist die Jugend in viele kriminelle Aktivitäten wie Drogenhandel, Kidnapping, Raubüberfälle verwickelt. Wir wollten nichts mit Drogen oder Raub zu tun haben, wir wollten was machen, was uns am Ende des Tages etwas in unser Portemonnaie bringt. Wir nen-nen das unseren Schweiß."
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