Neue Biografie über Martin Niemöller

Kirchenmann, Pazifist, Antisemit

20:00 Minuten
Eine historische Aufnahme von Martin Niemöller, evangelischer Pastor und Theologer, im Anzug und Pfeife im Mund.
Eine Ikone des kirchlichen Widerstands gegen die Nazis: Martin Niemöller. Benjamin Ziemann zeigt in seinem Buch die dunklen Seiten des Pastors. © DVA Verlag
Benjamin Ziemann im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 08.09.2019
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Eine neue Biographie über den Mitgründer der Bekennenden Kirche fördert unbekannte Seiten der protestantischen Ikone zutage. Der Autor Benjamin Ziemann erläutert, warum es so viele Legenden um Niemöller gibt und wie sich heute damit umgehen lässt.
Anne Françoise Weber: "Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte." Dieses Zitat kennen Sie wahrscheinlich, vielleicht auch in einer etwas anderen Version, denn es gibt unterschiedliche Varianten.
Es ist sicherlich der bekannteste Ausspruch von Martin Niemöller, der im Ersten Weltkrieg U-Boot-Offizier war, im Nationalsozialismus die Bekennende Kirche mitbegründete und nach dem Krieg wichtige kirchliche Posten innehatte. Als engagierter Pazifist wurde er zu einer protestantischen Ikone.

Den komplizierten Lebensweg neu untersucht

Er hatte einen komplizierten Lebensweg mit einigen Brüchen und auch mit einigen nachträglichen Begradigungen. Diesen Lebensweg, den hat jetzt der Historiker Benjamin Ziemann neu untersucht und sehr detailliert dargestellt in seinem neuen Buch "Martin Niemöller: Ein Leben in Opposition". Ziemann ist Professor für neuere deutsche Geschichte an der University of Sheffield in Großbritannien, und umso glücklicher bin ich, dass er jetzt bei mir hier im Studio ist. Herzlich willkommen!
Benjamin Ziemann: Guten Tag!
Weber: Herr Ziemann, wir könnten natürlich auch so über Ihr Buch sprechen, aber interessant ist daran, dass Sie mit Ihrer Quellenforschung ja so manche Legende widerlegen. Nun haben wir das Glück, dass sich in den Archiven des Deutschlandfunks drei Sendungen finden, die im November 1977 ausgestrahlt wurden. Unter dem Titel "Auf Gegenkurs: Aus ungeschriebenen Memoiren" erzählt da Martin Niemöller aus seinem Leben – auf eine Weise, die sich manchmal mit Ihrer Darstellung deckt, aber manchmal auch ziemlich anders klingt. Wir wollen damit jetzt mal gleich einsteigen, und zwar mit einer Passage, wo er aus dem Ersten Weltkrieg berichtet:
"Als wir da mal darüber sprachen, dass der Krieg ja verloren gehen könnte und was man dann eigentlich machen sollte, da habe ich schon in einem Gespräch nachts auf dem Turm irgendwo im Mittelmeer zu Karli Topp, der von Kind auf mein Freund gewesen ist, gesagt: "Ja Karli, wenn der Krieg verloren geht und wir nicht mehr Seeoffiziere sein können, dann werde ich Pastor." Also das war für mich während des Krieges ja - genau wie ich nicht erst in der Gefangenschaft meine Taschenbibel in der Tasche hatte - für mich eine ganze Selbstverständlichkeit."

Erster Weltkrieg: wenig christliches Erbe, viel Hass

Weber: Nun muss man sagen, Niemöller war Pfarrsohn aus dem westfälischen Lippstadt, 1918 war er 26 Jahre alt, hatte diese Ausbildung als Marineoffizier gemacht, und wenn man diesem O-Ton folgt, dann war ihm der Pfarrberuf eigentlich doch in die Wiege gelegt. Sie sehen das etwas anders?
Ziemann: Eigentlich war ihm mehr der Offiziersberuf in die Wiege gelegt, denn den haben viele Pfarrerssöhne zu der Zeit ergriffen, und in den gesamten Briefen und Tagebüchern Niemöllers aus dem Ersten Weltkrieg findet sich eigentlich null Reflexion auf das christliche Erbe seines Elternhauses. Es finden sich nur Hassfantasien und Vernichtungsfantasien gegen die Engländer, Amerikaner, die er am liebsten alle umbringen möchte.
Weber: Durchaus aber auch mit Referenz auf Gott. Also ganz unchristlich hat er das nicht geschrieben?
Ziemann: Dabei soll Gott gerne beistehen, das ist ganz nationalprotestantisch gedacht, weil der beschützt nur die Deutschen, aber eigene Aspirationen hatte er während des Krieges nie geäußert.

Mitglied in republikfeindlichen Organisationen

Weber: Er ist dann Pfarrer geworden, aber diese Offizierswelt blieb ihm nahe und wichtig, auch in dieser Einstellung, Nationalprotestantismus nennen Sie die. Er hat sich dann in der Weimarer Republik politisch engagiert, aber nicht unbedingt unter den Republikfreunden, wenn man das so sagen kann.
Ziemann: Nein, er stand, wie viele andere Offiziere auch, gleich von Beginn an auf Seiten der entschiedenen Republikgegner. Und vor allem als Student trat das hervor, wo er praktisch in jedem republikfeindlichen, radikalnationalistischen oder faschistischen Verband und Verein und Partei Mitglied geworden ist, die in Münster, seinem Studienort, existierte.
Weber: Und er ist trotzdem dann nicht den Weg gegangen, den andere gegangen sind, aus diesen Gruppierungen nämlich in den bewaffneten Widerstand gegen die Republik zu gehen.
Ziemann: Das ist richtig. Das hätte auch passieren können, aber er ist dann Vater geworden, und ich glaube, die Familie hat da den entscheidenden Unterschied gemacht, und er hat dann gesehen, dass er für seine Familie den Lebensunterhalt zusammenhalten kann.

Mission als Lebensaufgabe

Weber: Und dafür war dann der Pfarrberuf am geeignetsten. Er wurde aber dann erst mal nicht Gemeindepfarrer, sondern war in der Inneren Mission tätig. War das näher an seinen Überzeugungen dran?
Ziemann: Das war erst mal nur eine berufliche Option, die er gerne wahrgenommen hat, weil er nichts anderes hatte. Aber das wurde dann eigentlich zu einer Lebensaufgabe, weil dieser missionarische Grundimpuls hat ihn bis ins hohe Alter eigentlich nicht verlassen, gerade auch im Dritten Reich im Kirchenkampf war der wichtig. Und er hat auch zeigen können, was er als Offizier konnte, nämlich rastlos organisieren, Sitzungen halten, Leute an einen Tisch bringen. Das hat er mit Bravour gemacht.
Weber: Es war aber dann ein bisschen zu rastlos. Er hat sich also doch eine Gemeinde gewünscht, kam dann 1931 als Pfarrer nach Berlin-Dahlem und hat dort das Erstarken der Nationalsozialisten erlebt, und dazu erzählt er dann im Deutschlandfunk 1977:
"Jedenfalls war ich in meiner näheren Umgebung da in Dahlem der einzige, der immer fragte: Was habt ihr eigentlich mit diesem Hitler, was kann euch an dem so begeistern? Und dann kommt die Machtergreifung und plötzlich gehen um einen herum überall die Fontänen der Begeisterung hoch. Und ich kann nicht behaupten, dass ich je für Hitler begeistert gewesen wäre. Und alles, was da an Legenden aufgekommen ist, kann ich nur zurückweisen. Ich bin immer ein sehr nüchterner Mensch gewesen, glaube ich, und bin es wohl auch geblieben."

Niemöller schwärmte vom Dritten Reich

Weber: Also Niemöller als nüchterner Mensch, der sich nie für Hitler begeistert hat. Haben Sie das in den Quellen so wiedergefunden?
Ziemann: Da ist ein bisschen eine Lücke in den Quellen, die wahrscheinlich mit der Arbeit seines Bruders zu tun hat: Wilhelm, sein jüngerer Bruder, der auch der erste Hagiograph war und den Nachlass geordnet und auch gesäubert hat. Man muss nur die Predigten aus dem Jahr 1933 lesen, dann sieht man, dass Niemöller vielleicht nicht von Hitler schwärmt, aber vom Dritten Reich und von dem Aufbruch in die Volksgemeinschaft, den der bringt. Das kann man auch in der Rückschau nur schwer auseinanderdividieren.
Weber: Sie schreiben auch von einem Gebet für den Führer noch 1936 zu Führers Geburtstag - also ganz fern war man sich dann doch nicht.
Ziemann: Ganz genau. Das war an einem der offenen Abende in Dahlem, ja.

Begegnung mit Hitler, aber kein Rededuell

Weber: Niemöller ist dann aber doch in die Opposition zum NS-Regime gegangen. Auslöser war da der Arierparagraph, der auch in der Kirche Anwendung finden sollte, also getaufte Juden sollten keine Pfarrer mehr werden. Daraus entstand dann der Pfarrernotbund, der in Konflikt mit dem Reichsbischof Ludwig Müller von den Deutschen Christen war. Es kam dann zu einem Treffen mit Hitler, der im Grunde da schlichten und entscheiden sollte. Niemöller erinnert sich so an dieses Treffen:
"Solche frechen Leute, die können manchmal gut eine Frechheit vertragen, besser als wenn einer ihnen gegenüber klein beigibt. Damit habe ich auch meinen Redestreit mit Hitler als derjenige, der das letzte Wort behielt, sozusagen gewonnen. Als ich ihm nämlich sagte: ‚Sie sagen, wir sollen Ihnen das deutsche Volk überlassen und uns auf unseren Auftrag, wie wir Menschen in den Himmel bringen, darauf sollten wir uns beschränken. Aber die Verantwortung für unser Volk, den haben nicht Sie, Herr Reichskanzler, uns auferlegt, sondern die Verantwortung kommt von ganz jemand anderes.‘ Darauf hat er mir zwar seine Hand entzogen – es war bei der Verabschiedung am 25. Januar '34 –, aber er hat kein Wort mehr gesagt."
Weber: Also Niemöller geht da eindeutig als Sieger vom Platz in seiner Erinnerung. Bei Ihnen lese ich, dass er da eher als Verlierer vom Platz ging?
Ziemann: Das war nicht unbedingt nur seine Schuld, weil Göring ihn überrascht hatte mit einer Passage aus einem abgehörten Telefonat vom Morgen desselben Tages. Fakt ist, dass das kein Rededuell war, sondern ein zweiminütiger Wortwechsel in einer anderthalb Stunden lang dauernden Sitzung. Wenn man sich dieses Zitat noch mal genau anhört, dann hört man, wenn man richtig zuhört, eigentlich die Schnittmengen mit Hitler, weil er auch sagt: Genau wie Sie, Herr Reichskanzler, habe ich Verantwortung für das Volk mit meiner Kirche. Das ist die Schnittmenge der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, die Hitler und Niemöller eigentlich beide hochhalten wollen.

Persönlicher Gefangener Hitlers

Weber: Mit der Bekennenden Kirche gab es aber dann doch dieses In-Schranken-Weisen der Nationalsozialisten. Also mit der Barmer Theologischen Erklärung wurde ja klar gesagt, den Allmachtsanspruch der Nationalsozialisten, den weisen wir zurück. Niemöller wurde auch immer klarer in seiner Kritik, auch bei diesen schon genannten offenen Abenden in Dahlem hat er kein Blatt vor den Mund genommen, auch wenn er wusste, dass die Gestapo anwesend war.
Das kam dann doch so weit, dass die ihn inhaftiert hat. Es kam zu einem Prozess. Die Richter konnte er von seiner nationalen Grundhaltung überzeugen, die haben ein relativ mildes Urteil gesprochen. Er hätte freigelassen werden müssen, wurde er aber nicht, weil er jetzt zum persönlichen Gefangenen Hitlers wurde und ins KZ kam. In dieser Zeit im KZ, ist er da den unter anderem jüdischen Häftlingen begegnet, hat er da Auseinandersetzungen gehabt oder hat er immer diesen Sonderstatus als persönlicher Gefangener behalten?
Ziemann: Er war von 1938 bis 1941 in Sachsenhausen und zwar in Einzelhaft. Also er hatte nur ganz begrenzten Umgang, praktisch keinen mit anderen Gefangenen, nur mit Lagerpersonal. Nur seine Frau war regelmäßiger Besucher, die durfte ihn alle paar Wochen besuchen zu einer halbstündigen, dreiviertelstündigen Aussprache.

Kultureller Antisemitismus bis ins hohe Alter

Weber: Aber er wusste wahrscheinlich doch durch diese Aussprachen auch, wie es mit der Judenvernichtung und anderen politischen Dingen voranging. Gab es da irgendwelche Auseinandersetzungen damit? Also die Beziehung zum Judentum scheint ja sehr schwierig gewesen zu sein bei ihm.
Ziemann: Die Beziehung zum Judentum war schwierig, weil er seit Ende des Ersten Weltkrieges, wie viele andere, völkischer Antisemit war. Er sah die Juden als Rasse, er ist einem faschistischen Verband beigetreten, wo er selbst einen Ariernachweis unterzeichnen musste. Er hat erst spät, als er in Dahlem war, angefangen, in theologischen Kategorien zu denken, aber was man so kulturellen oder gesellschaftlichen Antisemitismus nennen kann – die Juden, die uns zum Opfer machen, die sich zu viel Einfluss rausnehmen – das hatte er nicht 1933 abgelegt, auch nicht 1945, sondern das hat ihn eigentlich bis ins hohe Alter begleitet.

Else Niemöller verhindert seine Konversion

Weber: Bevor wir auf die Zeit nach 1945 kommen, würde ich gerne noch kurz auf seine Frau zu sprechen kommen, weil sie so eine wichtige Rolle hatte, gerade dann in dieser Zeit der Haft. Das war eine sehr selbstständig denkende Frau, die da auch noch mal an Selbstständigkeit gewonnen hat, was festzustellen Niemöller schwergefallen ist, oder?
Ziemann: Es war schwierig für ihn, weil er in der Einzelhaft in Sachsenhausen von seiner eigenen Landeskirche, der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union, auf kaltem Wege aus seinem Pfarramt entfernt werden sollte. Das war der Moment, wo er dachte, zur katholischen Kirche zu konvertieren. Das war ein längerer Prozess, der auch theologisch begleitet wurde. Er hat in Sachsenhausen ein Buch geschrieben, das ich mit einem Theologen ediert habe, eine längere Reflexion über diese Fragen. Else Niemöller war ganz entschieden dagegen. Die hat sich theologisch gewappnet, hat auch gebettelt und gefleht und hat alle ihre Überredungs- und Überzeugungskünste eingebracht, um ihn von diesem Schritt abzuhalten.
Weber: Und dann wurde er eigentlich eher irgendwann zum Antikatholiken.
Portrait des Autors Benjamin Ziemann.
Der Historiker Benjamin Ziemann widerlegt in seiner Biographie manche hartnäckige Legende über Martin Niemöller.© Benjamin Ziemann
Ziemann: Im protestantischen Elternhaus ist er natürlich als Antikatholik im Kaiserreich großgeworden. Interessant ist, dass sich das schon seit 1933 abschleift. Er kritisiert mehrfach seinen Vater, der die Katholiken nur als konfessionellen Gegner wahrgenommen hat und kam da zu anderen Einsichten. Aber vielleicht auch aus Schuldgefühlen über die abgebrochene Konversion ist er nach 1945 wieder ganz der Kulturkämpfer alten Schlages.

Er sah die Deutschen als Opfer

Weber: Und trotzdem wurde er dann auch zum überzeugten Ökumeniker. Ihr Buch trägt den Titel: "Martin Niemöller – ein Leben in Opposition". Diese Opposition in Niemöllers Leben, die setzte sich auch nach dem Ende der NS-Zeit fort. Hier ein Ausschnitt aus Niemöllers Erinnerungen im Deutschlandfunk:
"Es zerreißt mir heute noch mein Inneres, dass unser Volk, mein Volk, so schwer für seine Hitler-Begeisterung und das Hereinfallen auf diese Locktöne hat bezahlen müssen und, wie ich fürchte, auch heute noch weiter dran bezahlt und vielleicht in Zukunft noch dafür bezahlen muss."
Weber: Also das deutsche Volk als Opfer, auch eine Positionierung natürlich gegen die Politik der Alliierten. Das war in den Nachkriegsjahren eine Konstante in Niemöllers Denken, oder?
Ziemann: Da ist, wie Karl Barth, der pfiffige reformierte Theologe, festgestellt hat, der historische Niemöller wieder da in all seiner Schärfe. Das Interessante ist: Niemöller kennen wir ja auch als denjenigen, der die deutsche Schuld gepredigt hat nach 1945 in der Stuttgarter Schulderklärung der EKD, aber direkt nach dem Kriegsende war davon noch nichts zu spüren. Er sah die Deutschen als Opfer der Amerikaner und hat sich darüber empört, was die Amerikaner mit Deutschland machen wollten.
Erst als er sah, dass einfach Rachegelüste und Hasstiraden nichts bringen, hat er den Kurs geändert und gesagt, dass wir diese Schulderklärung leisten müssten als Protestanten, weil nur so der Weg zurück in die Familie auch der Kirchen und der Weg zurück zu internationaler Anerkennung gelingen könnte.

Niemöller galt als der Vertreter des deutschen Widerstands

Weber: Dieser historische Niemöller, der stand schon zu seinen Lebzeiten einem verklärten Niemöller gegenüber, denn während der ganzen Zeit der KZ-Haft wurde durchaus auch international mobilisiert, und er wurde sozusagen ein Gesicht des Widerstands gegen den Nationalsozialismus.
Ziemann: Vor allem in England, wo der anglikanische Bischof George Bell sich darum gekümmert hat, aber auch und gerade in den USA wurde Niemöller während der KZ-Jahre zu dem Repräsentanten des deutschen Widerstandes. Auch als er nach dem Krieg dann 1946 die USA lange bereist hat, gab es durchaus kritische Stimmen, gerade aus jüdischen Kreisen, die hervorhoben, das ist doch ein immer noch in der Wolle gewirkter Antisemit, und die hatten viele gute Belege dafür, aber das Massenpublikum – und er hat die Massen erreicht in den USA –, die waren begeistert und haben jedes Wort geglaubt, was er gesagt hat.

Protest gegen die Westintegration der Bundesrepublik

Weber: Interessanterweise hat Niemöller ja sein Nationalismus zum Pazifismus gebracht, also jedenfalls wenn man seinen Äußerungen wieder im Deutschlandfunk 1977 folgt:
"Also mir lag daran, dass Deutschland nicht geteilt würde und dass auch Preußen irgendwie doch erhalten bliebe, und deshalb habe ich mich Anfang der 50er-Jahre sehr stark gegen die Wiederbewaffnung eingesetzt, weil mit der Wiederbewaffnung natürlich die Gefahr auftauchte… und das habe ich Adenauer gesagt, und der ist mir auch die Antwort schuldig geblieben und ist ebenso wie Hitler am 25. Januar 1934 an irgendeinem Tag in 1951 oder 1952 aus einem Gespräch mit dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland rausgegangen, weil ich ihm gesagt hatte: Wenn Sie jetzt wiederbewaffnen, dann ist die Wiedervereinigung Deutschlands auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verlegt."
Weber: Also zunächst mal diese Sorge um die Einheit Deutschlands, aber dann doch auch eine Öffnung mit diesem pazifistischen Engagement und auch mit seiner Arbeit im Ökumenischen Rat der Kirchen auf eine ja doch internationalistische Position, die er später hatte, oder?
Ziemann: Da war er zu Anfang der 50er-Jahre noch nicht, weder internationalistisch noch pazifistisch. Der Kampf gegen die Wiederbewaffnung war ein Kampf gegen die Westintegration der Bundesrepublik. Zum Pazifisten wurde Niemöller erst, als er gemerkt hat, welche ungeheure Zerstörungskraft die Wasserstoffbombe haben kann, und dann hat er sich diesen Nuklearpazifismus, wie man sagen kann, also die Ablehnung nuklearer Bewaffnung, zu seinem Herzensanliegen gemacht.

Seine Verehrer wollten manches nicht mehr wissen

Weber: Damit wurde er aber dann endgültig zur Ikone für den Linksprotestantismus – und das ist ja dann doch irgendwie erstaunlich, wenn man sich anschaut, wo er herkommt und was er alles im Laufe seines Lebens gesagt hat. Jetzt kann man ja nun auch jemandem zugestehen, gerade in diesen bewegten Jahrzehnten seines Lebens, seine Haltung verändert zu haben. Das gibt er auch zu, dass er das durchaus getan hat. Kann man aber sagen, er hat im Nachhinein auch Dinge vertuscht oder begradigt oder da etwas schöngeredet, was dann auch zu dieser Ikonenmalerei beigetragen hat?
Ziemann: Das hat nicht unbedingt nur er selber gemacht. Er hat das auch gemacht, unter anderem in diesem berühmten Interview mit Günter Gaus aus dem Jahr 1963, wo Gaus, der ja ein kritischer Journalist war, eigentlich jede der Verdrehungen und Halbwahrheiten geschluckt hat und abgenickt hat, die Niemöller ihm aufgetischt hat – gerade zum Thema Antisemitismus, was haarsträubend ist. Aber andere haben geholfen, zum Beispiel sein Bruder Wilhelm, der die Öffentlichkeit überschüttet hat mit hagiografischen Schriften und Kritiker auch innerhalb der Kirchenhistoriografie brieflich zum Schweigen zu bringen versucht hat.
Letztlich wollte es auch irgendwann niemand mehr wissen. Also diejenigen in der Friedensbewegung der 60er-, 70er- und auch 80er-Jahre, die Niemöller feiern und natürlich auch zu Recht feiern als eine Ikone des Pazifismus, die wollten nicht mehr wissen, welche Art von Antisemit er eigentlich vor 1933 war und was er eigentlich wirklich von den Juden nach 1933 und auch nach 1945 gehalten hat.

Späte Wandlung zum radikalen Pazifisten

Weber: Man kann Ihre Biografie jetzt schon als eine Demontage eines protestantischen Heiligen lesen. Haben Sie denn schon Reaktionen darauf bekommen? Wie wird das denn so aufgenommen auch von der Familie, die ja doch zahlreiche Nachkommen haben muss bei sechs Kindern?
Ziemann: Ich habe noch keine Reaktionen dieser Art. Ich würde mir wünschen, dass man… Der Heilige passt ja nicht in die evangelischen Kirchen.
Weber: Ach, da gibt es aber noch ein paar andere!
Ziemann: Auch wenn es Ansätze zu dieser Heiligenverehrung durchaus gibt. Ich würde mir wünschen, dass das differenziert gesehen wird, dass man auch zur Kenntnis nimmt, dass die Wandlung, die Niemöller ja durchgemacht hat, also nicht durchgemacht hat, sondern selber vorangetrieben hat, für sich und damit auch für viele andere, dass die gewürdigt wird, aber dass man sieht, dass die nicht 1933 schon stattfand und nicht 1945, sondern dass die eigentlich erst ein Ergebnis von Umstellungsprozessen, auch Einsichtsprozessen der späten 50er- und dann vor allem auch der 60er-Jahre war, also im hohen Alter.
Das wiederum ist natürlich faszinierend, denn nach dem 60. Lebensjahr ändern die wenigsten Menschen noch ihre Einstellung. Und die meisten Wandlungen, die Schärfe, die Radikalität seines politischen Engagements und auch des Pazifismus, das kam erst lange nachdem er den 60. Geburtstag schon vollendet hatte.

Auch Heinrich Böll feierte die Volksgemeinschaft

Weber: Sie schreiben an einer Stelle, er sei ein Erinnerungsort geworden. Kann dieser Erinnerungsort bestehen bleiben, wenn man sich dann doch auch diese zum Teil sehr problematischen Äußerungen anschaut?
Ziemann: Das muss letztlich jeder, der sich mit Niemöller auseinandersetzt, selber entscheiden. Ich hoffe, dass ich dafür eine gute Grundlage geschaffen habe, das noch mal neu zu diskutieren. Nun, es gibt andere Beispiele: Heinrich Böll zum Beispiel, den wir auch kennen als Namengeber von vielen Schulen und so weiter. Wir wissen, dass der als Soldat an der Ostfront war und in seinen Feldpostbriefen an seine Eltern auch die Volksgemeinschaft gefeiert hat, und das hat dem Namen Böll auch keinen Abbruch getan.
Also das ist eine Sache, die man diskutieren sollte, und ich würde mich über diese Diskussion freuen. Aber wenn man das auch kritisch diskutiert und sich fragt, was war wirklich los mit Niemöller, dann kann man natürlich auch die Dinge, die er in Gang gesetzt hat, auch in der Ökumene, in der Friedensbewegung weiter als Referenzpunkt nutzen.
Weber: Also eine Vorlage zur Diskussion haben Sie jedenfalls geliefert.

Benjamin Ziemann: "Martin Niemöller: Ein Leben in Opposition"
DVA, 640 Seiten, 39 Euro.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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