Neudeutung eines kubanischen Klassikers

Rezensiert von Gregor Ziolkowski · 04.07.2006
Der kubanische Autor Reinaldo Arenas hat sich mit "Cecilia Valdés oder Der Engelsberg" von Cirilo Villaverde einen Klassiker der Literatur seines Landes von 1882 vorgenommen. Dem Sittengemälde der kubanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts setzt er grelle, überzogene Szenen entgegen, ohne dabei das Original zu zerstören.
"Das Um-Schreiben oder Parodieren ist so uralt, daß es zurückgeht bis fast auf die Geburt der Literatur selbst (oder zumindest ihrer ersten Glanzpunkte)."

schreibt Reinaldo Arenas in einer Vorbemerkung zu seinem 1987 beendeten Roman "Engelsberg" und verweist auf große Namen der Weltliteratur: Aischylos, Sophokles, Shakespeare und Racine.

Arenas hat sich einen Klassiker der kubanischen Literatur vorgenommen, den Roman "Cecilia Valdés oder Der Engelsberg" von Cirilo Villaverde. Die Vorlage, die 1882 erstmals erschien, gilt als das realistische Sittengemälde über die kubanische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und über ihr übelstes Geschwür, die Sklaverei.

Die Figuren, selbst die Kapitelstruktur hat Arenas von der Vorlage übernommen, auch der Stoff ist nichts anderes als das von Villaverde Erzählte: die Lebensgeschichte jener Cecilia Valdés, die als uneheliches Kind einer Mulattin aus der Unterschicht und eines reichen Plantagenbesitzers in einem Waisenhaus aufwächst, zu einer lebenshungrigen Schönen wird und sich ihrerseits in einen jungen reichen Weißen verliebt, der ihren Körper, aber unbedingt auch den Standesunterschied zwischen beiden zu schätzen weiß.

Während dieser Leonardo Cecilia die Ehe verspricht, laufen seine Hochzeitsvorbereitungen mit der Tochter eines befreundeten Plantagenbesitzers. Was Cecilia und ihr Liebhaber nicht ahnen, ist, dass sie Halbgeschwister sind – sie die illegitime Tochter, er der eheliche Sohn des gleichen Vaters, Konstellationen, die letztlich beide in die Katastrophe führen, in einen pathetisch inszenierten Mord aus Leidenschaft.

Reinaldo Arenas hat dennoch einen ganz eigenen Roman geschrieben. Den breit angelegten Realismus der Vorlage hat er zu einer episodenhaften Struktur verdichtet und vor allem mit grotesken und phantastischen Elementen angereichert. Solche Überzeichnungen durchziehen den gesamten Roman: Da durchschwimmt eine blamierte und darum flüchtende Comtesse nur mit Hilfe ihrer weit geblähten Kleider den ganzen Atlantischen Ozean. Sklaven lassen sich zu Hunderten von einer defekten Dampfmaschine in die Luft schießen, weil sie meinen, so würden sie zurück nach Afrika gelangen, aber sie landen als Leichen auf den umstehenden Palmen und fallen ausgerechnet dann scharenweise herab, als Leonardo seiner Verlobten beim Spaziergang seinen Heiratsantrag machen will.

An einer Stelle des Romans rebellieren die Romanfiguren sogar gegen ihren Autor (Villaverde in diesem Fall), machen sich zu ihm auf und stellen ihn zur Rede, um Klarheit über eine Dialogstelle zu erhalten. Eine fast komplette Festgesellschaft wird getötet, weil keiner die Widerwärtigkeit des spanischen Königs Ferdinand VII. auf einem Ölbild ertragen kann, und auf einem anderen Bankett wird so viel gegessen, daß die meisten der Teilnehmer in die Landschaft hinausrollen und dort als Hügel und Gebirgszüge enden.

Mit diesen grotesken Mitteln setzt Arenas immer wieder einen lebensprallen, humoristischen Kontrast gegen die eigentlich tragische Geschichte des Romans. Cecilia ist nicht nur die Verkörperung einer langen rassistischen Tradition – ihre Mutter und auch die Großmutter erlitten das Schicksal der benutzten, dann abgelegten Geliebten –, sie wird sie auch fortsetzen: als sie von Fernando schwanger wird (ihre Tochter wird innerhalb weniger Minuten geboren und wächst sofort bis zum Alter einer Fünfjährigen heran, weil das ihre einzige Chance ist, einer Abtreibung zu entgehen), ist klar, dass sie niemals ihren großen Wunsch nach einem gesellschaftlichen Aufstieg wird realisieren können.

Arenas rebelliert gegen den Realismus der Vorlage und setzt ihm seine grellen, überzogenen Szenen entgegen, ohne dabei das Original zu zerstören. Denn in seinem Kern verfolgt auch er die Themen, die Villaverde beschäftigt haben: Die Liebe und der Drang nach Freiheit, die in einer dekadenten, von starren Ritualen und Konventionen sowie einer morschen Ideologie beherrschten Gesellschaft praktisch unmöglich sind.

Reinaldo Arenas: Engelsberg. Roman.
Aus dem kubanischen Spanisch von Klaus Laabs.
Mit einem Nachwort von Ottmar Ette.
Ammann Verlag, Zürich 2006. 208 Seiten, 18,90 Euro