Neuausgabe

Göttliche Sprachgeschöpfe

Er dichtete aber arbeitete auch als Übersetzer: Christian Morgenstern.
Er dichtete aber arbeitete auch als Übersetzer: Christian Morgenstern. © picture alliance / dpa
Von Carola Wiemers · 31.03.2014
Für die einen Nonsens, für die anderen der Vorläufer der Konkreten Poesie: Vor 100 Jahren starb Christian Morgenstern, und seine Gedichte spalten seine Leser bis heute. Anlässlich des runden Todestages ist nun eine illustrierte Neuausgabe seiner "Galgenlieder" erschienen.
Wer erinnert sich nicht an Christian Morgensterns Dorfschulmeister, der dem Werwolf im gleichnamigen Gedicht gestehen muss, ihn im Plural nicht "beugen", also deklinieren zu können:
"Zwar Wölfe gäb's in großer Schar
doch 'Wer' gäb's nur im Singular."
Oder an sein im wahrsten Sinne Atem raubendes "Gruselett":
"Der Flügelflagel gaustert
durchs Wiruwaruwolz,
die rote Fingur plaustert
und grausig gutzt der Golz."
Morgensterns klangkräftige Buchstaben-Partituren scheiden die Geister. Für die einen sind die "Galgenlieder" (1905), "Palmström" (1910), "Palma Kunkel" (1916) oder "Der Gingganz" (1919 postum) reiner Nonsens, dem anderen der Inbegriff einer modernen lautmalerischen Poetologie und als diese Vorläufer der Konkreten Poesie.
Fest steht, dass der 1871 in München geborene Morgenstern das Genre des Humoristischen in eine extreme Richtung getrieben hat. Sie reicht bis zur totalen Auflösung sprachlicher Muster wie in "Fisches Nachtgesang" oder mündet in eine Hommage der Flüchtigkeit des Beständigen. So wird in "Der Lattenzaun" ein Haus aus dem puren Nichts gebaut: dem Raum zwischen den Latten.
Nur wenigen ist allerdings bekannt, dass einige Galgenlieder in Norwegen entstanden. Denn im Zuge der Ibsen-Rezeption in Deutschland (zwischen 1889-1894) nimmt Morgenstern 1897 den Auftrag vom S. Fischer Verlag an, die Werke des großen Dramatikers ins Deutsche zu übertragen. Morgenstern hat zu diesem Zeitpunkt bereits August Strindbergs "Inferno" aus dem französischen Original übersetzt.
Clownerie und tiefe Weisheit gleichzeitig
In Christiania, dem früheren Oslo, lernt er rasch die norwegische Sprache und begegnet dem Meister selbst mehrmals unter anderem im Grand Hotel. Ibsen bezeichnete seine Übersetzungen übrigens als "außerordentlich gelungen".
In der anlässlich seines 100. Todestages erschienenen Gesamtausgabe der "Galgenlieder" – die nach dem bei Werder/Potsdam gelegenen Galgenberg benannt sind - marschieren Morgensterns göttliche Sprachgeschöpfe in geballter Formation auf. Man begegnet dem "Nasobēm“", dem auf der Nase schreitenden imaginierten Wesen. Von ihm war der Zoologe Gerolf Steiner derart entzückt, dass er eine fiktive Säugetierordnung der "Rhinogradentia", der sogenannten Nasenschreitlinge, begründete und zum wissenschaftlichen Witz erhob. In einem anderen Vers begegnet man dem "æsthetischen" Wiesel "auf einem Kiesel / inmitten Bachgeriesel" oder dem Mondschaf, das geduldig der "großen Schur" harrt.
Kurt Tucholsky meinte, dass letztlich ungewiss bleibt, was an Morgensterns Poesie mehr zu loben sei, "die Clownerie" oder die "tiefe Weisheit". Denn Gedichte wie "Das Knie" oder "Der Gingganz" bestechen nicht nur durch ihre formale Klarheit. Sie setzen in grüblerischer Form dem Spielerischen dort ein Ende wo es ins Ernsthafte kippt.

Christian Morgenstern: Alle Galgenlieder
Illustrierte Neuausgabe zum 100. Todestag von Christian Morgenstern am 31. März 2014, Grafiken von Hans Ticha
Edition Büchergilde 2014,
368 Seiten, 28 Euro

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