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"dekoder: Russland entschlüsseln"
"Die Luft wird dünner"

Ist Russland ein Rätsel oder wissen wir nur viel zu wenig über das große Land am östlichen Rand Europas? Die preisgekrönte Internetplattform dekoder übersetzt seit 2015 Texte unabhängiger russischer Journalisten und kommt zu erstaunlichen Ergebnissen. Ein Sammelband präsentiert die wichtigsten Texte.

Von Uli Hufen | 20.02.2020
Eine Ausgabe der "Prawda"
Brillanter Journalismus in Russland blüht eher im Verborgenen. (Ulf Mauder / dpa)
Der russische Dichter Fjodor Tjutschew schrieb einst, Russland sei mit dem Verstand nicht zu begreifen. Winston Churchill sah es ähnlich und behauptete, Russland sei ein Rätsel in einem Geheimnis umgeben von einem Mysterium. Beide Sätze werden zu oft zitiert und haben viel Schaden angerichtet, weil sie nahelegen, dass es sinnlos sei überhaupt zu versuchen, russische Realitäten journalistisch, wissenschaftlich oder künstlerisch zu ergründen und zu erklären. Die Internetplattform dekoder spielt in ihrer Selbstdarstellung mit dem heiklen Motiv der russischen Unzugänglichkeit. Allerdings legt der Name dekoder dann doch nahe, dass das angebliche Rätsel Russland immerhin von Experten dekodiert und also doch verstanden werden kann.
Eine elegante Idee, so naheliegend, dass niemand vorher darauf kam
dekoder entstand 2015 als Reaktion auf den eklatanten Mangel an seriöser Information über Russland und Ukraine. Als in Kiew Massenproteste begannen, als kurz darauf Russland die Krim annektierte und der Krieg im Donbas ausbrach, stellte man in Deutschland überrascht fest, dass kein einziges deutsches Qualitätsmedium einen festen Korrespondenten in Kiew hatte, dass die Zahl der Korrespondenten in Moskau seit Jahren sank und dass seit 1990 zu allem Überfluss auch zahllose Professuren für osteuropäische Geschichte oder Slawistik verschwunden waren.
Auch dekoder kann keine Korrespondenten bezahlen, löst das Problem aber mit einer eleganten Idee, die so naheliegend war, dass vorher nie jemand darauf kam. dekoder stützt sich auf unabhängige russische Journalisten und Medien. Den Grundgedanken des dekoder-Gründers Martin Krohs beschreibt Chefredakteurin Tamina Kutscher so:
"Die Idee war von Anfang nicht nur zu übersetzen - nämlich aus unabhängigen Medien, die wirklich unabhängigen Journalismus machen - sondern mit diesem Übersetzen das ganze Wissen mit zu transportieren, das auch ein guter Übersetzer hat und viel Kontext zu bieten, viel Wissen."
Die dekoder-Redaktion sucht aus der unendlichen Fülle interessanter Texte, die täglich in russischen Medien veröffentlicht werden aus, was für's deutsche Publikum erhellend, unterhaltsam oder horizonterweiternd sein könnte. Politik, Kunst, Gesellschaft, Sport, Alltag, egal. Dann werden die Texte durchweg gut ins Deutsche gebracht und bei Bedarf kommentiert.
"So arbeiten wir mit Pop-ups, in denen wir einzelne Begriffe erklären, aber vor allem arbeiten wir auch mit Wissenschaftlern zusammen, die bestimmte Phänomene, die ein deutscher Leser nicht kennt oder vielleicht nur ein bisschen kennt, erklären. … Die Übersetzungen sind mit den Gnosen, wie wir die wissenschaftlichen Texte nennen, verlinkt. Also man kann, wenn man über einen Begriff stolpert, gleich zur Gnose gehen und nachlesen: Was ist das eigentlich?"
Unabhängige Medien in Russland
Jenseits einzelner Texte und Ideen dürfte die größte Überraschung, die dekoder für deutsche Leser bereithält, darin bestehen, dass es in Russland auch nach 20 Jahren Putin unabhängige Medien, brillante Journalisten und großartige Texte gibt. Das legendäre Moskauer Oppositionsblatt Nowaja Gaseta, bei dem auch Anna Politkowskaja arbeitete, die Kulturplattform colta, das in Riga beheimatete Nachrichten-Portal Meduza, der Radiosender Echo Moskau, die Zeitschrift Neue Literaturrundschau und viele andere. Manche existieren seit Jahrzehnten, andere sind jung und hip:
"Man muss betonen: es gibt diese Medien. Und sie arbeiten alle und sie machen eine super Arbeit. Gleichzeitig muss man immer sagen: es wird schwerer, die Luft wird dünner. Es gab jetzt im Frühjahr eine Reihe von Mediengesetzen, die erlassen wurden gegen Hatespeech und gegen Fake News, die sind so schwammig formuliert, es sind wirklich Gummiparagraphen, die sehr selektiv und willkürlich angewandt werden können. … Also: es schweben schon so Damoklesschwerter über den einzelnen Journalisten und Medien und gleichzeitig: lesen sie den Artikel von Olga Beschlej, die gehen damit total cool um, sag ich mal. Das gehört zur Realität dazu. Und wenn wir so: 'Oh Gott und hach!' - so gehen die damit gar nicht um."
Olga Beschlejs Text eröffnet den dekoder-Sammelband und erzählt von den turbulenten Gefühlen, Gedanken und Ereignissen, die der Anruf eines Geheimdienstmitarbeiters bei der Autorin auslöst. Die auch von deutschen Russlandjournalisten häufig behandelten Themen Geheimdienst und Pressefreiheit erscheinen hier in neuem, überraschendem Licht. Dieses Prinzip wiederholt sich bei vielen Texten. Die Themen sind bekannt: Korruption, Kirche, Geheimdienst, Donbas, Syrien, Putin. Der Blickwinkel aber ist anders. Noch wichtiger sind vielleicht die Texte, die wenig oder nichts mit Politik, Putin und Geheimdienst zu tun haben: darüber wie Russen Neujahr feiern, über russischen HipHop oder über die Wohnverhältnisse in russischen Städten. Eine andere Gruppe wirklich überraschender Texte behandelt politische Themen, stammt aber von Autoren, die den dominanten liberalen, Putin-kritischen Diskurs gewissermaßen transzendieren.
Buchcover: Tamina Kutscher, Friderike Meltendorf (Hrsg.): „dekoder: Russland entschlüsseln“
Buchcover: Tamina Kutscher, Friderike Meltendorf (Hrsg.): „dekoder: Russland entschlüsseln“ (Buchcover: Matthes & Seitz Verlag)
Wider die Putin-Fixierung
Nicht weil sie Putin rechtfertigen wollen, sondern weil sie verstanden haben, dass die erbarmungslose Fixierung der meisten westlichen Medien auf den dämonischen Intriganten Putin ein Fehler ist, der erstens nur Putin nutzt und zweitens den Blick auf die russischen Realitäten verstellt. Anschaulich wird das im besten Text des Sammelbandes. Darin erklärt die fabelhaft kluge und umtriebige Politologin Ekaterina Schulman, warum der russische Staat versucht den Russen einzureden, sie würden Stalin am liebsten wieder zum Leben erwecken. Sie zeigt aber auch, dass die russische Gesellschaft sehr viel resistenter gegen diese Versuche ist, als man in Deutschland gern annimmt.
Für die Zukunft von dekoder wünscht man sich als Leser, dass die Redaktion sich noch häufiger traut, eingefahrene Themen und Perspektiven zu ignorieren. Es wird Zeit, dass die Leser in Deutschland endlich wieder ein runderes Bild von Russland gewinnen. Eine weitere Aufgabe hat dekoder sich selbst gesucht. Tamina Kutscher:
"Seit Anfang November 2019 haben wir uns erweitert und machen das Gleiche auch in die andere Richtung, also wir übersetzen deutschsprachige Medien ins Russische, aber nach dem gleichen Prinzip: Wir übersetzen nicht nur sondern wir liefern viel Wissen und Kontext mit."
Das ist bitter nötig, wie jeder weiß, der gelegentlich einen Blick in russische Medien wirft. Die Vermittlung deutscher Realitäten nach Russland ist mindestens ebenso wichtig für ein vernünftiges Verhältnis, wie die Vermittlung von russischen Realitäten nach Deutschland. dekoder hat in nur vier Jahren bewiesen, dass beides möglich ist. Man kann nur hoffen, dass die Finanzierung der Plattform durch diverse Stiftungen stabil bleibt. Hier wird Bedeutsames geleistet.
"dekoder: Russland entschlüsseln", Bd. 1
hrsg. von Tamina Kutscher und Friederike Meltendorf
Matthes & Seitz, Berlin. 336 Seiten, 20 Euro.