Neonazi-Aussteiger Achim Schmid

Weg von diesem ganzen Hass

30:57 Minuten
Ein Mann steht mit Sonnenbrille und im Sakko auf einer Straße.
Garret Schmid auf der Beale Street in Memphis/Tennessee, wo der Ex-Neo-Nazi heute lebt. Die Beale Street ist für Blues- und Jazzfan aus aller Welt ein Magnet. © Deutschlandradio / Sabine Adler
Von Sabine Adler · 15.12.2019
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In seiner Jugend hasste Achim Schmid Migranten, Juden, Homosexuelle, Linke. Als der NSU aufflog, verließ er Deutschland und stieg aus der Szene aus. Seitdem versucht er in den USA als TM Garret, andere Neonazis zum Ausstieg zu bewegen.
Für Blues- und Soul-Fans aus aller Welt ist Memphis/Tennessee der Nabel der Welt, aus den vielen Clubs in der Beale Street ertönt Livemusik. TM Garret liebt die Atmosphäre, weil er selber Musiker war. In seinem früheren Leben hieß er Achim Schmid, besaß ein rechtes Plattenlabel, machte selbst Musik in Bands wie Wolfsrudel, Höllenhunde oder Celtic Moon.
Jetzt steuert der 43-Jährige auf eine Fotogalerie zu. Ausgestellt sind Arbeiten von Ernest Withers, dem persönlichen Fotografen von Martin Luther King, der die Ermordung des Bürgerrechtlers in Memphis mitansehen musste. Mit der Tochter des Fotografen, Rosalind, ist TM Garret heute befreundet. Der blonde Ex-Neonazi und die rund 60-jährige Afroamerikanerin fallen sich um den Hals.
Rosalind weiß, dass der untersetzte Deutsche schon als Kind mit Nazisprüchen provozierte, mit 15 Skinhead wurde, zwei Jahre später in die NPD eintrat, und im Alter von 25 den Klu Klux Klan in Deutschland gründete. Rosalind Withers kämpft bis heute gegen Rassendiskriminierung, an ihrer Seite steht dabei auch TM Garret, der frühere Rassist. Sie kennt das Video mit den brennenden Kreuzen und die Szene wie ihr heutiger Freund TM in weißer Kutte mit Zipfelmütze auf dem Kopf zum Grand Dragon geschlagen wurde.

Ein Ex-Klansmann kämpft gegen Rassendiskriminierung

"Das war quasi nach einer Kreuz-Verbrennungszeremonie, diese Klansmänner laufen drei Mal um das Kreuz herum, die halten dreimal an und schwingen die Fackeln – für Gott, für die Rasse, für das Land, für den Clan und White Power und diesen ganzen Kram. 15 Jahre konnte ich das nicht angucken. Ich wollte diesen Menschen nicht sehen, der ich mal war."
"Was TM über seine Geschichte erzählte, ging an den Kern seines Lebens. Das war sehr bewegend."
"Hatten Sie Angst?"
"Angst? Nein! Seine ganze Botschaft ist Wandel. Was einmal war, war falsch und jetzt geht es darum, es richtig zu machen. Mich berührt das sehr. Die afroamerikanische Kultur hat die Fähigkeit zu vergeben und man muss das tun. Wenn man sieht, dass jemand einen solchen Wandel geschafft hat, dann ist das zu begrüßen. Angst hat niemand vor ihm, denn man kann den Unterschied zu der Person von früher sehen und fühlen."

Aufmerksamkeit durch Nazi-Parolen

Im Jahr 2002 ist TM Garret aus der rechten Szene ausgestiegen. Zehn Jahre später zog er nach Memphis, in die Stadt am Mississippi, in der 70 Prozent Afroamerikaner leben. Da war er schon lange kein Neonazi mehr. Aufgewachsen als Achim Schmid in Mosbach bei Stuttgart war er seit seiner Jugend vor allem mit einem beschäftigt: Hass. Er hasste Migranten, Juden, Homosexuelle, Linke.
Die alkoholkranke alleinerziehende Mutter bemerkte nicht, wie begabt ihr Junge war, der sich mit fünf das Lesen beibrachte, in der Grundschule Comics zeichnete und Geschichten schrieb. Sie steckte ihn in Kleidung, über die die ganze Klasse lachte. Erst als er Nazi-Parolen schwang, bekam er die ungeteilte Aufmerksamkeit aller – vom Mitschüler bis zum Direktor. Rechte Musik mit deutschen Texten drückte aus, was er fühlte, er fand ein neues zu Hause, die Glatzen in der Skinheadszene wurden seine Familie. Vorübergehend. Wenn er jetzt Rosalind besucht, bringt er oft jemanden mit.
"Wir vermitteln Wissen anhand dieser Fotos, indem wir Leute, die Hass-Gruppen gerade verlassen haben oder das beabsichtigen, hierher bringen. Rosa unterstützt mich, das hier ist ein sicherer Hafen, ohne dass jemand be- oder verurteilt wird. Selbst wenn jemand noch vor zwei Monaten oder auch erst gestern eine weiße Kapuze über seinem Kopf hatte. Und dann sehen sie diese Fotos und merken, dass sie keine Ahnung hatten."
Die Fotogalerie in der Beale Street von Memphis hat einen riesigen Fundus von Anschauungsmaterial über die Unterdrückung von Afroamerikanern durch Weiße. Vor zwei Jahren gründete der Aussteiger TM Garret eine Organisation namens "Change", die Extremisten, die ihre Kreise verlassen wollen, einen Anlaufpunkt bietet. Denn nur Weggehen funktioniert nicht, wenn das Ziel nicht klar ist, an dem Aussteiger ankommen können.

Wann ist ein Ausstieg zuende?

"Zum Ausstieg gehört ja mehr als einfach nur aus der NPD ausgetreten oder aus der Skinhead-Gruppierung oder aus dem Ku Klux Klan. Es ist die Frage, wann ist ein Ausstieg komplett? Und ich glaube, ein Ausstieg ist dann komplett, wenn man den Hass abgelegt hat, die freiheitliche demokratische Grundordnung anerkennt als solche. Viele machen das nicht. Die steigen aus und es ist entweder nie passiert oder manche… Damals, in den 1990er-Jahren – wenn man ausgestiegen ist – man sagte nicht ausgestiegen. Man sagte: Die hören auf. Ex-Glatzen zum Beispiel, die hatten noch immer genau die gleiche Einstellung, die sind nur ins Familienleben und wollten einfach den Stress nicht mehr und das Saufen nicht mehr. Das ist für mich kein Ausstieg."
15 Jahre war Achim Schmidt ein Schwergewicht in der rechten Szene.
"Das war alles, was ich hatte. Es gab keine andere Musik. Man lebte so isoliert in seiner Blase. Man hat keine Hollywoodfilme mehr angeschaut. Man ist nicht mehr zu McDonald's gegangen, zum Dönerladen sowieso nicht. Am Ende hatte ich dann nicht mal mehr Sachen von Prochter und Gamble gekauft, weil man dann draufgeschaut hat, hat das jetzt Henkel produziert oder Procter und Gamble? Dass es jetzt kein Witz. Man versucht, nicht oft zum Arzt zu gehen, denn die sind ja auch kontrolliert. Diese New World Order Ärzte. Die pflanzen dir sonst ein Chip ein, dass du kontrolliert wirst.
Und dann dieser Hass. Man ist da morgens mit aufgestanden und man hat den Hass wieder mit ins Bett genommen. Und das war auch eine Paranoia. Die Paranoia, dass die Polizei morgens kommt und dir die Türe eintritt auf gut Deutsch. Und dass der Race War, der Rassenkrieg, anfängt. Oder dass die Juden die Weltherrschaft übernehmen. Man hatte vor allem Angst gehabt, auch vor Verrätern, vor allem das war so omnipräsent. Man konnte gar nicht glücklich sein mit all diesen negativen Gedanken. Das schürt natürlich den Hass noch mehr, logischerweise."
Wenn man dann aussteige, sei erst mal alles weg.
"Zum einen fällt einem eine Last von der Brust, weil man diesen Hass nicht mehr mit sich herumträgt, oder weil man diesen Druck nicht mehr mit sich herum trägt, hassen zu müssen. Das ist anstrengend. Man hat nämlich plötzlich eine Wahl und die hat man in dieser Szene nicht."

Die vielen Wandlungen des TM Garret

Zur Szene gehören auch rechte Frauen. Mit Yvonne hat er Kinder. Der Ausstieg zog die Trennung von der Familie nach sich. Als Ex-Neonazi machte er sich wenig Hoffnung, ein Sorgerechtsverfahren zu gewinnen. Inzwischen reden zwei der drei – nun erwachsenen – Kinder wieder mit ihm. TM Garret Schmid, wie er sich in den USA nennt, weil Amerikaner Achim nicht aussprechen können, TM machte mehrere Wandlungen durch. Er, der die englische Sprache liebt, nutzte seine guten Kenntnisse zunächst, um Pamphlete der rechtsextremen Netzwerke "Blood and Honour" oder "Combat 18" zu übersetzen, später, in seinem neuen Leben, begann er in Memphis, eine Sendung für Country Musik zu moderieren.
Ein Abend später erzählt er in Schulen, Universitäten, vor Staatsanwälten oder wie hier beim Interkulturellen Dialog in Memphis seine Geschichte. An diesem Abend vor nicht mal zehn Gästen wird er als ein Aktivist des Simon-Wiesenthal-Zentrums vorgestellt, der gegen Antisemitismus auftritt. Die Besucher erfahren, wie aus dem Kind mit der Hirnhautentzündung, die die rechte Gesichtshälfte lähmte, ein Junge wurde, der Judenwitze riss. Der schließlich dem Ku Klux Klan angehörte. Erst die Angst davor, dass sein nächster Schritt der letzte sein könnte, ließ ihn umdenken. Als er auf seinen eigentlichen Ausstieg zu sprechen kommt, wird sein Auge auf der rechten, gelähmten Gesichtshälfte ganz klein, wie so oft, wenn er angespannt ist.
"Es war, als stünde ich an der Tür und schaute in den nächsten Raum. Und da sah ich Terror. Und ich hatte meinen Fuß schon auf der Schwelle. Und ich wusste, dass wenn ich jetzt in diese Richtung weitergehe, ich entweder tot sein würde oder im Gefängnis lande."

Transformation mit Tätowierungen

Jack Flores ist TM Garrets Verbündeter im Kampf gegen die ungeliebte Vergangenheit. In einem Gewerbegebiet in Memphis weißt ein rotes Schild auf Jack Flores‘ Sickside-Tatoo-Studio hin. TM, dessen Arme über und über tätowiert sind, war Kunde von Jack. Bei ihm wollte er die alten Symbole loswerden: den Schriftzug Skinhead, das Keltische Kreuz und das Spinnnetz am linken Ellenbogen, das in den USA als Hinweis auf eine Haft verstanden wird. Weglasern, mit einem schwarzen Balken übermalen – egal, Hauptsache nicht mehr sichtbar. Jack schlug etwas anderes vor, erinnert sich TM:
"Wasser. Aufgewühlt, dunkel, das die alten Symbole schluckt und dagegen der Kontrast, die aufgehende Sonne, die dunkle Vergangenheit und die helle Zukunft. Das war wie eine Transformation und danach war ich frei."


Sie wurden Freunde. Der 60-jährige Apache-Indianer, der die Hälfte seines Lebens Tatoos sticht, als Künstler eigene Werke schafft, und der alte, die niemand mehr sehen soll, unter neuen verschwinden lassen kann. "Erasing the hate" wurde ihre Mission: Aussteigern helfen, auch diesen Teil ihrer Vergangenheit zu löschen.
TM Garret Schmid im Tattoo-Studio von Jack Flores in Memphis. Zwei Männer sitze in einem Raum und unterhalten sich.
TM Garret Schmid im Tattoo-Studio von seinem Freund Jack Flores in Memphis.© Deutschlandradio / Sabine Adler
"Wir machen das kostenlos, wir helfen Leuten, dieses hässliche Zeug zu beseitigen. Wir kennen das System, indem sie steckten. Es ist kein gutes, nichts, worin man aufwachsen sollte. Wir wissen, womit sie zu tun hatten, und wollen, dass sie ihren Kindern nichts erklären müssen. Das zu tun, fühlt sich für mich gut an."
Wer von Jack Flores ein Hakenkreuz oder Straßengang-Symbol tätowiert haben möchte, ist an der falschen Adresse, wer sie loswerden will, kann kommen. 150 Personen nahmen das Angebot bislang an, unter ihnen Ray Johnson. Der 42-Jährige ist ein Hüne von 1,90 Meter mit warmen braunen Augen, seit neun Jahren der Pastor der Spirit Church. Niemand würde in ihm ein ehemaliges Mitglied der äußerst gewaltbereiten Bloods-Straßengang vermuten. Ray streift den Ärmel seines T-Shirts hoch. Wo früher Doughboy stand, Geldjunge, Geldbeschaffer, erstreckt sich heute ein riesiges Tatoo über den massigen Oberarm, das bis in die Achsel gestochen wurde.
"Das tut weh, denn der Bereich ist empfindlich. Außerdem wurde viel mit Schatten gearbeitet, dafür wird nicht nur eine Nadel verwendet, sondern ein ganzes Bündel von Nadeln."

Ray fand Hilfe bei den Freimaurern

Wir fahren mit Ray in ein Frühstücksrestaurant. In TMs Auto erzählt der massige Afroamerikaner, wie er als 13-Jähriger gemobbt wurde, ähnlich wie TM, als er noch Achim hieß. Als Ray in den Sommerferien in die Höhe schoss, holten ihn seine ehemaligen Peiniger in ihre Gang. Er durchlief das Initiationsritual – kämpfen mit vermeintlichen Gang-Gegnern, bis Blut floss. Sie waren die Bloods, die Roten, ihre Rivalen die Blauen, die Crips. Ray trug in dieser Zeit deswegen kein blaues Kleidungsstück, denn das war die Farbe des Feinds. Im Namen von Bloods begann er mit Drogen zu dealen, sie zu konsumieren, Leute einzuschüchtern und zu schlagen. Ray wurde gefürchtet, war plötzlich wer. Bis es selbst ihm zu viel wurde.
"Ich bin in Schwierigkeiten geraten, nachdem wir uns mit unseren Rivalen eine Schießerei auf einem Parkplatz vor McDonald‘s geliefert haben. Dabei gingen viele Fensterscheiben zu Bruch. Ich war der einzige Volljährige und das Gericht wollte mich zu 22 Jahren Gefängnis verurteilen. Weil man aber nie die Waffe gefunden hat, das Beweisstück, wurde die Anklage fallengelassen. Aber als ich meiner Mutter im Gefängnis mit Fesseln entgegentrat, brach sie zusammen. Da wusste ich, dass ich dringend etwas ändern musste."
Anders Achim Schmid, alias TM Garret, wuchs Ray behütet auf, macht deswegen auch nicht die Umstände, sondern allein sich selbst für seine kriminelle Vergangenheit verantwortlich.
"Wenn du aussteigen willst, dann fließt wie beim Einstieg Blut oder du stirbst sogar. Aber ich bin zu den Freimaurern gegangen, die stehen über allem. Bist du bei ihnen, kann dir die Gang nichts mehr anhaben. Damit war der Wandel für mich möglich. Aber dieser Übergang hat zehn Jahre gedauert."


Schon Rays Vater gehörte den Freimaurern an. Die Organisation schützte ihn vor der Rache der Gang und so konnte Ray‘s Ausstieg gelingen. TM Garret musste zunächst allein klarkommen, erst später dockte er bei der deutschen Aussteigerorganisation Exit an. Da war er schon in den USA, verdiente sein Geld bereits als Pyrotechniker bei Sportveranstaltungen, die häufig als Show inszeniert werden. Ray und TM staunen bis heute, wie sie früher einmal waren. Zum Fürchten.
Ray Johnson. Ein Mann zeigt seinen tätowierten Arm.
Ray Johnson zeigt sein Tattoo: "Nur Gott kann mich richten."© Deutschlandradio / Sabine Adler
"Ich habe keine Angst vor ihm. Manchmal, wenn er vor anderen seine Geschichte erzählt, frage ich mich, ob er wirklich so einer war. Ich finde keinen Hinweis auf seine Vergangenheit in seiner Person heute. Als hätte man es mit zwei unterschiedlichen Leuten zu tun."
"Ich kann mir in Ray, den liebevollen Vater und meinen besten Freund, kein Gangmitglied vorstellen, der einen Ort zusammenschießt. Das ist verrückt."
"Er war nicht in einer rassistischen Vereinigung, ansonsten gibt es viele Ähnlichkeiten. Er ist nicht wiederzuerkennen und ich bin es wohl auch nicht."
TM Garret und Ray Johnson, der weiße Ex-Neonazi und der schwarze Kriminelle, verstehen sich heute als Ansprechpartner für Aussteiger. Sie wenden sich an weiße Rassisten und farbige Bandenmitglieder, die Hass und Gewalt abschwören wollen, wobei "Erasing the hate" – das Umtätowieren, am Ende steht.
"Wir arbeiten zusammen, treten zusammen mit unseren Geschichten auf, in New York und im ganzen Land. Wir wollen ein Vorbild für Personen sein, die vom Hass regiert werden. Wir helfen Aussteigern, geben ihnen Sicherheit auf ihrem Weg."

Der Rabbi glaubt dem Ex-Neonazi

Die Or Chadash Conservative Synagogue von Memphis kennen nur Eingeweihte. Die Synagoge befindet sich in einem Einfamilienhaus, das sich von anderen in der Siedlung nicht unterscheidet. Es ist Sonntag, ein strahlender Morgen. Unsere Ankunft wird per Überwachungskamera beobachtet. Rabbi David Julian öffnet die Tür bevor wir geklingelt haben, umarmt TM Garret, gibt dessen Frau Carmen und mir die Hand. TM schaut sich um im Gebetsraum, wo er zu Jom Kippur schon einmal saß, direkt vor dem Anschlag auf die Synagoge in Halle.
"Ich war am Abend vorher hier in der Synagoge und jemand fragte mich nach dem Antisemitismus in Deutschland. Ich war so stolz, als ich guten Gewissens glaubte sagen zu können, dass von Deutschen wohl nicht mehr viel Antisemitismus kommt. Und dass Deutschland viel unternommen hat, die Vergangenheit kritisch zu überdenken. Am nächsten Tag fühlte ich mich wie ein Lügner. Ich war stolz, dass ich in der Synagoge war, noch dazu am höchsten jüdischen Feiertag. Ich sah aus wie ein Jude, ich betete wie einer, ich wäre getötet worden."
Memphis ist bislang vom Terror verschont worden. Damit es so bleibt, engagiert sich David Julian im interreligiösen Dialog. Zusammen mit TM Garret, seinem Verbündeten. Der Rabbi nimmt ihm ab, dass er sich geändert hat.
"Ich vertraue Menschen, wenn ich das nicht täte, würde ich meine eigene Arbeit untergraben. Ich kann nicht in jedem Freund erst einmal einen Feind sehen, der sich nur noch nicht geoutet hat."


Rabbi David Julian führt uns vom Gebetsraum durch die Küche in ein Esszimmer. Dass hier an dem langen Tisch mal ein deutscher Ex-Neonazi sitzen würde, ist auch für den Rabbi ein besonderer Moment. Die Sonne fällt auf das bunte Wachstuch, er erinnert sich an eine deutsche Gruppe, die er 1970 in einem Kibbuz in Israel getroffen hat. Die jungen Leute halfen bei der Ernte, denn sie wollten es besser machen als ihre Eltern, die 1939 die Welt ins Unglück gestürzt hatten.
TM Garret mit Rabbi David Julian in der Synagogue von Memphis: "Er wartet nicht darauf, dass sich die nächste Generation für ihn entschuldigt, sondern er tut das selbst."
TM Garret mit Rabbi David Julian (l): "Er wartet nicht darauf, dass sich die nächste Generation für ihn entschuldigt, sondern er tut das selbst."© Deutschlandradio / Sabine Adler
"Wegen dieser Erfahrung war ich sehr offen für TM Garret. Er wartet nicht darauf, dass sich die nächste Generation für ihn entschuldigt, sondern er tut das selbst. Er hat den Ausstieg geschafft, nicht auf der dunklen Seite ausgeharrt, sondern ist ins Licht gekommen und hilft, es zu verbreiten."
Dass man in Deutschland Ex-Neonazis wie Achim Schmid alias TM Garret mit Misstrauen begegnet, findet der Rabbi falsch. Von TM Garret ginge heute ein sehr viel geringeres Risiko aus als von den vielen Rassisten in den USA.
"Wenn Sie Richtung Arkansas fahren, sehen sie die Werbung am Highway, die die nächsten Treffen des Ku Klux Klans offen ankündigen. TM Garret hat von denen vermutlich mehr zu befürchten, als wir von ihm."

Respekt für den Sünder

David Julian war in seinem ersten Leben Neurologe an der Universität von South Carolina. Irgendwann brachte er es nicht mehr fertig, für seine Forschung Labormäuse zu töten. Er beendete seine Karriere als Wissenschaftler. Weil auch er einen Neuanfang wagte, Rabbi wurde, beobachtet der Mann mit dem dunkel gefärbten Vollbart TM Garrets Wandel viel mehr mit Interesse, denn mit Vorbehalten.
"Ich überlege mir, ob ich einen diametral entgegengesetzten Weg gehen könnte, so wie er das getan hat. Ob ich die Kraft hätte? Erst zu einer Bewegung mit einer schrecklichen Vergangenheit zu gehören, sich dort aufgehoben zu fühlen und dann die intellektuelle, emotionale und spirituelle Kraft zu entwickeln, sich davon zu lösen. Wie macht man das? Ist das so, wie wenn man sich verliebt und dann entliebt? Das ist ein enorm komplexer Vorgang, bei dem so viele Gefühle und Bindungen aus- und angeschaltet werden müssen – wie ein Wasserhahn. Ich bin froh, dass wir ihn jetzt auf unserer Seite haben, dazu müssen wir jeden ermutigen."
"Das klingt, als würden Sie ihn bewundern?"
"Absolut, ohne Frage. In der jüdischen Kultur hat der reuige Sünder einen höheren Platz im Himmel. Anders als jemand, der nie einer Versuchung ausgesetzt war und somit ein perfektes Leben führen konnte. Wir wissen nicht, wie sich jemand entschieden hätte, dem sich eine Versuchung geboten hätte. Aber jemand, der ihr erlegen war und es danach eingesehen und sich umentschieden und korrigiert hat, verdient einen viel größeren Respekt."

Rabbi David Julian spricht seinem deutschen Mitstreiter den Wandel nicht ab, gibt aber zu, dass auch er zunächst vorsichtig war.
"Ich habe keinen Grund für Zweifel. Nichts zeigt mir, dass ich einen Fehler gemacht habe. Diese liebenswerte Frau hier, Carmen, ist Beweis genug dafür und weist in die richtige Richtung. Klar war auch ich anfangs skeptisch und deshalb rief ich meine Leute im Simon-Wiesenthal-Zentrum an, ob sie seine Vergangenheit auf dem Schirm hatten. Das war der Fall und damit schob ich alle Bedenken beiseite. Wenn sie, die in diesen Fragen sehr achtsam sind, ihm vertrauen, wie hätte ich es da nicht tun sollen."

Seine zweite Frau lernt er im Internet kennen

Carmen, die mit am Tisch sitzt, hält sich zurück, verfolgt das Gespräch aber aufmerksam. Die Mutter von zwei erwachsenen Kindern aus erster Ehe, bezeichnet TM als die Liebe ihres Lebens. Gefunden im Internet. Carmen kennt TMs Vergangenheit genau.
"Mich hat das nicht umgetrieben, denn ich wusste, dass er nicht mehr der Mann ist, der er mal war. Was früher war, der Wandel – das alles zusammen hat ihn zu dem gemacht, der er heute ist. Die Vergangenheit macht ihn heute nicht mehr aus. Sein altes Leben hat mit meinem Alltag heute nichts zu tun, deswegen denke ich darüber nicht nach."


Sie wollten sofort heirateten, ihre Eltern kannten seine Vorgeschichte nicht. Dass er aus Deutschland fortging, weil dort 2012 der NSU aufflog und Achim Schmid in den Fokus geriet. Denn seiner früheren Ku-Klux-Klan-Gruppe gehörte ein Polizist an, der zugleich ein Kollege der vom NSU erschossenen Polizistin Michele Kiesewetter war. Achim Schmid war 2007, als der Mord geschah, längst ausgestiegen. Doch jetzt, 2012, stand er in den Schlagzeilen. Geschäftspartner in der Versicherungsbranche wandten sich ab. Er wagte den Neuanfang in Memphis, doch auch dort holte ihn die Vergangenheit ein.
Carmen mit Ehemann TM. Eine Frau und ein Mann sitzen in einem Restaurant und schauen sich an.
Carmen mit Ehemann TM: "Die Liebe meines Lebens."© Deutschlandradio / Sabine Adler
"Das war schlimm, ich wurde geoutet und die Schwiegereltern wollten die Hochzeit absagen. Wir hatten unsere Eheschließung angekündigt und Carmens Ex-Mann wollte wissen, wer da bei seinen Kindern einzieht. Verständlich. Er fand einen Artikel aus der Bild-Zeitung über den Polizisten und mich. Carmens Eltern kannten den Artikel, allerdings in einer Google-Übersetzung, und wussten nicht, was ich mit allem zu tun hatte. Sie fragten mich, ob ich immer noch ein White Supremacist war, ein Rassist. Ich sagte nein. Der Schwiegervater gab uns schließlich seinen Segen und sagte: Wenn es drei Jahre gut geht, ist es gut. Jetzt ist es sieben Jahre her und er ist stolz auf das, was ich tue."
Carmen erfuhr TM Garrets Geschichte bei ihrer dritten Verabredung, als sie sich einander alles Wichtige ihres Vorlebens erzählten. Die 42-Jährige ist Assistenzlehrerin in einer Schule, eine in sich ruhende stille Frau, die nicht viele Worte macht. Ihre blauen Augen leuchten.
"Für mich fühlt sich das an, als wollte er Wiedergutmachung leisten für das Leben, das er vorher geführt hat. Ich bin einfach stolz auf ihn."

"Es wird wieder geschehen"

Zweimal kamen Beamte des Bundeskriminalamtes noch zum ihm in die USA. Im deutschen Konsulat in Atlanta vernahmen sie ihn als Zeugen, das letzte Mal vor drei Jahren. Achim Schmid, der heute TM Garret heißt, ist sich sicher, dass der rechte Terror nicht vorbei ist, nicht in den USA, nicht in Deutschland.
"Da draußen sind noch Leute, die sich radikalisieren werden, die etwas planen und töten werden. Die sind da draußen und es wird wieder geschehen."
TM will noch etwas sagen, wieder ist sein Auge auf der rechten gelähmten Gesichtshälfte ganz klein. Es dauere, bis man kein Rechter mehr sei. Sein Ausstieg liege 17 Jahre zurück. Die Gesellschaft müsse seinen Extremisten, weiß oder schwarz, rechts oder links, viel deutlicher zu verstehen geben, dass sie umkehren können. Bislang komme dieses Signal noch zu schwach. Ihm hat die Aussteigerorganisation Exit Deutschland geholfen, deswegen ist er heute ihr Botschafter.
"Jeder hat Zweifel, aber man lebt in einer Blase und schiebt sie weg. Aber sie wachsen, vom Hügel bis zum Berg. Manche nehmen sie mit ins Grab. Du hast keinen, mit dem du darüber sprechen kannst, denn wer will mit einem Neonazi, einem Klan-Mitglied sprechen? Das ist, als ob du im Treibsand steckst und deine Hand ausstreckst, damit dir jemand raushilft. Aber alles, was du siehst, sind Finger, die auf dich zeigen. Und so bleibst du dort. Eine Reihe von Leuten hätten die rechte Szene bis heute nicht verlassen, wenn es nicht jemanden gegeben hätte, der ihnen eine Chance gab."
Als sich David Julian und TM Garret vor der Synagoge verabschieden, vereinbaren sie ein Wiedersehen. Der Rabbi lädt den Ex-Neonazi für die kommende Woche ein, dieses Mal für Freitag zum Schabbat.
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