Neapel als Lebensgefühl

Von Maike Albath · 07.07.2005
Valeria Parrella ist Neapolitanerin, und Neapel steckt in diesem Erzählungsband in jeder der sechs Geschichten. Die Hitze, das Licht, der Krach, der Schmutz, das Meer, der Dialekt, der Aberglaube und die Camorra. Das Buch vermittelt mehr als ein Porträt dieser Stadt - ein Lebensgefühl.
Die Helden ihrer sechs Erzählungen in dem Band "Die Signora, die ich werden wollte" tragen dieses Neapel in sich wie ein Vermächtnis: Auch wenn sie fortgehen, entkommen sie ihrer Stadt nicht. Dabei können sie nicht einmal sagen, worin das Geheimnis besteht - vielleicht in einem archaischen Überlebenswillen, in der sprichwörtlichen arte dell'arrangiarsi. Denn eines ist den Männern und Frauen der Geschichten gemeinsam: Am Ende schlagen sie dem Schicksal ein Schnippchen.

In der Titelgeschichte zum Beispiel ergreift ein Mädchen aus dem spanischen Viertel, wo die Camorra den Alltag bestimmt, das Wort. Sie dreht den Spieß einfach um und nutzt den kruden Darwinismus der Straße für ihre eigenen Pläne. Ihr Modell sind die Mütter gewisser Gymnasiastinnen, die ehrerbietig mit "Signora" angesprochen werden, nicht mit Spitznamen oder der verstümmelten, volkstümlichen Variante "Signò". Also sucht sich die Fünfzehnjährige mit der rasanten Figur im richtigen Moment den richtigen Liebhaber, lässt sich mit einer Mischung aus Instinkt, Stolz und ruppigem Beharrungsvermögen erst eine Wohnung kaufen und dann eine Boutique, bis sie eines Tages auch noch den richtigen Mann heiratet und prompt mit "Signora" tituliert wird. Der soziale Aufstieg lagert sich in der Sprache ab: Unter der Oberfläche des mühsam antrainierten Italienisch schimmert immer noch die Diktion der Straßengöre durch.

In der Erzählung "Woran ich mich nicht mehr erinnere" schildert eine junge Frau, wie ihre rationalistischen Eltern ihr jegliche Bindung an den neapolitanischen Obskurantismus austreiben wollen und genau das Gegenteil erreichen. Obwohl sie mit der Tochter nach London ziehen, sie dort auf die Law School schicken und ihr einen angemessenen Verlobten zuschanzen, bleibt Neapels Anziehungskraft ungebrochen. Seit jeher weiß man dort die Zeichen zu deuten: alte Nachbarinnen prophezeien Erdbeben, Hausmeisterinnen oder Verkäuferinnen wissen Ratschläge gegen weibliches Unwohlsein oder Pech in der Liebe, und am Ende verlobt sich die Heldin trotz ihrer englischen Erziehung mit einem Lederjacken-Exporteur und fegt mit der Vespa durch die Gassen.

Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Hochkultur und regionaler Verankerung hat seit jeher die Vitalität der italienischen Literatur ausgemacht. Dass aus diesen Reibungen immer noch Funken geschlagen werden können, ist im Zeitalter der Kultur-Globalisierung eine Überraschung, aber die 1974 geborene Valeria Parrella bringt genau das fertig. Sie fängt die Widerständigkeit eines Menschenschlags ein. So überlässt sich ein nachdenklicher junger Mann nach einer Prüfung dem Rhythmus der Stadt und fährt stundenlang U-Bahn. Eine 40-jährige Familienmutter auf dem Sprung zum Ehebruch kultiviert die Manie, alles um sich herum zu zählen, Treppenstufen, Kacheln oder Fenster, um sich eine private Symmetrie zu erschaffen. Die Erzählungen haben keine banale Klipp-Klapp-Ästhetik mit einer Pointe am Schluss, sondern enden häufig mit einem Auftakt, einer neuen Frage. Dazu passt die Allgegenwart der Camorra - sie ist nichts Glamouröses, sondern einfach Teil der Wirklichkeit. Eine Aushilfslehrerin muss Kinder unterrichten, für die niedergeschossene Jugendliche zur Normalität gehören, eine Stadtplanerin erlebt, wie eine Finanzblockade alle Sanierungspläne zunichte macht.

Einen Großteil ihrer Wirkung beziehen Valeria Parrellas Erzählungen aus ihrer Sprache: Es ist eine schnelle, gierige Sprache, manchmal abgehackt, voller Doppelpunkte, durchsetzt von Ping-Pong-Dialogen und unvollständigen Sätzen, dann wieder umständlich mit Resten barocker Ausdrucksweisen, wie sie für den wohl erzogenen Neapolitaner typisch sind. Die regionalen Eigenheiten gehen in der Übersetzung zwangsläufig verloren, und Constanze Neumann begeht nicht den Fehler, auf einen deutschen Dialekt zurückzugreifen. Stattdessen lässt sie mitunter neapolitanische Einsprengsel stehen und fügt die Übersetzung an, was zumindest einen Eindruck von dem theatralischen Talent der Figuren vermittelt. Umso merkwürdiger mutet an, dass ausgerechnet in der Geschichte "Fliege plus Walfisch", deren Rhythmus durch die Liedzeilen des neapolitanischen Sängers Enzo Avitabile skandiert wird, die als Motti eingefügten Songtexte kommentarlos wegfallen. Dadurch verliert die Erzählung, in der ein Typ aus einem Plattenladen auf einem Konzert eine Eroberungsaktion startet, ihren groovigen Rhythmus. Mitunter hätte eine weniger brave Glättung der Syntax vielleicht geholfen, den schnoddrigen Tonfall der Autorin auch im Deutschen einzufangen. Parrella auf deutsch: das müsste klingen wie eine Mischung aus Zaimoglu und Katja Lange-Müller, mit mehr Tempo, mehr Energie in den Sätzen. Denn Neapel ist etwas, das bis in die Sprache hineinragt.


Valeria Parrella, Die Signora, die ich werden wollte. Erzählungen. Aus dem Italienischen von Constanze Neumann. SchirmerGraf München 2005. 178 Seiten.