Nawalny und Assange

Die Doppelmoral muss ein Ende haben

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Im Bild sind Eindrücke vom Protest für die Freilassung Julian Assange Gründer WikiLeaks, Journalist auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor zu sehen.
Protestaktion für die Freilassung von Julian Assange in Berlin: Die Medien in der westlichen Welt bleiben merkwürdig still, kritisiert Michael Lüders. © imago images / Christian Spicker
Ein Standpunkt von Michael Lüders · 10.03.2021
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Laute Empörung im Westen über die Verfolgung von Alexej Nawalny in Russland: Allerdings vermisst Michael Lüders eine ähnliche Haltung im Fall des Whistleblowers Julian Assange. Denn auch hier werde vor aller Welt Recht gebeugt, so der Publizist.
Politik wie auch Medien verfahren sehr unterschiedlich mit zwei Dissidenten, die beide staatlicher Verfolgung ausgesetzt sind: Alexej Nawalny und Julian Assange. Seit dem Mordanschlag auf Nawalny im August vorigen Jahres ist der Name des "Kremlkritikers" nicht allein in Deutschland fast zu einem Markenzeichen geworden.
Er steht sinnbildlich für die von Elitenvertretern forcierte Wahrnehmung Russlands als ein "Schurkenstaat", mit dem die Beziehungen - wo immer möglich - zurückzufahren seien. Dementsprechend diente der Fall Nawalny monatelang als Argument, um den Bau der ungeliebten Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 doch noch zu verhindern – ohne Erfolg.

Hinter der Russlandkritik steckt Geopolitik

Dergleichen Engagement ist ganz im Sinne Washingtons.
Dort sähe man es lieber, würden Deutsche und Europäer anstelle des deutlich billigeren Erdgases aus Russland überteuertes US-Frackinggas einkaufen. Die Inhaftierung und Verurteilung Nawalnys in Moskau nach seiner Rückkehr aus Deutschland wurde erneut zum politischen und medialen Fanal.
Dahinter steckt Geopolitik. Russland ist, ebenso wie China, der entscheidende Widersacher westlicher Macht- und Ordnungsansprüche. Diese Ansprüche werden selten offen benannt, vielmehr verlagert auf die Ebene moralisierender Selbstwahrnehmung.
Wir sind die Guten, denn wir stehen für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Und wir dürfen nicht zulassen, dass diese Werte von Despoten und Diktatoren bedroht werden. So gesehen wird der Fall Nawalny durchaus instrumentalisiert – um den Oberschurken Putin wieder und wieder an den Pranger zu stellen.

Umgang mit Assange ist auch nicht rechtsstaatlich

Dabei geht es weniger um "westliche Werte" als vielmehr um Feindbilder. Wie ließe sich denn ohne Feindbilder der offensive Anspruch der NATO auf Präsenz selbst noch im Indopazifik oder in der Arktis rechtfertigen?
Gewiss ist der Umgang der russischen Justiz mit Nawalny alles andere als rechtsstaatlich. Doch gilt das, unter anderen Vorzeichen, nicht ebenso für Julian Assange? Ist denn der Umgang der britischen, der schwedischen und der US-Justiz mit dem Whistleblower tatsächlich "rechtsstaatlicher" als jener der russischen Justiz mit Nawalny?
Neun Jahre lang hat die schwedische Justiz Assange mit Vergewaltigungsvorwürfen verfolgt. Am Ende wurde das Verfahren eingestellt, um dessentwillen Assange in die Botschaft Ecuadors in London geflüchtet war – aus Angst vor seiner Auslieferung erst nach Schweden und dann in die USA.
Zwar hat ein britisches Gericht im Januar entschieden, dass Assange vorerst nicht dorthin ausgeliefert werden dürfe. Die britische Richterin hält das Risiko eines Suizids für zu groß, sollte Assange ausgeliefert werden.

Abschreckung für künftige Whistleblower

Assange und Wikileaks haben amerikanische Kriegsgräuel vor allem in Afghanistan und im Irak öffentlich gemacht. Damit hat der Australier die Machteliten in den USA offen herausgefordert. Einzig und allein deswegen sitzt er nunmehr in einem Hochsicherheitsgefängnis in London ein, in Isolationshaft. Nicht zuletzt als Drohung, als Abschreckung für künftige Whistleblower.
Gleichzeitig ist nicht ein einziger der für die Mordtaten verantwortlichen US-Militärs, nicht ein einziger ihrer politischen Hintermänner je angeklagt worden.
Im Falle seiner Auslieferung in die USA drohen Assange dort weiterhin 175 Jahre Gefängnis. Das ist deutlich mehr als jene zweieinhalb Jahre, zu denen Nawalny verurteilt worden ist. Doch denselben Politikern und Meinungsmachern, die im Fall Nawalny so überaus wortgewaltig Anklage führten und führen, scheint es im Fall Assange die Sprache verschlagen zu haben.

Vor aller Welt wird Recht gebeugt

Auch die Medien in der westlichen Welt bleiben merkwürdig still, obwohl das Recht im Fall Assange vor aller Welt gebeugt wird. Wer mag auch seine Karriere gefährden durch allzu deutliche Worte gegenüber dem großen Bruder in Washington?
Westliche Werte sind wohlfeil, solange sie nichts kosten. Assange aber läuft Gefahr, auf dem Altar bestehender Eigeninteressen geopfert zu werden. Und koste ihn das auch sein Leben. Das muss ein Ende haben.

Michael Lüders lebt als Publizist in Berlin. Er hat viele Jahre im Nahen Osten gelebt und war Nahostkorrespondent der Wochenzeitung "Die Zeit" in Kairo. Der Politik- und Islamwissenschaftler hatte eine Gastprofessur an der Universität Trier und ist Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft. Sein neues Buch "Die scheinheilige Supermacht: Warum wir aus dem Schatten der USA heraustreten müssen" erscheint am 18.03.21 bei C.H. Beck.

© Imago/Gerhard Leber
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