Nationaltheater Mannheim

Kurze Ausbrüche aus vorgezeichneten Lebensbahnen

Die Schauspieler Reinhard Mahlberg (l-r), Anke Schubert und Boris Koneczny bei Proben für Roland Schimmelpfennigs Stück "Das schwarze Wasser" im Nationaltheater in Mannheim.
Die Schauspieler Reinhard Mahlberg (l-r), Anke Schubert und Boris Koneczny bei Proben für Roland Schimmelpfennigs Stück "Das schwarze Wasser", inszeniert von Burkhard C. Kosminski im Nationaltheater in Mannheim. © picture alliance / dpa / Florian Merdes
Von Elske Brault · 10.01.2015
Zehn Jugendliche, je fünf aus einem Villen- und Einwandererviertel, treffen sich in Roland Schimmelpfennigs "Das schwarze Wasser" zu einem Schwimmbad-Einbruch in einer lauen Sommernacht. Was aus ihnen geworden ist, erzählt dieses romantische Kammerspiel.
In Mannheim demonstrieren sie wie in anderen Städten Europas: "Je suis Charlie". Am Tag der Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs neuestem Stück begehen Christen, Muslime und Juden einen gemeinsamen Gottesdienst im Gedenken an die Opfer des Anschlags von Paris.
Auf der Bühne des Nationaltheaters treffen in einer warmen Sommernacht fünf Jugendliche aus dem Villen- und fünf aus dem sozial schwachen Viertel aufeinander, am Rande eines Schwimmbades. Sie sind, für eine Nacht, sisters and brothers in crime: Verbotener Weise über den Zaun des Freibadgeländes geklettert. Der Nachtwächter lässt sie gewähren, weil er sich daran erinnert, dass er selbst einmal jung war, weil er es gern wieder wäre. Gastarbeiterkind Leyla und Ministersohn Frank verlieben sich ineinander. Alles ist gut. Wenigstens in dieser einen Nacht.
20 Jahre später: Frank steht kurz vor der Vereidigung zum Minister, er ist in die Fußstapfen seines Vaters getreten und wie dieser gefangen in Konventionen und einer lieblosen Ehe. Auf der Straße, im Regen, stößt er mit einer Frau zusammen: Leyla, vor 20 Jahren für kurze Zeit seine Freundin. Leyla, Kassiererin im Supermarkt, in dem Franks Frau immer einkauft. Leyla, die immer noch in der gleichen Wohnung wohnt wie damals, als Frank den höflichen Antrittsbesuch bei ihren Eltern absolvierte, Vater Gebetsmütze, Mutter Kopftuch. Sie wird ihm den Liebesbrief zurückgeben, den er ihr damals geschrieben hat.
Störende Erinnerungen verdrängen
Roland Schimmelpfennigs "Das schwarze Wasser" bezieht seinen Reiz aus der auf der Bühne hergestellten Gleichzeitigkeit der beiden Zeitebenen. Ständig heißt es "Leyla, die er 20 Jahre später wiedertreffen wird an einem verregneten Novembertag", "Cynthia, die sich nicht erinnert an jene Nacht vor 20 Jahren, die Karim nicht wiedererkennt". Denn auch für Franks Frau Cynthia war es eine Liebesnacht, sie hat den Sex mit dem muskulösen, männlichen Karim genossen. Und nun, 20 Jahre später, sitzt sie ihm, dem Familienvater, als Schuldirektorin gegenüber, und er lächelt, weil sie für ihn angesichts der Erinnerung an jene Nacht nicht gar so Respekt gebietend wirkt, sie hingegen erinnert sich nicht, weil sie zu jenen Menschen gehört, die das Selbstbild störende Erinnerungen mechanisch verdrängen.
"Das schwarze Wasser" ist natürlich auch jene dunkle Welle von Gefühlen, auf denen unsere Persönlichkeit treibt, und Schimmelpfennig führt in seinem Stück nicht nur unterschiedliche Lebenswege vor, sondern auch verschiedene Arten, mit den eigenen Gefühlen, mit Erfahrungen und Erinnerungen umzugehen.
Das gewaltige Personal des Stücks, allein schon die Jugendlichen, gedoppelt als arrivierte Erwachsene, ergeben 20 Personen, Elternpaare kommen hinzu; dieses Figurenensemble verteilt Regisseur Burkhard C. Kosminski auf nur sechs Schauspieler, zwei sehr junge und vier jenseits der 40. Im Perücke-Aufsetzen oder Bart-Anklemmen verwandeln sie sich vom Nachtwächter zum Anwalt, vom gebetsfreudigen türkischen Familienvater zum dicklichen jungen Alleinerben einer Fleischfabrik, von der orientalischen Exotin mit wallenden Locken zur streng blickenden Ministergattin.
Einfache Bilder, wirkungsvolle Metaphern
So konterkariert die Inszenierung die Handlung des Stücks: Auf der Bühne ist alles möglich, werden die Alten wieder jung, kann jeder in jede Rolle schlüpfen. Im vorgespielten Leben hingegen stecken die Figuren fest, bleiben die Jugendlichen aus dem Einwandererviertel unten und die Söhne und Töchter aus gutem Hause machen die vorgeschriebene Karriere. Glücklich wird keiner dabei. Und die Bühnenrückwand aus schwarzem Wellblech schiebt sich im Laufe des Abends immer weiter vor, begrenzt den Spielraum, bis am Ende nur ein schmaler Streifen übrig bleibt.
Auch bei seinem zweiten Treffen mit Leyla 20 Jahre später wird Frank klatschnass, als er in ihrer Wohnung das Foto von sich als jungem Mann sieht, bekommt er Nasenbluten. Doch es ist zu spät, und er kommt zu spät zur Geburtstagsfeier seines Vaters. Kein kompletter Ausbruch wie 20 Jahre zuvor, nur ein winziges Aufbegehren gegen die ihm vorgeschriebene, bereits zur Gewohnheit gewordene Lebensbahn.
Roland Schimmelpfennig verlässt sich auf einfache Bilder, auf die Wirkkraft von Metaphern wie "sich nass machen", "sich eine blutige Nase holen", "zu spät kommen". Er baut die Sätzchen zu Wiederholungsschleifen, zu wechselnden Szenen zusammen wie musikalische Variationen über ein Thema. Das ergibt keine wortgewaltige Tragödie à la Wagner-Oper, sondern ein romantisches Kammerspiel, durchzogen von leiser Melancholie.
Für die große Bühne des Mannheimer Nationaltheaters hat Regisseur Kosminski dieses Stück abstrakt inszeniert als einen Zusammenklang verschiedenster Stimmen: mal in gebrochenem Deutsch, mal besoffen lallend verkünden die Protagonisten deutsche Weisheiten wie "Bildung ist alles". Wer dem dramatischen Scheitern der Lebenschancen über anderthalb Stunden zusieht, kann nur zu dem Schluss kommen: Sie muss auch ernsthaft allen zugänglich gemacht werden.
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