Nationalpreis für Neil MacGregor

Der Deutschland-Versteher

Neil MacGregor, Direktor des British Museum, ist mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet worden.
Neil MacGregor, Direktor des British Museum, ist mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet worden. © afp / John MacDougall
Von Christiane Habermalz · 16.06.2015
Der Direktor des British Museum, Neil MacGregor, ist in Berlin mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet worden. Er habe mit seiner Ausstellung "Germany – Memories of a Nation" das Deutschlandbild der Briten entscheidend verändert, findet die Jury. Er habe die Deutschen für seine Landsleute "entziffern" wollen, sagte MacGregor in seiner Dankesrede.
Bei der Verleihung des Deutschen Nationalpreises geht es schon gern mal etwas schwülstig zu. Schließlich werden mit dem Preis Verdienste um die "moralische, rechtliche, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Einheit und die Identität der deutschen Nation" geehrt. Gott sei es gedankt, dass der diesjährige Preisträger Neil MacGregor heißt. Er brauchte nur ein paar Worte, um das nationale Pathos, nun, etwas abzuschwächen.
Neil MacGregor: "Es ist für mich eine Freude und sehr große Ehre, heute als Träger des Nationalpreises 2015 heute vor Ihnen zu stehen. Ich habe nie im meinem Leben ein besseres, ein größeres Geburtstagsgeschenk bekommen."
Die Deutschen für die Briten "entziffert"
69 Jahre alt ist er heute geworden, der Schotte und Noch-Direktor des British Museum in London. Die hohe Auszeichnung erhielt er, weil er sich, so die offizielle Begründung, dafür eingesetzt habe, das "seit 70 Jahren eingefrorene Deutschlandbild in Großbritannien zu differenzieren und den Blick auf 600 Jahre deutsche Geschichte in ihrer Gesamtheit" zu lenken - mit der Ausstellung "Germany, Memories of a Nation" und der 30-teiligen gleichnamigen BBC-Serie, die parallel ausgestrahlt wurde. Er habe den nächsten europäischen Nachbarn, die Deutschen, für die Briten "entziffern" wollen, sagte MacGregor in seiner Dankesrede.
"Der Zweck des British Museums war von Anfang an, den Bürgern eine neue Vision, eine zeitgemäße Lektüre der Welt zu bieten, das heißt, jene Geschichten zu erzählen, die wir alle brauchen, um unsere heutige Welt besser zu verstehen. Das haben wir mit unserer Ausstellung und unseren Radiosendungen versucht, die mehr als 100.000 Besucher, die mehr als 4 Millionen Zuhörer und die mehr als 6 Millionen Downloads lassen glauben, dass die Öffentlichkeit in aller Welt solche neuen Lektüren gern aussucht."
In der Tat war es eine mutige und unkonventionelle Entscheidung, ausgerechnet im British Museum eine Ausstellung den Deutschen zu widmen: Anhand von 200 deutschen Kulturobjekten – von der Gutenberg-Bibel bis zum schwebenden Engel von Ernst Barlach aus dem Güstrower Dom - zeigte MacGregor im vergangenen Jahr seinen staunenden Landsleuten eine ihnen bis dahin kaum bekannte Seite der Deutschen: Ihre Erinnerungen, Gefühle, Identitäten.
"Er muss ein wahrer Deutschlandliebhaber sein"
Für Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die die Laudatio hielt, liegt schon in der Bereitschaft, sich so intensiv mit den Deutschen zu befassen, eine Großtat.
"Es kann jedenfalls zuweilen recht anstrengend sein, Zeit mit uns zu verbringen. Wer sich da als Nicht-Deutscher aufmacht, 600 Jahre deutsche Geschichte zu durchstreifen und seinen Landsleuten anhand von 200 Objekten der Kulturgeschichte die deutsche Seele nahezubringen, der muss schon mehr sein als ein Deutschlandversteher, der muss ein wahrer Deutschlandliebhaber sein."
Noch nach dem Ersten Weltkrieg hätten sich die Briten mit den Deutschen, "our German Cousins", eng verbunden gefühlt, erzählt MacGregor. Man habe die Deutschen immer als verwandtes, als Volk der Dichter und Denker, Komponisten und Wissenschaftler gesehen.
"Das alles ist während der Jahre 1933 bis 1945 verloren gegangen, ist tragischerweise verdorben, vergiftet, vergessen worden. Aus der ganzen Geschichte Deutschlands blieben für die Briten nur die Erinnerung dieser zwölf finsteren Jahre. Und nur diese Periode deutscher Geschichte wird jetzt in unseren Schulen studiert."
Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls habe er den Briten eine vielschichtigere Version Deutschlands zeigen wollen. Manche Aspekte der deutschen Geschichte seien für ein Inselvolk wie die Briten fremd, etwa die Tatsache, dass Deutschland seine Identität nicht aus festen Grenzen herleiten konnte.
Vertreibungsgeschichte rührt die Briten
Und auch die Vertreibungsgeschichte der Deutschen sei vielen Briten nicht bewusst gewesen – vielleicht, weil man nach dem Krieg zu sehr mit dem Vertreibungsschicksal in Indien und Pakistan beschäftigt war. Der ausgestellte Handwagen einer Flüchtlingsfamilie aus Ostpommern, mit dem diese ihr gesamtes Hab und Gut nach Westen transportiert hatte, habe viele Besucher überrascht und tiefstes Mitgefühl erregt.
"Dieser Handwagen, und das wissen wir aus vielen Berichten, hat das frühere Deutschlandbild vertieft und nuanciert. Hat ihm eine bisher unbekannte, rein menschliche Dimension gegeben."
Am Ende ist es der fremde und zugleich nahe Blick MacGregors, der nicht nur den Briten, sondern auch uns Deutschen Neues über uns selbst erzählt über eine Nation, die neben 200 verschiedenen Währungen in Zeiten größter Kleinstaaterei auch 1200 regionale Würstchensorten hervorgebracht hat. MacGregor, der germanophile schottische Aufklärer, sieht darin nicht nur merkwürdige deutsche Eigenart, sondern auch die Vorbedingung für intellektuelle Freiheit.
Ab Oktober übernimmt MacGregor das Amt eines Gründungsintendanten für das Humboldtforum, um dort nicht nur die Geschichte der Deutschen, sondern gleich die der ganzen Welt zu erzählen.
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