Natascha Wodin: "Nastjas Tränen"

Reise durch die ukrainische Geschichte

10:31 Minuten
Die Autorin Natascha Wodin trägt auf dem Foto rot-violette Haare und Brille. Sie hat ein dunkles Oberteil an und trägt draüber eine weinrote Strickjacke. Im unscharfen Hintergrund ist Publikum zu sehen.
Natascha Wodin auf der Buchmesse in Leipzig: 2017 wurde sie für ihr Buch "Sie kam aus Mariupol" ausgezeichnet. © picture alliance / dpa-Zentralbild / Jan Woitas
Natascha Wodin im Gespräch mit Frank Meyer · 19.08.2021
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"Nastjas Tränen" heißt der neue Roman von Natascha Wodin. Vorbild für ihre Protagonistin ist Wodins Haushaltshilfe, in der die Autorin Züge der eigenen Mutter wiedererkennt. Nastja weint nicht oft - dann aber an einer entscheidenden Stelle.
"Nastjas Tränen" heißt der neue Roman von Natascha Wodin. Das Vorbild für die literarische Figur ist Natascha Wodins Putzfrau. Als sie selbst nach Berlin gekommen sei, berichtet Wodin, habe sie Hilfe gebraucht und deswegen eine Zugehfrau gesucht: "Und das war dann Nastja, zufällig eine Ukrainerin, wie meine Mutter."

Studium, Arbeit, Familie, Hunger

Wodins Mutter, über die sie das Buch "Sie kam aus Mariupol" geschrieben hat, wurde von den Nazis als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt, hier blieb sie auch nach Kriegsende. Nastja kam rund 50 Jahre später nach Deutschland.
Das Buch ist eine Reise durch die ukrainische und teils auch sowjetische Geschichte. Wodin zeichnet das Leben ihrer Protagonistin Nastja nach: In den 1940er-Jahren geboren, erlebt sie als Kind noch den Krieg.
Sie studiert, wird Tiefbauingenieurin, hat eine kleine Familie, lebt in Kiew. Dann bricht alles zusammen, sie verliert ihre Arbeit, leidet Hunger. In den frühen 1990er-Jahren geht sie nach Deutschland, um dort als Putzfrau zu arbeiten.
Die Tränen schießen ihr in die Augen, als die Ich-Erzählerin ihr eine Freude machen will und eine Platte mit ukrainischen Volksliedern auflegt. "Ich denke, sie hat sich in Deutschland sehr einsam gefühlt", sagt Wodin.

Das Heimweh der Mutter wiedererkannt

Es sei sehr typisch für Menschen aus Osteuropa, tief in ihrer Heimat verwurzelt zu sein: "Sie hatte starkes Heimweh, und das hat sie die ganze Zeit beherrscht, glaube ich; sie hat einfach gearbeitet, hat die Zähne zusammengebissen – und als sie dann diese Musik hörte, da brach es aus ihrer heraus."
Im Buch heißt es dann: "Schlagartig erkannte ich in ihren Tränen das Heimweh meiner Mutter wieder. Dieses grenzenlose, unheilbare Gefühl, dass das Rätsel meiner Kindheit gewesen war."
In ihrer Kindheit seien die Tränen der Mutter sehr prägend gewesen, berichtet die inzwischen 75 Jahre alte Wodin. "Das wusste ich schon sehr früh, dass ich meine Mutter verlieren werde."

Die Angst vor dem Staat

Nastja, die in einem Unrechtsstaat gelebt hat, hat auch panische Angst vor Behörden, vor der Justiz, vor dem Staat. "Das wird sie nicht los, das sind auch meine Eltern nie losgeworden", sagt Wodin. "Daran erinnere ich mich genau, das war das ständige Gespenst: der Staat. Diese Angst vor der Willkür."
Das sei aber nichts spezifisch Slawisches, erklärt Wodin: "Ich denke, das ist allen Menschen eingeprägt, die ihr Leben in einer Diktatur gelebt haben. Das lässt sich nicht abstellen, dadurch, dass man in ein anderes Land kommt, wo ganz andere Lebensbedingungen herrschen."
(mfu)

Natascha Wodin: "Nastjas Tränen"
Rowohlt, Hamburg 2021
189 Seiten, 22 Euro

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