Freitag, 19. April 2024

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Politische Theologie
Wecker: "Revolutionen kommen von links, der Putsch kommt von rechts"

Zu den Politischen Nachtgebeten von Dorothee Sölle kamen Ende der 1960er-Jahre Tausende. Die Theologin verband Mystik mit politischer Aktion. Ein neues Buch mit dem Titel "Liturgie von links" erinnert an diese bewegte Zeit. Und heute? Eine Dorothee Sölle fehle mit ihrer Mischung aus Mystik und Widerstand in der Flüchtlingsdebatte, sagt der Liedermacher Konstantin Wecker. Buchautor Anselm Weyer hält dagegen: Es sieht viel Gesinnung, aber wenig Gestaltungswillen.

Konstantin Wecker und Anselm Weyer im Gespräch mit Christiane Florin | 06.07.2016
    Der Münchner Liedermacher Konstantin Wecker.
    Der Münchner Liedermacher Konstantin Wecker. (picture alliance / dpa / Patrick Seeger)
    Christiane Florin: Mit der Berufsbezeichnung "evangelische Theologin" ist Dorothee Sölle nur unzulänglich beschrieben. Sie hat Legendenstatus, und das vor allem wegen der Politischen Nachtgebete. Mitte der 60er-Jahre traf sich in Köln eine Gruppe katholischer und evangelischer Christen, darunter Dorothee Sölle. Sie wollten anders Gottesdienst feiern: politischer, gegenwärtiger, kritischer. Wenn Dorothee Sölle in der Kölner Antoniterkirche über Krieg, Armut und Auschwitz sprach, kamen Tausende. Die Leitungen beider Kirchen warnten vor den "Irrlehren", doch die Politischen Nachtgebete wurden 1968 Kult, weit über Köln hinaus, vor allem auf Evangelischen Kirchentagen. Heute sind die Nachtgebete Geschichte. Dorothee Sölle starb 2003. Vor wenigen Wochen wurde ein Platz in ihrer Heimat Köln nach ihr benannt, gerade ist ein neues Buch über sie erschienen.
    Sind die Poltischen Nachtgebete nur Stoff für nostalgische Rückblicke auf bewegte Zeiten? Was bleibt von Ihnen? Was kommt wieder? Darüber möchte ich heute mit zwei Gästen sprechen. Der eine ist Anselm Weyer. Er ist Journalist und hat gerade das besagte Buch mit dem Titel "Liturgie von links" über die Politischen Nachtgebete in Köln veröffentlicht.
    Von München aus zugeschaltet ist uns der Liedermacher Konstantin Wecker. In seinem Konzertprogramm und in seinem aktuellen Buch zur Flüchtlingspolitik zitiert er Dorothee Sölle. Herr Wecker, "Ja, wir brauchen eine Revolution", schreiben Sie nach einem Sölle-Zitat. Was ist revolutionär an Dorothee Sölle?
    Die evangelische Theologin und Schriftstellerin Dorothee Sölle (aufg. am 21.9.1999 in Hamburg) Die 73Jährige starb am 27. April 2003 in einer Klinik in Göppingen offenbar in Folge eines Herzinfarktes. Sölle gilt als meist gelesene theologische Autorin der Gegenwart. Zu ihren Publikationen gehören "Stellvertretung - Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes" (1965) und "Mystik und Widerstand" (1997). Für die linke Theologin waren christliche Lebensführung, politisches Engagement und Theologie nicht zu trennen. Sie wandte sich als Friedensaktivistin gegen den Vietnamkrieg genauso wie gegen den Nato-Doppelbeschluss zur Nachrüstung. Bei Kirchentagen trat sie auf Alternativveranstaltungen der "Initiative Kirche von unten" auf.
    Die 2003 verstorbene Sölle provozierte: Auch 1965 auf dem Kirchentag mit einer "Gott ist tot"-Rede (picture-alliance / dpa / Rolf Rick)
    Konstantin Wecker: Ich habe Dorothee Sölle als Autorin erst spät kennengelernt, vor ein paar Jahren. Ich habe ihr Buch "Mystik und Widerstand", das ja schon 1998 herauskam und dann noch einmal mit einem neuen Vorwort aufgelegt wurde, verschlungen. Und plötzlich war mir klar, was für eine unglaubliche Frau Frau Sölle gewesen ist. Ich bin ihr über den Weg gelaufen in der Friedensbewegung. Man hat sich gekannt, aber ich war mir nicht bewusst, was für eine großartige Denkerin sie ist. Es war mir klar, dass sie eine politische Frau war. Bei den Nachtgebeten war ich nie. Aber ich muss Ihnen ehrlich sagen: "Mystik und Widerstand" ist so eine Art Bibel für mich geworden. Ich halte das für ein unglaublich wichtiges Buch.
    Florin: Was war der Punkt, der diese Initialzündung ausgelöst hat?
    Wecker: Dass mich der Titel des Buches interessiert hat und ich dann von der ersten Seite an gefesselt war.
    "Jeder wirkliche Mystiker muss ein Widerständler sein"
    Florin: Wegen der Mystik oder wegen des Widerstands?
    Wecker: Genau wegen beidem. Ich bemühe mich seit dem Irakkrieg, seit 2003, mit einem eigenen Webportal – es heißt "Hinter den Schlagzeilen" – das politische Engagement zu verbinden mit Spiritualität. Ich habe, vor zehn Jahren war es noch krasser, argen Widerstand von reinen, puren Marxisten bekommen, für die Spiritualität und alles, was mit Religion oder auch Mystik zu tun hat, völliger Nonsens ist. Auch mit manchen sehr eingefleischten Spiris, die meinen, es genügt ausschließlich zu meditieren und dann wird die Welt sowieso gut. Aber ich habe gemerkt in den letzten Jahren, dass da sehr viel mehr Verbindung da ist. Und das hat eben mit Mystik und Widerstand zu tun und deshalb war ich so begeistert über diesen Titel und über das Buch. Um es als Quintessenz zu sagen: Jeder wirkliche Mystiker, der ein All-Eins-Gefühl irgendwann einmal empfunden hat in seinem Leben, muss ein Widerständler sein. Er kann mit der Gesellschaft nicht klar kommen. Mit keiner der menschlichen Gesellschaften.
    Florin: Herr Weyer, ich habe Dorothee Sölle vorhin nur sehr kursorisch vorgestellt. Was war das Besondere, das Unerhörte an diesen Nachtgebeten. War es diese Verbindung aus Politik und Gebet?
    Anselm Weyer: Das Besondere war, dass überhaupt wieder Politik in die Kirche gekommen ist. Und dann nicht in einem Sinne, den man vielleicht heute kennt, dass man Mehrheitsmeinungen, die allgemein goutiert werden, innerhalb eines Gottesdienstes noch einmal ausspricht, sondern radikale Thesen, wo es wirklich um eine Veränderung der Welt ging. Dorothee Sölle hat für das Politische Nachtgebet ein Credo geschrieben, in dem es darum ging, dass Jesus ein Revolutionär war und dass die Nachtgebete diese Revolution weitertreiben sollen. Das wäre heute noch eine sehr revolutionäre Sache. Wenn man heute guckt, was Politische Nachtgebete sind und was sie bewirken möchten, dann ist das meistens nichts so Substanzielles wie es früher war. Dann sagt man: Ausbeutung der Dritten Welt ist furchtbar. Und dann sagen wir alle: Ja, klar. Und dann nicken wir. Und denken uns: Ausbeutung ist immer doof. Aber diese Sache, das wirklich ändern zu wollen. Es gab vier Punkte beim Politischen Nachtgebet: die Meditation, also die Gottesdienstanteile, dann die Diskussion, das heißt der Gottesdienstteilnehmer sollte nicht nur passiv dasitzen, sondern wirklich teilnehmen über das normale Mitsingen von Kirchenliedern hinaus. Dann gab es die Information, und es gab die Aktion. Es sollte wirklich am Ende eines Nachtgebetes eine Richtung gegeben werden, wie man die Welt verbessert. Das ist ja heute in Kirchen nicht immer der Fall.
    Weyer: Als Christen im Gottesdienst diese Welt verändern
    Autor Anselm Weyer
    Autor Anselm Weyer (privat)
    Florin: Sie haben das Credo von Dorothee Sölle angesprochen. "Ich glaube an Jesus Christus, der aufersteht in unser Leben… dass wir frei werden.. und seine Revolution weitertreiben", heißt es da. Wie wichtig war dieser Glaube an Jesus Christus?
    Weyer: Zentral. Es gibt mehrere Versionen, wie man Politik in die Kirche integrieren kann. Häufig wird gemeint, dass man einfach mit politischen Veranstaltungen einen schönen, vielleicht gothischen Kirchenraum kapert und dann einen schönen Veranstaltungsraum hat. Das waren wirkliche Christen. Das war nachher eine Bewegung, die hieß "Christen für Sozialismus". Das waren Christen, die gesagt haben: "Wenn wir Christen sind, können wir uns nicht mit guter Gesinnung zufrieden geben." Das gute Gefühl reicht nicht, man muss das auch in die Tat umsetzen. Gemeinde heißt Gemeinschaft. Wir sind Teil einer Gemeinschaft, die nicht nur vor der eigenen Haustür ist, die weltweit agiert. Wir als Gemeinde müssen unser Umfeld mit beeinflussen, so wie das auch Jesus getan hat. Es waren wirkliche Christen, denen auch der Gottesdienstanteil der Politischen Nachtgebete sehr wichtig war. Die sich auch wehren mussten, dass nicht bloße politische Agitatoren ihre Veranstaltung, als die sehr erfolgreich war, übernahmen, sondern die wollten als Christen im Gottesdienst diese Welt verändern.
    Florin: Herr Wecker, wie wichtig ist Ihnen dieser christliche Anteil, dieser christliche Antrieb?
    Wecker: Ich bin kein Theologe, bin aus der Kirche ausgetreten. Aber in einem Punkt gebe ich Frau Sölle völlig recht: Jesus Christus war ein Revolutionär. Eugen Drewermann nennt ihn sicherheitshalber immer den Mann aus Nazareth, was ich sehr schön finde. Er war ein Revolutionär. Heute fehlt Frau Sölle so unglaublich in der Flüchtlingsfrage. Wie soll eine christliche Kirche anders entscheiden können, als radikal für eine Willkommenskultur zu sein. Und zwar richtig radikal. Da gibt es kein Wenn und Aber. Jesus Christus war selbst ein Flüchtling. Wenn die Kirche die Chance verpasst, sich jetzt für die Flüchtlinge einzusetzen – wunderbar, was Franziskus gemacht hat, finde ich ganz großartig, Moslems in den Vatikan mitzunehmen, das ist ein unglaubliches Symbol, ein tolles Zeichen. Das ist die Chance. Wir können Frau Sölle leider nicht mehr fragen, aber ich bin überzeugt, Frau Sölle wären in diesem Punkt genauso radikal. Sie war eigentlich eine Revolutionärin.
    Florin: Nehmen Sie die Kirchen in Deutschland als politische Akteure wahr? Die stehen ja gerade in der Kritik, weil sie sich so eindeutig für eine Willkommenskultur ausgesprochen haben und weil viele Bischöfe gesagt haben: "Wann, wenn nicht jetzt, wäre die Stunde, daran zu erinnern, dass Jesus selbst ein Flüchtlingskind war."
    Wecker: Völlig richtig, die AfD auszuladen
    Wecker: Ja. Ich nehme das wahr. Ich nehme auch wahr, dass die AfD (vom Katholikentag) ausgeladen wurde. Ein großartiges Zeichen, völlig richtig, sie auszuladen. Das ist ja gerade eine Partei, die will sich auf eine angeblich christliche Kultur berufen und meint etwas völlig anderes damit. Ich nehme vor allem viele Pfarrer wahr, mit denen ich zu tun habe, mit denen ich im Gespräch bin. Da gibt es sehr viele mutige Menschen.
    Florin: Herr Weyer, AfD ausladen ist ein gutes Stichwort. Bei den Politischen Nachtgebeten gab es nicht unbedingt die Empfehlung, eine bestimmte Partei nicht zu wählen. Aber es gab einmal die Empfehlung, die SPD Willy Brandts zu wählen. Was hat das ausgelöst?
    Weyer: Aufruhr natürlich. Es gab ein Nachtgebet im Vorfeld der Wahl 1969, in dem alle Parteiprogramm vorgestellt worden sind. Das war die Information. Es tut ja heute noch manchmal gut, wenn man weiß, was im Wahlprogramm von verschiedenen Parteien steht. Da wurde auch eindeutig Stellung bezogen. Allerdings waren alle Parteien eingeladen. Ausgrenzung führt dazu, dass man nur noch Gesinnungsgottesdienste macht. Auch diese Diskussion, ob Jesus nun Flüchtling war oder nicht. Er ist nach Ägypten geflüchtet als kleiner Junge, das wissen ja die meisten gar nicht. Die denken, dass die große Flucht nach Bethlehem war.
    Florin: Manche denken auch, Jesus sei Deutscher.
    Weyer: War ja blond, kann man auf ganz vielen Darstellungen sehen. Angela Merkel, die ich normalerweise nicht so gern anführe bei solchen Sachen, hat bei einer Diskussion gesagt: Wenn so viel übers christliche Abendland gesprochen wird, dann ist ja sehr interessant, wie voll die Kirchen diesbezüglich sind. Es gibt ja wesentlich mehr Menschen, die zum christlichen Abendland gehören, als Christen, die aktiv sind.
    Florin: Konstantin Wecker sagte vorhin, jemand wie Dorothee Sölle fehlt heute. De facto sind aber die politischen Nachtgebete 1972 eingeschlafen, an ihr Ende gekommen. Was war der Grund dafür, dass es nicht mehr weiterging?
    Weyer: Der Grund dafür war, dass es unglaublich schwer ist und dass das Politische Nachtgebet etwas ist, das von unten aus der Gemeinde gekommen ist. Dorothee Sölle hatte nie eine Position innerhalb der Amtskirche. Man könnte heute wesentlich einfacher diesen Weg nachgehen. Man könnte zum Pfarrer gehen und sagen, wir möchten auch politische Gottesdienste gestalten. Was aber häufiger passiert, ist, dass Leute kommen und sagen: "Da ist etwas Schlimmes passiert, da müssten Sie mal einen politischen Gottesdienst zu machen." Und so funktioniert das nicht. Das war eine Idee, dass man selbst als Christ aktiv werden muss. Dass man nicht irgendwo passiv hingeht, ob zu Kabarettveranstaltungen oder zu Gottesdiensten, und dann herzlich lacht oder ganz viel Geld in die Brot-für-die-Welt-Kasse tut, sondern dass man selbst aktiv wird von unten. Wenn man sagt, Dorothee Sölle fehlt heute, dann muss man sagen: Dann muss man selbst Dorothee Sölle werden und so etwas in die Kirche hineinbringen. Die evangelische Kirche ist basisdemokratisch organisiert. Wenn man nicht selbst Dorothee Sölle ist, dann gibt es keine politischen Nachtgebete. Man kann nicht warten, bis Franziskus etwas macht, bis der EKD-Vorsitzende etwas macht, bis die Frau…
    Florin:… Käßmann
    Weyer: ... etwas sagt. Man muss das selbst tun.
    Wecker: In gewisser Weise sind wir in einem Unrechtsregime
    Wecker: Ich habe eine Frage an Sie: Ich habe die Nachtgebete nicht mitbekommen. War das nicht Anfang der 70er so, dass die Ideologisierung der Linken und die große Streiterei zwischen den Linken und den noch Linkeren und den noch besser Linken und wie auch immer eine Rolle gespielt hat? Mir haben sie die Bühne gestürmt: erst die Trotzkisten, dann die Maoisten, dann die anderen –isten. Ich bin ein bekennender 68er, ich bin ein bekennender Linker, aber das hat die Bewegung fast kaputt gemacht.
    Weyer: Das gab es ja in vielen Bereichen. Da würde Günter Grass als zu rechts kritisieren. Darunter haben alle gelitten. Beim Politischen Nachtgebet waren sie schon sehr radikal. Dorothee Sölle hat immer, wenn sie gefragt wurde, ob sie Sozialistin sei, gesagt: "Ja klar, was denn sonst?" Deshalb bestand diese Gefahr eigentlich nicht. Aber es gab viele Leute, die nur noch Politik machen wollten, aber keinen Gottesdienst mehr, und da kann man sich natürlich zu Recht die Frage stellen: Warum denn dann noch in der Kirche? Das Nachtgebet ging kaputt, weil gesagt wurde: Wir wollen die Welt verändern und uns nicht so sehr mit Liturgiefragen beschäftigen.
    Florin: Widerstand ist gegen Unrechtsregime gerechtfertigt. Warum Widerstand gegen die Bundesrepublik, Herr Wecker? Reichen nicht Kritik und Opposition?
    Wecker: In einer gewissen Weise sind wir schon in einem Unrechtsregime. Und zwar leiden wir unter dem Unrechtsregime eines wahnsinnig gewordenen Finanzkapitalismus. Und da kann ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland, das durchaus demokratische Verdienste sich erarbeitet hat,
    Florin: Sie dürfen das hier sagen und müssen nicht mit Strafen rechnen.
    Wecker: Ich weiß. Deshalb rede ich ja von demokratischen Verdiensten. Sie sehen an dem, was jetzt mit Europa passiert, dass die Demokratie etwas ist, was permanent aktiv am Leben erhalten werden muss, weil es sonst automatisch den Bach runtergeht. Der Neoliberalismus hat doch eine Austerität geschaffen auf der ganzen Welt und auch in Europa. Das ist auch ein Versagen der Sozialdemokratie. Auch heute würde ich die Sozialdemokratie eines Willy Brandt noch wählen. Aber das ist nicht mehr möglich. Der sogenannte kleine Mann, der arbeitende Mensch wird weiter in die Armut getrieben, während ein Prozent der Menschheit sich dumm und dämlich verdient und der Finanzkapitalismus sich selbständig macht. Das ist ein Unrechtsregime.
    Florin: Würden Sie wirklich sagen, dieses Land des Grundgesetzes ist ein Unrechtsregime?
    Wecker: Nein, das Grundgesetz ist wunderbar, wenn es wirklich eingehalten wird. Sie sehen doch, was im Moment mit den Asylanten passiert. Da wird ein Grundgesetz nach dem anderen ausgehebelt, manchmal auf infame Weise, indem man es über die Türkei probiert. Insgesamt leiden wir unter einem Unrechtswirtschaftssystem. Das ist Unrecht und dagegen gilt es anzugehen, da ist Widerstand von Nöten. Wir haben die Chance zum Widerstand in einer Demokratie, wo wir alle – meine Generation – mit daran gearbeitet haben, dass es viel mehr Rechte gibt, dass Nazis verschwunden sind, dass wir eine tolle Aufarbeitung des Nationalsozialismus hatten, was andere Länder nie und nimmer in dieser Art und Weise hatten. Um das aufrecht zu erhalten ist Widerstand notwendig. Sie sehen, dass Widerstand immer notwendig ist. Mystik und Widerstand.
    Florin: Man begibt sich in eine etwas merkwürdige Gesellschaft, weil ja auch von Rechtspopulisten und Rechtsextremen zum Widerstand aufgerufen wird gegen die Kanzlerin.
    Wecker: Ja, zu diesem Widerstand wurde ich auch einmal von einem jungen Journalisten gefragt: "Herr Wecker, Sie haben damals die 68er Revolution gemacht, und jetzt kommt die Revolution von der AfD." Da ist ein Riesenunterschied. Ich halte die 68er-Revolution für eine der spannendsten Revolutionen der Menschheitsgeschichte zusammen mit der Hippie-Bewegung. Es wurde alles in Frage gestellt, was überhaupt in Frage gestellt werden konnte: das Leistungsprinzip, alles Mögliche. Und es wurden alte Nazis noch mit ihren Seilschaften aufgedeckt. Aber da war eine Diskussion über die Ursachen und Wirkungen, täglich und stündlich haben wir diskutiert. Zum Beispiel: Was ist der Grund, dass es einen Vietnamkrieg gibt? Was machen denn AfD und Pegida? Sie suchen sich die Ärmsten raus und prügeln auf die ein. Und weil Frau Merkel angeblich die Ärmsten beschützt, prügeln sie auf Frau Merkel ein. Nein, das ist keine Revolution, das ist ein Putsch. Wir wollen bei der ehrlichen sprachlichen Regelung bleiben. Revolutionen kommen von links, der Putsch kommt von rechts.
    Weyer: In der Pegida-Bewegung ist wenig Gestaltungwillen
    Weyer: Was das sprachliche Gewirr aufdeckt, ist die Tatsache, dass in Widerstand zu wenig Gestaltungspotenzial steckt. Der Widerstand von Dorothee Sölle lief primär auf Gestaltung der Welt hinaus. In der Pegida-Bewegung ist wenig Gestaltungwillen. Das bloße Nein reicht nicht. Das hat auch Dorothee Sölle und der 68er-Bewegung nie gereicht. Die haben sehr gute Alternativpläne für eine Welt, wie sie anders sein soll, gegeben. Schade ist, dass diese Form von Gemeinschaft weg ist, die einen Gestaltungswillen hat. Wenn ich Sie höre, Herr Wecker, dann zeugt das von einer Aufgabementalität. Wenn Sie sagen, Sie sind nicht mehr in der Kirche, Sie können nicht mehr die SPD wählen. Dann ist ja die Frage: Wenn Sie schon nicht mehr wissen, was Sie machen sollen, was soll dann der Mensch von der Straße machen?
    Wecker: Darf ich kurz widersprechen.
    Weyer: Gern. Auch lang.
    Wecker: Jeden Abend bei meinen Konzerten versuche ich Mut zu machen, also das Gegenteil. Dass ich nicht mehr in der Kirche bin, das hat seine Gründe. Ich bin ausgetreten, als dieser Finanzskandal in der katholischen Kirche war. Als die Vatikan-Bank die gleichen Schweinerein mitgemacht hat wie alle anderen, habe ich gesagt: Ich kann diese Kirche nicht mehr unterstützen. Mit diesem Papst, wenn dieser Papst auch noch eine Frau wäre, dann wäre ich wieder in der Kirche. Dass ich ein Problem habe, die SPD zu wählen, das kann man nachvollziehen. Ich war immer schon eher ein alter Anarcho. Ich bin sehr aktiv, bleibe aktiv. Ich bin einer der Künstler, die weiterhin, auch wenn die Zahl der Friedensdemonstranten geringer wird, auf Demos gehen und dort singen.
    Florin: Wenn Sie Zitate von Dorothee Sölle aussuchen, nehmen Sie dann eher die, die Sie bestätigen oder diejenigen, die Sie irritieren?
    Wecker: Ich habe mich ausschließlich mit "Mystik und Widerstand" beschäftigt. Da hat mich nichts irritiert, sondern ich habe Neues gefunden, das ein inneres Ahnen bestätigt hat. Dazu kommt, dass diese Frau eine grandiose Theologin und Wissenschaftlerin ist. Sie hat über die Geschichte der Mystik unglaublich gut in dem Buch geschrieben. Da war vieles ganz neu für mich. Ich fand es spannend, ich fand es einleuchtend. Es gab nichts, was mich irritiert hat. Ich habe mich von Seite zu Seite gefreut und gedacht: Wow, is‘ des schön. Das wollte ich schon lange sagen, aber ich konnte es nicht so gut ausdrücken.
    Florin: Ist diese mystische Seite, die sanftere Seite im Rückblick eher unterbelichtet?
    Weyer: Die Erinnerung an Dorothee Sölle ist ohnehin nicht so lebendig, wie ich es mir wünschen würde, wie ich es ihr wünschen würde. Da ist neben der Kontemplation auch der theologische, der in sich gekehrte Anteil noch zu gering, obwohl sie so angefangen hat. Sie hat angefangen mit einem Buch "Stellvertretung", mit einer Theologie in einer Zeit, da Gott tot ist. Das sind ja heute noch sehr aufrührende und irritierende Positionen, die sie auch in der Theologie vertreten hat, nicht nur in der Politik. Sie war nicht primär Politikerin, sie war primär Theologin.
    Florin: Sie machen in Köln Stadtführungen auf dem Spuren von Dorothee Sölle. Wer nimmt daran teil?
    Weyer: Bei Stadtführungen generell ist der Altersdurchschnitt nicht unbedingt im Studentenbereich angesiedelt. Wenn man Politische Nachtgebete macht außerhalb von Kirchentagen, kommen normalerweise die alten 68er. Wenn man in der Kölner Antoniterkirche aufruft zu einer Veranstaltung zu Dorothee Sölle, dann hat man alle Überlebenden des Politischen Nachtgebetes da sitzen.
    Florin: Wenn Dorothee Sölle in diesen Tagen zur Nacht beten würde, welches Thema würde sie sich nehmen?
    Wecker: Ich glaube, sie würde sich des Themas Willkommenskultur und der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit annehmen. Auf jeden Fall. Da bin ich ganz sicher.
    Weyer: Ich glaube, dass im Zentrum der Eine-Welt-Gedanke stünde. Ihre letzten Nachtgebete hat sie zu dem Tina-Syndrom – There is no alternative, da ist keine Alternative – "The World is not for sale" gemacht. Das wäre heute immer noch sehr aktuell, dass man sagt: Wir sind hier eine Welt. Ost, west, irgendwelche Ländergrenzen sind zufällige Markierungen auf der Landkarte. Wir müssen schauen, dass wir hier zusammen auf der Welt sind und das irgendwie miteinander organisieren.
    Florin: Herr Wecker, Herr Weyer, ich danken Ihnen sehr für das Gespräch.
    Bücher zum Thema:
    Anselm Weyer u. a.: "Liturgie von links. Dorothee Sölle und das Politische Nachtgebet in der Antoniterkirche". Greven Verlag Köln, 104 Seiten, 9.90 Euro.
    Konstantin Wecker: "Dann denkt mit dem Herzen. Ein Aufschrei in der Flüchtlingsdebatte". Gütersloher Verlagshaus. 145 Seiten, 10 Euro.