Nahost-Konflikt

Hamas ist "zu politischen Lösungen" bereit

Moderation: Liane von Billerbeck · 21.07.2014
Israel solle Verhandlungen mit der Hamas aufnehmen, fordert Helga Baumgarten. Die Palästinenserorganisation sei nach wie vor zu einer politischen Lösung bereit. Die Politikwissenschaftlerin lehrt an der palästinensischen Universität Bir Zait.
Liane von Billerbeck: Immer wieder flogen Raketen aus dem Gazastreifen aus Israel. Gaza, dieser schmale Streifen Land in Israel, in dem die Hamas regiert, ist derzeit Schauplatz eines Kriegs, Israel gegen die Hamas, den die dortige Zivilbevölkerung bezahlt: Allein gestern gab es über 100 Tote. Wir sprechen da immer von der Hamas, aber wer verbirgt sich eigentlich dahinter, wer sind die Männer, die die Hamas führen, welche Interessen haben sie? Darüber will ich jetzt mit Helga Baumgarten sprechen, die sich seit vielen Jahren mit der palästinensischen Innen- und Israelpolitik befasst. Sie lebt in Ostjerusalem, ist Professorin an der Bir Zait Universität in der Nähe von Ramallah. Frau Baumgarten, ich grüße Sie!
Helga Baumgarten: Einen schönen guten Morgen!
von Billerbeck: Mir geht es ja so, dass man die Bilder und Nachrichten aus Gaza kaum ertragen kann, die Leute, die dort in der Falle sitzen. Sie kennen sich da gut aus, leben in Ostjerusalem. Wie erleben Sie den Gazakrieg, was hören Sie von Ihren Freunden?
Baumgarten: Nun, die Menschen in Gaza beschreiben die Situation heute als eine Situation der Hölle, als eine Kulmination dieser fast 50 Jahre andauernden israelischen Besatzung, die auch 2005 mit dem Abzug der Siedlungen und der Armee aus dem Gazastreifen nicht geendet hat, sondern den Gazastreifen bis heute eigentlich als großes Gefängnis festhält und den Menschen keinerlei Freiheit, ja, nicht einmal das Recht auf ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Die Situation jetzt extrem zugespitzt – gestern hat mir ein ehemaliger Student geschrieben, dass sein Freund sieben Familienmitglieder verloren hat. Eine andere Familie musste das Haus verlassen, das ist zerstört. Viele sind auf der Flucht, von vielen haben wir überhaupt keine Nachricht. Ein Menschenrechtsaktivist, Raji Sourani berichtet, dass es in Gaza bisher nichts Ähnliches gegeben habe. Und die Menschen sind vor allem entsetzt, und die, die Deutsch kennen, empört, dass man in Deutschland immer noch davon redet, dass Israel das Recht auf Selbstverteidigung habe. Man sagt, Israel besetzt uns, Israel überzieht uns permanent seit Jahrzehnten mit Gewalt. Das ist keine Selbstverteidigung, was Israel macht, sondern das ist eine kontinuierliche Aggression gegen die Palästinenser, die den Palästinensern und letztendlich auch den Israelis keinen Frieden erlaubt.
Israel führt Krieg "gegen alle Menschen im Gazastreifen"
von Billerbeck: Israel führt ja einen Krieg gegen die Hamas, heißt es immer offiziell, und man fragt sich immer, die Hamas – wer sind eigentlich die politischen Akteure?
Baumgarten: Nun, zwei Dinge. Ich denke, Israel – und das müsste jedem klar sein – führt derzeit keinen Krieg gegen die Hamas, sondern gegen alle Menschen im Gazastreifen. Wer ist die Hamas nun? Zum einen übersehen wir oft, dass die Hamas eine politische Partei ist, die 2006 die demokratisch durchgeführten palästinensischen Wahlen gewonnen hat. Diese Partei fordert, so ihr politisches Programm vom Januar 2006, ganz ähnlich wie die Fatah, die Errichtung eines palästinensischen Staates im Gazastreifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem. Sie vertritt im Gegensatz zu Mahmud Abbas, dem palästinensischen Präsidenten, eine Position, dass dies nur mit Widerstand in allen Formen, unter anderem auch militärischem Widerstand, erreicht werden kann. Was wir oft auch übersehen, ist, dass momentan die Hamas zusammen mit der Fatah mit Mahmud Abbas eine Regierung der nationalen Einheit gebildet hat, in der Technokraten, die für beide Seiten akzeptabel sind, vertreten sind. Konkret fordert die Hamas momentan einen Waffenstillstand mit Bedingungen – und auch das übersehen wir oft in Deutschland –, die zum Beispiel Gruppen wie Gusch Schalom, Uri Avnery ist der Name, der in Deutschland bekannt ist, unterstützen, oder der Kolumnist von der israelischen Zeitung „Haaretz", Gideon Levy. Die Forderungen sind ganz einfach: Macht den Gazastreifen auf, erlaubt den Menschen zu reisen, lasst die EU den Flughafen, den Israel zerstört hat, wieder aufbauen, erlaubt uns einen Hafen, lasst uns normal leben in Koexistenz mit Israel. Und dieser Waffenstillstand, den die Hamas fordert, soll international garantiert sein. Und eine letzte Forderung: Die Palästinenser sollen freien Zugang zur Al-Aksa-Moschee in Ost-Jerusalem haben – Forderungen, von denen Gideon Levy sagt: Wer könnte diesen Forderungen nicht zustimmen?
von Billerbeck: Aber wer sind die Männer dahinter, was sind das für Personen?
Baumgarten: Nun, das sind nicht nur Männer, es sind unter anderem auch Frauen. Viele von ihnen – das ist die ältere Generation – kommen aus der Muslimbrüderschaft, haben dann 1988 unter der Führung von Scheich Ahmad Yasin die Hamas gegründet. Die jüngere Generation, sowohl in Gaza als auch im Westjordanland, sind nachgewachsen, machen dieselbe Schulung durch wie früher die Muslimbrüderschaft das gemacht hat – tiefreligiöse Menschen, die versuchen, ihre politischen Vorstellungen durch die Hamas durchzusetzen: einen religiös geprägten Staat in Palästina und Freiheit von der israelischen Besatzung. Was man noch dazu sagen müsste, ist, dass immer wieder über die letzten Jahre hin wegen der Radikalisierung der israelischen Besatzung sich jüngere Leute abgespalten haben von der Hamas und in Richtung dschihadistisch-salafistische Organisationen gegangen sind, die nur noch mit Gewalt gegen einen untragbaren Zustand rebellieren.
Mehr Gewalt ist keine Lösung
von Billerbeck: Das heißt, das sind junge Hamas-Leute, mit denen man auch möglicherweise gar nicht mehr reden kann, anders als mit den älteren ja noch in Teilen?
Baumgarten: Nun, es sind nicht mehr Hamas-Leute, weil sie sich abgespalten haben. Mit diesen jungen Leuten dürfte es sehr schwierig sein zu reden, eben aus diesem Grund auch die Notwendigkeit, mit einer politischen Führung zu sprechen, die zu politischen Lösungen bereit ist, und das ist die Hamas bis heute. Und das zeigt sowohl ihr politisches Programm von 2006, das zeigt die Tatsache, dass sie sich zu einer Regierung der nationalen Einheit mit und unter Mahmud Abbas durchgerungen hat, und das zeigt nicht zuletzt ihre Forderungen für einen Waffenstillstand. Das Wichtigste heute ist – und da kommen wir wieder zurück zum Anfang auf Israel: Eine Lösung für diese unerträgliche Gewalt, vor allem auf palästinensischer Seite, aber auch die Angst, die auf israelischer Seite existiert, ist nicht mehr Gewalt, sondern ist Frieden, ist Anerkennung der Palästinenser durch den Staat Israel. Und da liegt vor allem das israelische Problem, das wir bis heute haben, was Gideon Levy zum Beispiel in Haaretz dazu bringt, zu formulieren: Netanjahu will keinen Frieden.
von Billerbeck: Helga Baumgarten über die Hamas und die Veränderungen dort und die Rolle Israels. Danke für das Gespräch!
Baumgarten: Danke sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema