Nagarkar: Gandhis Beitrag wird heute nicht gewürdigt

Kiran Nagarkar im Gespräch mit Susanne Führer · 26.01.2010
Von dem großen Erbe Mahatma Gandhis, unter dem Indien vor 60 Jahren durch gewaltfreien Widerstand seine Unabhängigkeit erhielt, sei fast nichts geblieben, sagt der indische Schriftsteller Kiran Nagarkar.
Susanne Führer: Heute vor 60 Jahren ist die Verfassung der Republik Indien in Kraft getreten – eine freiheitliche, demokratische, soziale Verfassung. Anspruch und Wirklichkeit im heutigen Indien, das ist unser Thema mit dem Schriftsteller Kiran Nagarkar. Er lebt eigentlich in Bombay oder Mumbai, ist jetzt aber für ein Jahr Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin, sodass er gestern Nachmittag zu uns ins Funkhaus kommen konnte. Indien ist das erste Land in der Welt, das seine Unabhängigkeit durch gewaltfreien, durch gewaltlosen Widerstand gewonnen hat unter der Führung Mahatma Gandhis. Die Frage an Kiran Nagarkar daher: Was ist von diesem großen Erbe heute noch lebendig?

Kiran Nagarkar: Fast nichts. Und wenn ich dazu noch etwas sagen soll, ich hätte mir natürlich gewünscht, dass ich unrecht habe. Ich selbst kann eigentlich dem hohen Anspruch Gandhis nicht wirklich genügen. Aber er ist eine so überragend gute Gestalt, dass es wirklich zum Schändlichsten gehört, dass unser Land sich schuldig gemacht hat, dass es Gandhi fast vollständig vergessen hat. Wir ziehen ihn nicht einmal jeden Sonntag noch hervor, wir erinnern uns seiner vielleicht, wenn's hoch kommt, zweimal im Jahr, nämlich am Tag, als er erschossen wurde, und an seinem Geburtstag. Ansonsten wollen wir eigentlich von ihm nicht mehr allzu viel wissen. Ich frage mich, ob unser Bildungswesen überhaupt dem Rechnung zollt, wie wichtig es ist, dass wir für unsere Freiheit kämpfen. Ich lasse die Tatsache beiseite, dass Martin Luther King, Nelson Mandela teilweise die Methoden, die Gandhi entwickelt hat, selbst jetzt anwenden oder angewendet haben. Ich verschweige auch mehr den Umstand, dass ein Teil der Palästinenser heute versuchen, die israelische Unterdrückung mit den Mitteln zu bekämpfen, die Gandhi damals entwickelt hat. Nicht mit den Mitteln der Hamas, mit den Bomben, sondern mit aktivem und passivem Widerstand. Der Beitrag Gandhis ist also von unermesslicher Wichtigkeit. Und umso schlimmer ist es, dass dieser Beitrag heute nicht gewürdigt wird.

Führer: Herr Nagarkar, Sie sagen also, das Erbe Gandhis ist kaum noch präsent im heutigen Indien. Wir erinnern heute an 60 Jahre Verfassung des unabhängigen Indiens. Schon am Tag der Unabhängigkeit kam es ja zu einem Blutbad zwischen Hindus und Moslems damals. Sie haben in Ihren Büchern immer wieder diese innerreligiösen Konflikte thematisiert. Ganz naiv gefragt: Warum werden die eigentlich mit so enormer Gewalt ausgetragen?

Nagarkar: Na ja, lassen Sie mich zunächst sagen, diese Konflikte sind ja nicht auf Indien beschränkt, sie zeigen sich heute überall auf der Welt. In Indien ist die Natur des Problems aber eine andere. Ich möchte hier nicht den Schwarzen Peter weiterschieben, die Vergangenheit ist die Vergangenheit. Aber dennoch muss ich festhalten, dass damals, im Jahr 1947, die Unabhängigkeit in so übereilter Weise herbeigeführt wurde, dass das schon der Nährboden für Feindseligkeiten wurde. Die Feindseligkeiten, die durch die politischen Parteien bewusst geschürt worden sind. Die Umsiedlungen oder Vertreibungen, die viel zu hastig durchgeführt wurden, statt langsam und behutsam. Die Lage ist aber nach der Unabhängigkeit wahrscheinlich sogar noch schlimmer geworden, denn all diese vermeintlich religiösen Konflikte sind politisch motiviert. Sie werden ausgenutzt von verschiedenen politischen Akteuren. Es ist also bequem, hier von einem Zusammenprall der Zivilisationen zu sprechen. Ich halte aber dieses ganze Gerede von einem zutiefst religiösen Konflikt für verfehlt. Denn schauen Sie, die Muslime leben seit mindestens 1200 Jahren in Indien, und nur in den letzten 70 Jahren etwa hat es Probleme im Zusammenleben gegeben. Nun, was ist das Problem heute? Das Problem heute ist, dass so viele politische Vorteile aus diesen religiösen Konflikten gezogen werden. Ich glaube nicht, dass es im Wesentlichen eine religiös begründete Feindseligkeit zwischen den Bevölkerungsgruppen ist, sondern sie wird geschürt und ausgenutzt.
Mein eigenes persönliches Leben, ich, der ich so sehr die Musik, das Kino und die Architektur liebe, mein eigenes Leben ist gar nicht denkbar ohne diesen ganz wesentlichen wertvollen Beitrag der Muslime, der Christen, und (Anm. d. Red.: Schwer verständlich im Hörprotokoll) von den Buddhisten zu schweigen. Das möchte ich klar sagen, und da bin ich nicht im Mindesten diplomatisch.

Führer: Herr Nagarkar, Sie haben vorhin gesagt, die religiösen Konflikte in Indien seien politisch motiviert. Nun gibt es ja seit circa 20 Jahren die indische Volkspartei, die BJP, die gilt ja als der politische Arm der Hindu-Nationalisten. Man wirft ihr ja vor, dass sie Angehörige religiöser Minderheiten, eben vor allem diese 140 Millionen indischen Muslime, zu Bürgern zweiter Klasse machen will, und manche Beobachter sprechen sogar von einer Hinduisierung der indischen Politik, seitdem die BJP die politische Bühne betreten hat. Sehen Sie die Gefahr auch?

Nagarkar: Nein, dem kann ich nicht zustimmen. Ich teile natürlich gewisse Besorgnisse, aber Sie müssen auch bedenken, dass die BJP im Moment aus der Macht hinausgewählt worden ist. Sie sind politisch gesehen in einem erbärmlichen Zustand. Sie sind noch nicht besiegt, aber sie spielen im Moment keine große Rolle.
Ich möchte noch etwas hinzufügen, was mir wirklich auf den Nägeln brennt: Mit den Muslimen, mit den (...) ( Anm. d. Red.: Schwer verständlich im Hörprotokoll) zusammen müssen wir alles daransetzen, um wirklich Geld in die Erziehungssysteme und in das Beschäftigungswesen zu pumpen. Daran hat es wirklich gefehlt. Wir haben jetzt seit dreiundsechzigeinhalb Jahren die Unabhängigkeit, und ich meine, es ist Zeit, auch das Quotensystem zu beenden. Dr. Ambedkar, der damals an der Verfassung mitgeschrieben hat, war ja selbst dafür, dass nach 50 Jahren die Quotenregelung abgeschafft werden sollte. Das hätte aber vorausgesetzt, dass man durch Beschäftigungs- und Bildungspolitik echte Chancengleichheit für alle religiösen Gruppen hergestellt hätte. Das ist aber nicht geschehen. Wir verwenden die Moslems, die (...) ( Anm. d. Red.: Schwer verständlich im Hörprotokoll) und die Stammesreligionen weiterhin nur als eine Art Stimmenreservoir – das zeigt sich dann immer bei den Wahlen –, aber echte Chancengleichheit ist nicht hergestellt worden.

Führer: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem indischen Schriftsteller Kiran Nagarkar. Heute vor 60 Jahren ist die indische Verfassung in Kraft getreten. Und diese Verfassung ist wirklich eine große, demokratische und soziale Verfassung. In den letzten 20 Jahren hat sich allerdings der Abstand zwischen Arm und Reich vergrößert, insgesamt hat Indien aber ein beeindruckendes Wirtschaftswachstum zu verzeichnen. Herr Nagarkar, mich würde mal interessieren, welchen Einfluss die wirtschaftliche Entwicklung Indiens eigentlich auf das Kastenwesen hat? Profitieren nur die davon, die vorher schon oben waren, oder kommt der insgesamt gewachsene Reichtum Indiens auch den Angehörigen der niederen Kaste zugute? Sind die Kasten vielleicht überhaupt durchlässiger geworden?

Nagarkar: Es gut mir leid, dass ich das jetzt auf dieser Ebene besprechen muss, aber bei all dem Argumentieren über die wirtschaftliche Lage, wenn man es ausgewogen hinkriegt, letztlich bleibt auch das Gewissen, das sittliche Verhalten der Einzelnen eine ganz entscheidende Größe, das darf man nicht vergessen. Schauen wir uns die USA an, schauen wir uns die Weltwirtschaft an, schauen wir uns das Verhalten der Bankiers an. Ich weiß, die sind jetzt die leichteste Zielscheibe, aber sie haben eben ganz schlimme Entscheidungen getroffen. Sie haben versucht, bestimmte Risiken in Pakete zu schnüren, sodass niemand mehr wusste, was dann sich dahinter verbarg. Jetzt haben sich angeblich die Dinge verbessert – ich glaube das nicht. Aber fragen wir uns doch, wer kümmert sich noch um die kleinen Leute? Niemand. Und schauen wir nach Indien: Es ist so, dass die freien Märkte, das Bildungswesen nach und nach sich auch bemerkbar machen, positiv, aber das Ganze schlägt nicht schnell genug durch. Das Ganze reicht eben auch nicht aus. Es ist einfach so, dass die Generation, die nach uns kommt, eigentlich völlig gleichgültig geworden ist. Meine Generation, wir haben eigentlich die ganze Sache verbockt, wir haben es versäumt, diesen Sinn für Verantwortung, für das zivilgesellschaftliche Miteinander in die Nachkommen einzupflanzen. Wir haben einfach nicht die moralische Grundlage gelegt. Unsere Eltern haben damit angefangen. Wir hatten dieses großartige Erbe Mahatma Gandhis, den haben Sie gerade erwähnt. Und schauen Sie, was haben wir damit gemacht? Dieses Erbe der Gewaltlosigkeit – ich übertreibe jetzt, aber wo ist es geblieben? Es war doch so: In der Nacht vom 15. August 1947 wurde gesagt, wir haben jetzt die Unabhängigkeit. Gut, dann lasst uns korrupt werden. So ist es doch leider geschehen. Trotz gewisser Fortschritte, die ja auch zu verzeichnen sind, das Ganze schlägt noch nicht durch in der Fläche. Die Bauern begehen Selbstmord, weil sie einfach nicht wissen, wie sie ihre Kredite zurückzahlen sollen. Über die letzten fünf, sechs Jahre sind die Dinge einfach schlimmer geworden. Und auf die kleinen Leute pfeifen wir.
Es gibt sehr viele gute Menschen in Indien, Menschen mit hohem sittlichen Anspruch, die Gutes bewirken wollen, aber – es tut mir weh, dies zu sagen – ihre Zahlen reichen einfach nicht aus. So Gott will, wird in der Zukunft sich vielleicht etwas ändern, aber im Moment sind es nicht genug Menschen, um das Ruder herumzuwerfen. Aber wenn wir uns selbst anschauen, jeder möchte immer mehr und mehr haben, und an seinen Nächsten denken wir nicht.

Führer: 60 Jahre indische Verfassung. Aus diesem Anlass war der indische Schriftsteller Kiran Nagarkar zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihren Besuch, Herr Nagarkar. Thank you very much!

Nagarkar: Thank you!
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