Nachruf auf Henning Mankell

Die Suche nach den Widersprüchen

Henning Mankell 2009 vor dem Rathaus in Osnabrück. Wegen seines Engagements für Afrika wurde er mit dem Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis ausgezeichnet.
Henning Mankell 2009 vor dem Rathaus in Osnabrück. Wegen seines Engagements für Afrika wurde er mit dem Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis ausgezeichnet. © dpa / picture alliance / Friso Gentsch
Von Irene Binal · 05.10.2015
Henning Mankell schuf den legendären Kommissar Kurt Wallander aus dem südschwedischen Ystad. Dazu kamen weitere Krimis, Afrika-Romane sowie Kinder- und Jugendbücher. Immer bezog Mankell Position, stellte sich auf die Seite der Unterdrückten.
"Es ist sehr selten, dass ein einzelner Roman, ein Theaterstück oder ein Film die Gesellschaft wirklich verändern kann. Aber auf der anderen Seite kann man ohne Kultur nichts ausrichten. Wir brauchen all diese Romane, all diese Theaterstücke, sie sind ein Teil der Veränderung. Als ich jung war fragten wir uns: Auf welcher Seite stehst du? Und ich denke, dass sogar ein Buch, ein Roman, diese Frage stellt: Auf welcher Seite stehst du?"
Eine Frage, die sich Henning Mankell zeitlebens gestellt hat. Ob als Romanautor, als Regisseur, als Reisender: Immer bezog Mankell Position, stellte sich auf die Seite der Unterdrückten. In seinen Büchern und Theaterstücken gab er ihnen eine Stimme. Den illegalen Einwanderern zum Beispiel, wie in seinem Roman "Tea-Bag":
"Vor ein paar Jahren stand ich am Hauptbahnhof in Stockholm und wartete auf einen Zug. Auf Bahnhöfen gibt es ja immer viele Menschen. Und dann erkannte ich plötzlich, dass einige dieser Menschen Illegale sein könnten. Dass sie in Schweden leben könnten, ohne zu existieren, obwohl sie existieren. Dann begann ich, darüber nachzudenken. Ich fragte mich: Was zum Teufel ist ein 'Illegaler'? Was ist ein illegales Baby? Das kenne ich nicht. Ich kenne nur eine Sorte Menschen, legale Menschen."
Der Schriftsteller Henning Mankell
Der schwedische Autor Henning Mankell starb im Alter von 67 Jahren in Göteborg.© picture alliance /dpa /Inga Kjer
Für diese Menschen hat er sich eingesetzt, in Schweden und in Afrika. Maputo war seine zweite Heimat, dort leitete er das Teatro Avenida, schrieb und inszenierte seine Theaterstücke, brachte aber auch europäische Klassiker auf die Bühne. Er stehe mit einem Fuß im Schnee, mit dem anderen im Sand, sagte er gern, und er konnte sich begeistern für die so ganz andere Weltsicht der Afrikaner:
"Was ich in Afrika gelernt habe, ist, dass man nie in die Zukunft gehen darf, ohne seine Vergangenheit mitzunehmen. Diesbezüglich sind wir im heutigen Europa sehr schlecht. Wir lassen die Vergangenheit zurück und konzentrieren uns nur auf die Zukunft. Ich denke, das ist ein Grund dafür, dass wir all diese Probleme haben: Wir haben unsere Geschichte verloren."
Totalitarismus und Diktatur lehnte Mankell ab
Die Vergangenheit zu thematisieren war Henning Mankell wichtig - und er tat es, indem er Geschichten erzählte. Geschichten aus Afrika und aus Europa, von Straßenkindern und Asylanten, von Weißen und Schwarzen, Verzweifelten und Siegreichen. Gemeinsam ist diesen Geschichten der politische Anspruch. Als Jugendlicher war Henning Mankell in der radikalen linken Szene aktiv, aber er wusste die Grenze zu ziehen: Totalitarismus und Diktatur lehnte er ab, ob von rechts oder von links. Er glaubte an eine solidarische Gesellschaft, an den Dialog mit Andersdenkenden und die Kraft der Demokratie. Dafür hat er gekämpft, mit der Kraft seiner Worte: Seine Kriminalromane um den melancholischen Kommissar Kurt Wallander machten ihn weltberühmt - Romane, in denen es nicht nur um Verbrechen, sondern vor allem um den Zustand der Gesellschaft geht:
"Für einen Moment überkam Wallander dort auf dem Pfad eine unsägliche Verbitterung. Er war sein Leben lang Polizist gewesen und hatte gedacht, er trüge dazu bei, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. Aber alles um ihn herum war nur schlimmer geworden. Die Gewalt hatte zugenommen, an Ausmaß wie an Härte. Schweden hatte sich zu einem Land mit verschlossenen Türen entwickelt."
Wallander, ein Fremder in seiner Heimat, eine Figur voll innerer Brüche, wie alle Charaktere, die Henning Mankell erdacht hat:
"Wenn ich eine Figur erschaffe, suche ich immer nach den Widersprüchen in ihr. Denn ich weiß, dass eine literarische Figur nur dann glaubwürdig sein kann, wenn sie auf Widersprüchen beruht. Ich bin so, Sie sind so, das gilt für jeden. Ich werde morgen nicht derselbe Mensch sein wie heute und Sie auch nicht. So sind die Menschen. Darum versuche ich immer, Figuren mit inneren Widersprüchen auszustatten. Und das bedeutet, dass ich sie eigentlich nicht erschaffe. Ich suche nach neuen Widersprüchen in einer Person, das ist es, was ich tue."
Henning Mankell war es wichtig, sich selbst treu zu bleiben, seinen Weg in Würde zu gehen und die Welt dort, wo er konnte, ein klein wenig besser zu machen, ob er nun einen Roman schrieb, ein Theaterstück inszenierte oder ein SOS-Kinderdorf in Afrika finanzierte. Geholfen hat ihm sein Optimismus, die Hoffnung, dass selbst kleine Dinge nachhaltige Veränderungen auslösen können. Aufzugeben - das wäre für Henning Mankell nie in Frage gekommen. Bei der Verleihung des Erich-Maria-Remarque-Friedenspreises im Jahr 2009 sagte er:
"Alles ist nach wie vor möglich. Nichts ist schon zu spät. Vielen Dank!"
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