Nachruf auf Dieter Wellershoff

    Literatur war für ihn "die Probebühne des Lebens"

    Der Schriftsteller Dieter Wellershoff steht in seiner Wohnung in Köln.
    Der Schriftsteller Dieter Wellershoff © picture-alliance/ dpa / Horst Ossinger
    Von Jörg Plath · 15.06.2018
    Er schrieb Romane, Essays, Drehbücher, Literaturtheoretisches, sogar eine Oper: So vielseitig wie Dieter Wellershoff war kaum ein anderer Autor im deutschen Literaturbetrieb. Jetzt ist Wellershoff mit 92 Jahren gestorben.
    "Gottfried Benn - Phänotyp dieser Stunde" ist der Titel der noch heute maßgeblichen Studie von Dieter Wellershoff. Damals, 1958, war Wellershoff noch kein Kollege des berühmten Dichters, er wurde es erst. Wellershoff war ein Mann mit vielen Fähigkeiten, er hatte viele Phänotypen:
    "Meistens habe ich für den Rundfunk geschrieben und nur nebenbei literarische Texte. Allmählich gab es einen Übergang zu Hörspiel und Literatur. Dann bin ich aber in eine schwierige Situtation gekommen, weil ich ein Buch über Benn geschrieben habe, für das ich ganz wenig Vorschuss bekommen habe, obwohl es später ein Erfolg wurde – das war ich in der schwierigen Lage, weil ich Schulden gemacht hatte, und wurde so Lektor."

    Begründer der "Kölner Schule des Neuen Realismus"

    Der Lektor für Wissenschaft wurde bald auch Lektor für Literatur bei Kiepenheuer & Witsch und verfasste dann selbst Romane, Kurzprosa und einige Gedichte, später auch Fernsehdrehbücher und eine Oper. Außerdem blieb Wellershoff Literaturwissenschaftler und begründete gar - eine Seltenheit in Deutschland – eine Theorieschule, die "Kölner Schule des Neuen Realismus". Das war ein medienwirksames Etikett für die von ihm neben Heinrich Böll betreuten jungen Autoren Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Günter Herburger, Günter Seuren und Günter Steffens.
    "Literatur ist nämlich in meinem Verständnis immer noch eine Reaktion auf das Leben. Eine Probebühne des Lebens habe ich sie mal genannt. Wir stellen da dar, welche Erfahrungen wir haben und entwickeln die weiter, entwickeln sie bis zu den letzten Konsequenzen."
    Die "Kölner Schule" wollte weniger erklären und vorschreiben als genau hinschauen. Sie warb mit Blick auf den Nouveau Roman und beeinflusst vom Existenzialismus Sartres für die Beschäftigung mit dem "gegenwärtigen alltäglichen Leben" und mit der "pathologischen oder kriminellen Abweichung" vom üblichen Verhalten.

    Einer, der sich nicht beschränken wollte

    Hätte Dieter Wellershoff, der am 3. November 1925 in Neuß geboren wurde und die letzten Jahrzehnte in Köln wohnte, sich ein wenig beschränkt in der Zahl seiner Tätigkeitsfelder und vor allem Romane geschrieben – man würde ihn heute wohl in einem Atemzug mit Martin Walser und Siegfried Lenz nennen, die wie er vom Zweiten Weltkrieg geprägt sind. So aber erregte ein neuer Roman von ihm zuweilen Erstaunen. Denn wer im Jahr 2000 nach 17 Jahren Pause endlich wieder einen Roman von Wellershoff las, den klugen und spannenden "Liebeswunsch", der hatte die zwischenzeitlich erschienenen Erzählungen, Essays, Poetikvorlesungen und Reiseberichte in der Regel nicht wahrgenommen.
    Doch Wellershoff wollte sich nicht beschränken:
    "Es ist vielleicht ein Teil der Selbstbegründung, die ich auch brauche, um diese Arbeit zu tun, und ich denke, dass darin zum Ausdruck kommt, wie wichtig mir die Selbstbegründung ist – dass es ein existenzieller Prozess ist, dass das meine Auseinandersetzung mit dem Leben ist und mit mir selbst und nicht irgendwie ein Job. Für mich ist das ein lebenslanger Erkenntnisprozess gewesen, das Schreiben."
    Eine "Probebühne des Lebens" ist für Wellershoff seine Prosa, auf der er weitgehend gefahrlos von Verbrechern, Verrückten, Illusionisten und Scheiternden erzählen kann. Viele seiner Figuren versuchen der Ordnung des Alltags zu entkommen, ihre Weltbilder lösen sich auf.

    Virtuoser Umgang mit Perspektiven und Zeitebenen

    In den ersten Romanen "Ein schöner Tag", "Einladung an alle" oder "Die Schattengrenze" übersetzt der Autor das Ausbrechen aus der Ordnung in Erzählstrukturen, die heute teilweise angestrengt experimentell wirken.
    Die Auflösung der Chronologie, die Wiedergabe von Gedankensplittern, die schnellen Überblendungen fehlen in den späteren Werken, in "Der Sieger nimmt alles" oder dem erfolgreichen "Liebeswunsch", einem Liebesquartett mit tödlichem Ausgang. Allerdings wechselt Wellershoff weiterhin virtuos die Zeitebenen und Erzählperspektiven, um den Figuren nahe zu sein.
    "Beim Schreiben hat man eine eigenartige Erfahrung der Wandelbarkeit der Dinge. Während man eine schreckliche Geschichte von Mord und Totschlag schreibt, kann man trotzdem glücklich sein. Dieses Glück ist etwas, was nicht materiell fassbar ist. Das Glück liegt darin, dass man eine angstfreie Sicht, einen komplexen Bezug zum Leben hat. Was scheinbar schlecht ist, wird dadurch, dass es zu einem Erkenntnisobjekt wird, eine Bereicherung."
    An dieser Verwandlung der Dinge hat Wellershoff ein Leben lang gearbeitet, und der Begriff "Leben" kehrt in seinen Buchtiteln immer wieder. Über Altern und Sterben sprach er zuletzt auch auf der Audio-CD "Ans Ende kommen", die 2014 zum "Hörbuch des Jahres" gekürt wurde.
    Nun ist Dieter Wellershoff mit 92 Jahren in Köln gestorben, wie sein Verlag Kiepenheuer & Witsch mitteilte.

    Programmhinweis: Im "Studio 9 am Nachmittag" sprechen wir heute mit dem Verleger Helge Malchow über Dieter Wellershoff. Die Sendung beginnt um 17 Uhr.

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