Nachrichtendienst Telegram

Wenig regulierter Ort für wilde Theorien

11:15 Minuten
Zwei Hände halten ein Telefon auf dem der Messenger Telegram installiert ist.
Wo Verschwörungstheorien und Hass gedeien können: der Messengerdienst Telegram. © laif / Jonas Gilles
Felix Huesmann im Gespräch mit Teresa Sickert und Tim Wiese · 23.05.2020
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Halb Messenger, halb Social Network: Auf Telegram tummeln sich die, die sich auf anderen Plattformen nicht willkommen fühlen. Der Journalist Felix Huesmann erklärt, was hinter der beinahe unregulierten Plattform ohne Firmensitz steckt.
Jede Menge Verschwörungsmythen zirkulieren gerade in der Welt, fast wie ein eigenes Virus. Mit den Theorien haben wir uns bei Breitband bereits ausführlich beschäftigt. Einer der Orte, an denen viele dieser wilden Theorien geteilt werden, ist Telegram.
Gefühlt handelt es sich um einen geschützten Hafen für alle, die sich bei den großen Playern Facebook und Twitter nicht sicher fühlen. Telegram ist beliebt bei Rechtsextremen und Verschwörungsmythikern, aber genauso auch bei Aktivistinnen und Aktivisten in Hongkong oder dem Iran.
Was ist das also für eine Plattform, bei der anscheinend andere Regeln gelten? Das weiß der Journalist Felix Huesmann, der sich seit einigen Jahren mit dem Messenger beschäftigt – und dem, was dort geschieht.

Telegram ist ein Krisengewinner

Nach eigenen Angaben ist die Nutzerzahl von Telegram weltweit deutlich angestiegen. Mittlerweile habe der Messenger mehr als 400 Millionen aktive Nutzerinnen und Nutzer im Monat und gehöre damit zu den großen Playern, sagt Felix Huesmann – und zu den Gewinnern in der Coronakrise.
Ein Grund dafür sei, dass Telegram für ganz viele seiner Nutzerinnen und Nutzer eine Art Underdog-Image habe, so Huesmann. Die Leute würden dem Marktführer WhatsApp nicht vertrauen und sähen in Telegram eine Alternative, die auch nicht so stark reguliert wird. Außerdem sei dort auch rein technisch viel mehr möglich. Zum Beispiel könnten dort große Kanäle und viel größere Gruppen betrieben werden als auf WhatsApp.

Niemand weiß, wer für Telegram arbeitet

Hinter dem Unternehmen steckt der russische Unternehmer Pavel Durov, der 2006 gemeinsam mit seinem Bruder Nikolai, den russischen Facebook-Klon VK gegründet habe, sagt Felix Huesmann. Weil der russische Geheimdienst Druck gemacht habe, habe Durov seine Geschäftsanteile an dem Social Network verkauft und schließlich sowohl das Unternehmen als auch Russland verlassen.
2013 habe er dann gemeinsam mit seinem Bruder Telegram gegründet, so Huesmann. Heute würde Telegram laut eigenen Angaben von einem Entwicklerteam betreut, das zum Großteil ebenso wie die Durovs aus Sankt Petersburg kommen soll. Wer allerdings wirklich alles für die Plattform arbeitet und wo, das sei ziemlich unbekannt.

Ein Mäzen kontrolliert die Plattform

Telegram habe seinen Hauptsitz, laut eigenen Angaben, zeitweise in Berlin, in London und in Singapur gehabt – und jetzt angeblich in Dubai. Was Telegram aber nicht habe, ist eine öffentliche Geschäftsadresse, ein Impressum auf der Website. Auch die Firma, die offiziell lange hinter dem Messenger steckte, sei 2019 aufgelöst worden. Wer heute rechtlich dahinter steckt, sei unbekannt, so Huesmann.
Die Plattform sage von sich selber, dass sie gar nicht das Ziel haben, Profit zu erwirtschaften, sagt Felix Huesmann. Laut Telegram-Angaben werde der Messenger bislang komplett durch Durov finanziert, der durch den Verkauf des Netzwerks VK zum Multimillionär geworden sei. Und sollte das Geld irgendwann nicht mehr reichen, wolle man nicht notwendige optionale Zusatzdienste gegen Bezahlung anbieten. Telegram an sich solle aber immer kostenlos bleiben.

Nur gegen den IS wurde bisher vorgegangen

Ein weiterer Punkt, den Huesmann anspricht, ist, dass Telegram sich den meisten Formen von staatlicher Regulierung entziehe. Wogegen Telegram seit 2015 relativ energisch vorgehe, seien aber Gruppen und Kanäle der Terrormiliz IS.
"Davon unberührt bleiben allerdings zahlreiche Kanäle und Gruppen, in denen nicht nur hasserfüllte Inhalte verbreitet werden, sondern zum Beispiel auch rechtsextreme Terroristen gefeiert und glorifiziert werden", erläutert Felix Huesmann. "Und das machen sich gerade rechtsextreme Akteure nicht nur, aber auch in Deutschland ganz gezielt zunutze und gehen zu Telegram. Da können sie dann ganz offen agieren und fordern, dass Politiker aufgehängt werden, ohne dass dagegen etwas getan wird."
Möglich und für entsprechende Akteure interessant sei dies auch, weil bei Telegram – im Gegensatz zu WhatsApp – Gruppen bis zu 200.000 Mitglieder umfassen können. Kanäle, in denen nur die Betreiber selber Inhalte verbreiten und die Mitglieder nur stumme Abonnenten sind, könnten dabei noch größer sein. Diese nutzten verschiedene Akteure quasi wie ein großes soziales Netzwerk und tatsächlich überhaupt nicht mehr wie einen privaten Messenger, erklärt Felix Huesmann.

Radikalisierung in Echtzeit

Sicherheitsbehörden müssen sich diese Entwicklung bewusst sein und handeln, meint Huesmann. Es gebe in Deutschland nicht nur eine Gruppe oder einen Kanal, sondern eine Vielzahl aus der rechtsextremen und der verschwörungsideologischen Szene, in denen mitunter relativ offen zu Gewalt aufgerufen werde.
Dort könne man teilweise eine Radikalisierung in Echtzeit beobachten, sagt Felix Huesmann. Darum sei es wichtig, einen Blick auf diese Gruppen zu haben, wolle man zum Beispiel Terrorgefahren frühzeitig erkennen.
Aus Huesmanns Sicht tragen solch unregulierte Plattformen entscheidend zur Verbreitung von Hass, Falschmeldungen und Verschwörungstheorien bei.
"Das heißt, wir müssen diese Plattform kennen und verstehen", sagt Felix Huesmann. "Wer diese Probleme aber wirklich ursächlich angehen will, der hat, fürchte ich, noch viel mehr zu tun, als sich nur mit dieser Verbreitungstechnik auseinanderzusetzen. Da geht es dann um Präventions- und Bildungsarbeit. Und gerade wenn wir über Verschwörungstheorien reden, auch ganz stark darum, dass die Gesellschaft anerkennen muss, dass es sich nicht nur um irgendwie lustige Verwirrte handelt, sondern um eine Bedrohung für unsere Gesellschaft."
(hte)
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