Nachmittags ist keiner mehr da

Von Anja Rosenow-Sottorf · 26.05.2011
Es hat Plünderungen überstanden, eine Zeitlang hauptsächlich Kriegsopfer behandelt, Frauen ausgegrenzt, mehrmals den Wiederaufbau erlebt und moderne medizinische Geräte angeschafft: Das Maiwand Krankenhaus im Zentrum von Kabul.
Auf dem Maiwand Platz in Kabul herrscht Hochbetrieb: Die Männer schlenkern Tüten mit Brot an den Handgelenken, schleppen Pakete, vorbei an den Geschäften mit Töpfen, Seilen, Schuhen, Stoffen oder Gewürzen. Einige wenige Kinder und Frauen laufen über den Platz, die meisten in blauen Burkas, einige auch nur mit Kopftuch.

Die Autos schieben sich mühsam auf der vierspurigen Straße voran. Ihr Platz ist eng durch die Garküchen und fahrenden Händler am Straßenrand, die Orangen von Holzkarren verkaufen oder Gemüse anbieten. Die große Pul-e-Kheshti Moschee mit ihrer mächtigen blass blauen Kuppel scheint der einzige Ruhepol der Gegend zu sein.

500 Meter weiter eilen die Menschen auf dem kaputten Bürgersteig am Maiwand Krankenhaus vorbei, das sich hinter einer Häuserzeile verbirgt. Durch eine Toreinfahrt betritt man das Gelände der Klinik. Der Straßenlärm dringt nur noch gedämpft herein. Gleich links die Notfallambulanz. Ein paar Holzbänke stehen davor, durch ein Dach geschützt.

Zur Anmeldung geht es ein paar Treppenstufen nach oben. Drinnen ist es schummrig, ein Vorhang trennt den Untersuchungsraum vom schlauchartigen, fensterlosen Wartebereich. Zu beiden Seiten stehen Holzbänke. Es ist halb vier am Nachmittag. Doch auf den Bänken sitzt niemand mehr. "Da hätten Sie eher kommen müssen", meint Gulum Yayah, der mit zwei Kollegen aus dem Untersuchungsraum tritt. Er ist der Chef der Krankenpflegerinnen und Pfleger im Maiwand Krankenhaus und gerade im Begriff zu gehen:

"Zu uns in die Notfallambulanz kommen normalerweise um die tausend Patienten pro Tag. Das Krankenhaus kennt jeder. Es ist im Zentrum von Kabul, deswegen kommen alle hierhin. Wir behandeln alles hier. Hauptsächlich kommen Patienten mit Hautproblemen, Infektionskrankheiten oder Knochenbrüchen und so weiter."

Aber jetzt, am Nachmittag, versehen nur noch wenige Ärzte und Pfleger ihren Dienst. Operationen finden generell nur von 8 Uhr morgens bis 12 Uhr statt. Die Gehälter in dem öffentlichen Krankenhaus sind schlecht. Viele Ärzte haben deswegen eigene Praxen und bessern dort nachmittags ihr Einkommen auf. So sei das überall, sagt Gulam Yayah. Wer kein echter Notfall sei, komme eben morgen wieder. Trotz des geringen Gehalts arbeiteten aber alle mit hohem Einsatz, beteuert er:

"Wir haben so viele Patienten pro Tag, die zu uns kommen. Die größte Anzahl der Patienten sind Kinder. Die Ärzte und Pfleger tun ihr Bestes, sie helfen, wo es geht."

Das Maiwand Krankenhaus ist eines der ältesten in Kabul. Die Anlage aus den 1930er-Jahren besteht aus mehreren Gebäuden, die sich um einen kreuzartigen Innenhof mit ein paar Bäumen gruppieren. Die Geschichte des Krankenhauses spiegelt die Geschichte des Landes wider. Es hat Plünderungen überstanden, eine Zeitlang hauptsächlich Kriegsopfer behandelt, Frauen ausgegrenzt, mehrmals den Wiederaufbau erlebt, hat in den letzten zehn Jahren eine neue Krankenhauswäscherei bekommen und moderne medizinische Geräte angeschafft. Mit seinem Spezialgebiet, der plastischen Chirurgie, ist das Maiwand Krankenhaus einmalig in Afghanistan. Seit einigen Jahren arbeiten die 500 Ärzte und Pfleger auch mit der Universität zusammen. Pro Semester lernen etwa 70 bis 80 Studenten auf jeder der elf Stationen.

Eine davon ist die Kinderstation, ein zweistöckiges graues Gebäude mit 70 Betten. Im Eingang stehen ein paar Männer, auf einem Tisch liegt aufgeschlagen ein dickes Anmeldebuch, die zwei Stühle dahinter sind unbesetzt. Auf einer Bank wartet eine Frau, ihre Burka hat sie zurückgeklappt.

Ansonsten ist niemand zu sehen. Auch im ersten Stock ist der breite, blank geputzte Flur wie verwaist. Weder Betten noch Essenswagen stehen herum, nur zwei grau-braune Sauerstoffflaschen. Die Wände sind schmucklos, nirgendwo Kinderbilder. Hier arbeitet Mohamad seit vier Jahren:

"Vorher habe ich im Indira Ghandi Kinderkrankenhaus hier in Kabul gearbeitet. Da habe ich dasselbe gemacht wie hier. Ich habe drei Jahre nach der Schule Krankenpfleger gelernt. Ich wollte das nicht unbedingt werden, aber es gab kaum etwas anderes."

Mohamad verdient 3000 Afghani im Monat, etwa 50 Euro. Für seine Familie mit den drei Söhnen reicht das nicht. 10.000 Afghani müsse er schon haben, sagt Mohamad:

"Für das tägliche Leben, Essen und Kleidung brauchen wir etwa 300 Afghani am Tag, das sind etwa 5 Euro. Miete zahle ich nicht. Draußen muss ich also noch dazuverdienen. Seit Anfang des Jahres haben schon 50 Krankenschwestern und Pfleger das Krankenhaus verlassen, weil sie so wenig verdienen. Man verdient hier kaum mehr als ein Kofferträger."

Draußen – das ist für Mohamad eine private Arztpraxis. Dort arbeitet er nach seiner Krankenhausschicht bis spät abends. So kommt er über die Runden. Die Familien seiner kleinen Patienten, die er im Krankenhaus betreut, sind aber noch ärmer dran, erzählt er.

Da ist zum Beispiel Mariam. Sie steht in einem kleinen Krankenzimmer, das mit sieben weißen Gitterbettchen vollgepfropft ist. In einem freien Bett liegt nachlässig ihre Burka, in einem anderen wimmert leise ihr Sohn Omolbaní.

Mariam: "Mein Baby ist sechs Monate alt. Vor 15 Tagen wurde es sehr krank. Es hatte hohes Fieber und Krämpfe. Als wir in die Notaufnahme kamen, hat der Arzt nur ein Rezept ausgestellt. Er meinte, mein Baby braucht nicht stationär aufgenommen zu werden. Wir sind nach Hause gegangen. Erst hat die Medizin auch geholfen, aber dann wurde es wieder schlimmer und wir sind zum Krankenhaus zurück. Wenn die Ärzte es gleich ernstgenommen hätten, dann wäre es nicht so schlimm geworden, denke ich. Aber jetzt suchen sie nach dem Problem."

Das lange schwarze Kleid macht Mariam noch dünner, als sie sowieso schon ist. Die 20-Jährige blickt sorgenvoll auf ihren kleinen Sohn. Seine Wangen sind hochrot, seine Haare schweißnass. Er atmet schnell. Omolbaní hat es sichtlich schwer in diesem Zimmer, in dem die Heizungen auf vollen Touren laufen und die stickig-feuchte Luft zu stehen scheint. Doch Mariam ist froh, dass für Omolbaní überhaupt ein Bett frei war und dass das nichts kostet. Sie seien sehr arm, erzählt sie:

"Mein Mann ist Ingenieur. Er hat studiert, aber leider ist es gerade sehr schwer für ihn, Arbeit zu finden. Zur Zeit hat er keine. Das ist ein großes Problem im Moment in Afghanistan. So viele studierte Leute sitzen zu Hause ohne Arbeit. Seit zwei Jahren kann mein Mann keine finden."

Mohamad kennt diese Geschichten. Er weiß um die Nöte der Armen, die oft dankbar sind, weil sie hier allein dreimal am Tag zu essen bekommen. In allen öffentlichen Krankenhäusern in Afghanistan ist die Behandlung und die Unterbringung umsonst:

"Die Kranken, die kein Geld haben, kommen hierher. Die anderen, die bezahlen können, gehen in private Krankenhäuser. Die Arztvisite kostet nichts, aber die Medizin, also auch Spritzen, müssen die Patienten selbst bezahlen. Nur um Mitternacht, bei Notfällen, bekommen die Patienten die Medikamente umsonst. Am Tag kriegen die Eltern hier ein Rezept für die Krankenhausapotheke."

Die Krankenhäuser hätten einfach nicht genug Medikamente, sagt Mohamad fast entschuldigend. Viele Eltern und Patienten machten deswegen Schulden. Eine Krankenversicherung, egal ob privat oder gesetzlich, gibt es nicht. Die Investitionen auf dem Gesundheitssektor sind in den letzten 10 Jahren zwar leicht gestiegen, reichen aber bei weitem nicht aus für die knapp 30 Millionen Afghanen. Statistisch gesehen kommen auf 10.000 Einwohner nur zwei Ärzte und 4,2 Krankenhausbetten. Auf dem Land haben nur etwa zwei Drittel der Menschen Zugang zu medizinischer Versorgung. 80 Prozent der Ärzte arbeiten in Kabul, wo auch 60 Prozent der Krankenhausbetten und 40 Prozent der Apotheken konzentriert sind. Mariam und Omolbaní profitieren davon. Und sie wird alles dafür tun, damit ihr kleiner Sohn wieder gesund wird:

"Wir müssen das Geld irgendwie auftreiben für unser Kind. Zur Zeit bezahlt mein Schwiegervater die Medikamente."

Das Zimmer neben Mariam und Omolbaní ist voll belegt. Sechs kleine Patienten liegen hier. Auch in diesem Raum ist es stickig und sehr warm. Aber für die Mutter ist das nicht der Grund zur Klage:

"Das ist mein Baby. Als es aufgenommen wurde, war ich sehr froh. Die Ärzte und Pfleger kümmern sich gut. Aber wir haben ein großes Problem. Um vier Uhr wird die Heizung abgestellt und danach wird es schrecklich kalt. Ich wünsche mir, dass die Heizung warm wird, auch für die anderen Kinder, es ist zu kalt für unsere kranken Babys."

Die Nächte in Kabul sind bitterkalt. Die Eltern bringen sich und ihren Kindern zusätzliche Decken von zu Hause mit. Zu ändern ist das aber nicht, meint Mohamad. Denn die öffentlichen Krankenhäuser hätten nicht genug Geld, um immer zu heizen.

"Wir müssen die Heizung ab 12 Uhr nachts abstellen. Es ist einfach zu teuer, sie durchlaufen zu lassen, das kann sich das Krankenhaus nicht leisten. Aber unsere Kinder sind hier, weil sie starke Erkältungen haben. Wenn es nachts zu kalt ist, dann können sie nicht schnell gesund werden."

Mohamad betrachtet die Frau, die auf einer der schmalen, rot gepolsterten Bänke sitzt, die vor den Gitterbetten stehen. Darauf übernachten die Mütter. Ihre wenigen mitgebrachten Dinge liegen in Plastiktüten verstaut auf den schmutzigen Laken der Kinderbetten. Schränke gibt es im Krankenhaus nicht. Selbst Nachttische haben in diesem kleinen Raum keinen Platz. die Gemeinschaftswaschräume mit den Toiletten sind auf dem Flur. Dort stehen auch zwei runde Handwaschbecken aus Plastik auf einem Ständer, darin eine trübe Flüssigkeit.

Mohamad: "Das ist eine antiseptische Lauge. Die Mütter waschen damit ihre Hände. Wir haben große Probleme mit der Hygiene. Darüber könnten wir uns lange unterhalten. Aber das größte Problem für die Mütter und die Kinder sind die Armut und die fehlende Bildung. Viele sind Analphabeten, wissen nichts über Hygiene, haben einfach zu viele Kinder."

Die Folgen der Armut werden in einem anderen Raum sichtbar. Das Krankenhaus hat extra Betten nur für unterernährte Kinder. Sie kommen von überall; aus Kabul, dieser Stadt, die mittlerweile mehr als viereinhalb Millionen Einwohner hat und aus dem Umland. Mohamad zeigt auf ein kleines Baby, das fest in ein Tuch gewickelt ist. Es kommt aus Khost, 200 Kilometer südöstlich von Kabul:

"Als es herkam, mitten in der Nacht, da war es wie im Schockzustand. Es hatte chronischen Durchfall und war vollkommen dehydriert. Dann ging es ihm aber bald besser hier."

Die Kinder werden mit hochproteinhaltiger Babymilch langsam aufgepäppelt. Für Infusionen reicht das Geld nicht. Auch die Mütter der Babys seien in einem desolaten Zustand, sagt Trina. Sie ist Gynäkologin und hat eine eigene Praxis in Kabul:

"Die Mütter sind so arm, normalerweise stillen sie nicht länger als sechs Monate. Danach müssen sie abstillen, sie haben einfach nicht mehr Milch. Viele haben fünf und mehr Kinder; sie kriegen eins nach dem anderen, ohne Pause. Sie sind sehr geschwächt und leiden an Blutarmut. Es gibt hierzulande keine Geburtenkontrolle. viele Mütter haben zudem keinerlei Wissen, wie sie ihr Kind nach dem Stillen richtig ernähren. Das ist ein großes Problem in Afghanistan."

Deshalb werden hier im Krankenhaus Themen wie Ernährung und Familienplanung besprochen. In einfachen Bildergeschichten wird eine Zwei-Kind-Familie gezeigt und erläutert, wie auch mit einfachen Mitteln richtiges Essen zubereitet werden kann. Derlei Aufklärung ist dringend notwendig. Denn Afghanistan hat eine der höchsten Mutter-Kind-Sterblichkeitsraten der Welt: Jedes Jahr verlieren etwa 24.000 Frauen vor, während oder direkt nach einer Entbindung ihr Leben. Knapp ein Viertel der Kinder stirbt vor dem fünften Lebensjahr. Medizinische Betreuung während der Geburt erfahren etwa nur 19 Prozent der Frauen. Daran hat sich auch in den letzten Jahren nichts wesentlich geändert. Für die Gynäkologin Trina sind diese Zustände nur schwer zu ertragen:

"Mir geht es nicht gut damit. Ich denke ständig an diese Menschen, an die Frauen und wie wir ihnen helfen können. Manchmal gelingt es uns, aber diese Menschen machen es uns auch schwer. Sie schieben alles auf Allah. Sie ändern nichts, sie sagen, alles kommt von Allah."

Trina blickt auf die dürren Kinder mit ihren eingefallenen Gesichtern. Das Krankenhaus bemühe sich ja schon, meint sie, aber es müsste weitaus mehr getan werden:

"Wir müssen die Frauen ermutigen und wir müssen mit den Medien zusammenarbeiten, Broschüren anfertigen. In den Krankenhäusern mit einfachen Flip-Charts arbeiten, um ihnen zu zeigen, wie sie auch mit schlichten Mitteln bessere Mahlzeiten für sich und ihre Kinder zubereiten können. Wir hatten diese Programme schon in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsbehörde. Aber heute, ich weiß nicht warum, denkt man nicht mehr so an die ganz Armen. Deren Lebensumstände sind aber sehr schlimm in Afghanistan."
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