Nachkriegsautor

"Sehnsucht nach Weltliteratur"

Undatierte Aufnahme des deutschen Schriftstellers Alfred Andersch.
Alfred Andersch © picture-alliance / dpa
Moderation: Liane von Billerbeck · 04.02.2014
Sein Roman "Sansibar oder der letzte Grund" war lange Schullektüre in Deutschland. Angelehnt an den Existenzialismus eines Jean-Paul Sartre stellt Alfred Andersch darin menschliche Grundfragen. Der Schriftsteller, der sehr politisch dachte, wäre heute 100 geworden.
Liane von Billerbeck: Wenn ich jetzt einen Buchtitel nenne, dann werden zumindest einige von Ihnen sofort ein Aha-Erlebnis haben und sich an ihre Schulzeit erinnern! "Sansibar oder der letzte Grund" heißt der Titel des Buches, das ich meine, geschrieben hat es Alfred Andersch.
Andersch war eine Instanz in der deutschen Nachkriegsliteratur, hat die legendäre Gruppe 47 mitbegründet, und heute jährt sich sein Geburtstag zum 100. Mal. Und deshalb wollen wir über diesen streitbaren Autor, der sich auch immer wieder eingemischt hat in die politischen Auseinandersetzungen der Bundesrepublik, heute sprechen. Und zwar mit unserem Literaturkritiker Helmut Böttinger, der Anderschs Werk bestens kennt. Er hat ein Buch über die Gruppe 47 geschrieben, ein Buch, für das er zudem im vorigen Jahr den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse bekam. Helmut Böttiger, herzlich willkommen!
Helmut Böttiger: Guten Tag!
von Billerbeck: Andersch wurde ja einmal als der Literaturbetriebsmaschinist der deutschen Nachkriegsmoderne bezeichnet. Hören wir ihn zuerst mal selbst, mit einem Ausschnitt aus Anderschs Gedicht "Artikel 3 (3)"!
O-Ton Alfred Andersch: Ein Volk von Ex-Nazis und ihren Mitläufern betreibt schon wieder seinen Lieblingssport, die Hetzjagd auf Kommunisten, Sozialisten, Humanisten, Dissidenten, Linke.
von Billerbeck: Alfred Andersch war das. Herr Böttiger, welche Rolle hat er gespielt in der Literaturszene der alten Bundesrepublik?
In den 70er-Jahren ein "heimatloser Linker"
Böttiger: Ja, in diesem Gedicht hört man das schon. In den 70er-Jahren, das war ein Gedicht, das hing als Zeitungsausschnitt im Grunde in jeder Wohngemeinschaft damals. Es ging gegen die Berufsverbote unter Willy Brandt. Er spielte da eine große Rolle als sogenannter heimatloser Linker, als unabhängiger Linker. Wichtig allerdings, vielleicht noch wichtiger war er in den 50er-Jahren, das ist seine große Zeit. Und das kann man gar nicht überschätzen, welche Funktion er damals hatte.
Er war vor allem früh Rundfunkredakteur bei Radio Frankfurt, direkt nach dem Zweiten Weltkrieg hat er das berühmte "Abendstudio" in Frankfurt gemacht, danach das "Nachtstudio" beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart, wo er große Autoren vorgestellt hat. Arno Schmidt konnte im Grunde zehn Jahre lang nur existieren als Schriftsteller, weil er von Alfred Andersch immer Aufträge für Features bekam, das war wirklich große Kultur im Radio, die wirklich die Diskussionen auf Höhe des Gegenstands führten. Gleichzeitig hat Alfred Andersch in den 50er-Jahren die Literaturzeitschrift "Texte und Zeichen" herausgegeben drei Jahre lang, die fulminant war, die heute noch als eine absolut edle Zeitschrift gilt, die alles, was damals als Moderne existierte, nach Deutschland brachte, wo man die Moderne ja nicht kannte. Also, seine Rolle als Vermittler, als Kenner der Weltliteratur, als großer Demokratisierer der Innenpolitik in der Adenauer-Republik, die ist unverkennbar.
von Billerbeck: War er denn eigentlich auch als Autor ein Avantgardist?
Böttiger: Als Autor spielte er eine große Rolle in den 50er-Jahren durch seine Inhalte, weniger durch seinen Stil. Und da haben wir schon ein bisschen was vom Widersprüchlichen dieses Autors. Er schrieb eigentlich sehr realistisch, er hatte eigentlich in seiner eigenen schriftstellerischen Tätigkeit wenig zu tun mit den Autoren, die er propagierte. Also, Arno Schmidt oder Sartre vom Stil her. Er war ein Autor, er sich theoretisch immer angelehnt hat an die Avantgarde, inhaltlich in dem Buch "Die Kirschen der Freiheit" von 1952, da provozierte er durch die Beschreibung seiner Desertion aus der Deutschen Wehrmacht und das war natürlich Anfang der 50er-Jahre eine absolute Provokation.
Die innenpolitische Stimmung in der Bundesrepublik war so, dass natürlich die Deutsche Wehrmacht unschuldig war, dass man unschuldig im Krieg verheizt wurde. Und die ganzen Verbände protestierten vehement gegen Andersch, er stand mit dem Rücken zur Wand. Und als er Arno Schmidt verteidigte, dem eine Anklage wegen Gotteslästerung drohte, zeigt sich auch, wie defensiv er eigentlich im Milieu der frühen Bundesrepublik agieren musste.
Gleichzeitig war er aber einer der großen, fortschrittlichen Modernisierer, das macht seinen Zwiespalt aus. Geschrieben hat er dann mit "Sansibar oder der letzte Grund" einen Roman, der ja jahrzehntelang Schulbuchlektüre war, wo er auch in einer sehr klassischen, realistischen Sprache, angelehnt an den Existenzialismus von Sartre, menschliche Grundfragen stellte.
von Billerbeck: Sie, Helmut Böttiger, haben sich ja ausführlich mit der Gruppe 47 befasst, Andersch gehörte zu den Mitgründern. Welche Rolle hat er da gespielt?
"Sprachrohr der im Krieg verheizten Jungen"
Böttiger: Er hat ja mit Hans Werner Richter, dem Initiator der Gruppe 47, die Zeitschrift "Der Ruf" herausgegeben, von 1945 bis 1947. Das war eine Zeitschrift, die hieß "Für die junge Generation" und war das Sprachrohr dieser im Krieg tatsächlich verheizten Jungen, die im Alter von 18, 19 Jahren in den Zweiten Weltkrieg kamen. Das war eine dezidiert politische Zeitschrift und daraus entwickelte sich dann die Gruppe 47, als diese Zeitschrift verboten wurde, weil sie doch zu sozialistisch war für die amerikanischen Besatzungsbehörden.
Und in der Gruppe 47 spielte Andersch am Anfang eine Rolle als Ideologe. Er hat eine Grundsatzrede gehalten über die "Deutsche Literatur in der Entscheidung" und da fällt auf, dass er eigentlich gar nicht diese Ideologie des Kahlschlags vertreten hat, die man mit der Gruppe 47 in Verbindung bringt mittlerweile, sondern er hat sehr die innere Immigration in den Vordergrund gerückt, weil er selber ja ein innerer Immigrant war. Er hat in den 30er-Jahren überlebt als Werbetexter, wollte auch ein Autor sein, hat auch ein, zwei Zeitungsartikel veröffentlicht. Und die innere Immigration kommt bei ihm erstaunlich gut weg und …
von Billerbeck: Weil es sein eigenes Leben betrifft?
Böttiger: Weil er selber tatsächlich untergekrochen ist in der Zeit des Nationalsozialismus und versucht hat, irgendwie zu überleben. Und die Autoren, die so in Deutschland geblieben sind, hatten von vornherein auch seine Sympathie, weil er selber in Deutschland geblieben war. Das ist aber auch etwas, was er sich danach vorgeworfen hat, wie er in Deutschland geblieben ist. Also, das ist etwas Widersprüchliches, was sich in seiner Biografie immer durchzieht.
von Billerbeck: Vorwürfe gab es ja auch, was er von seiner Biografie öffentlich gemacht hat und was nicht. Zuerst vom Schriftsteller W. G. Sebald 1993 in "Lettre", der hatte gesagt, einerseits wäre Andersch sehr rigoros gewesen, was seinen Umgang mit dem Nationalsozialismus betrifft, also was er gefordert hat, und da hat er hohe Maßstäbe angelegt. Andererseits hat er diesem Maßstab selbst nicht entsprochen. Und er erinnerte daran, dass Andersch sich 1943 aus Karrieregründen von seiner halbjüdischen Frau hat scheiden lassen. Was ist dran an diesem Vorwurf?
Böttiger: Ja, das wird in den letzten Jahren ein bisschen zu sehr skandalisiert. Das kommt auf den Blickwinkel an, den man einnimmt. W. G. Sebald, das muss man sagen, das hat mehr was mit der eigenen Autorposition von Sebald zu tun, für den Moral und das In-Anspruch-Nehmen der Moral für sich selbst eine große Rolle spielte. Aber das wäre ein eigenes Thema.
Er traf Andersch Anfang der 90er-Jahre eigentlich in der Rolle, die Andersch in der Bundesrepublik als Aufklärer spielte in den 50er-, 60er-Jahren, auch in seiner Rolle als Linker. Diese biografische Verfehlung, die Andersch in den 40er-Jahren nachzuweisen ist, ich würde sagen, da unterscheidet er sich eigentlich in nichts von der absoluten Mehrheit der Deutschen. Da ist ihm nicht mehr vorzuwerfen als, wie sich die Mehrheit der Deutschen verhalten hat. Entscheidend, um Andersch richtig einzuordnen, ist, wie er sich nach 1945 verhalten hat.
von Billerbeck: Warum, warum ist das wichtiger?
"Er hat aus seinem Verhalten vor 1945 Konsequenzen gezogen"
Böttiger: Das ist deswegen wichtiger, weil er im Gegensatz zu den meisten anderen in der sogenannten inneren Immigration wirklich Konsequenzen daraus gezogen hat, wie er sich verhalten hat vor 1945. Er hat tatsächlich sehr offensiv alles, was das Weiterwirken von antisemitischen Tendenzen anbelangte, angeprangert. Er hat die Kontinuität von nationalsozialistischem Führungspersonal in der Adenauer-Republik angeprangert, er hat sich selber vorgeworfen, dass er sich geduckt hat. Es war ihm unangenehm, wie er in seiner biografischen Rolle in den 30er-Jahren versucht hat, nur zu überleben. Er hat der Kommunistischen Partei vorgeworfen, der er angehört hat als 18-, 19-Jähriger, wie defensiv sie ich verhalten hat, dass sie nicht offensiv gegen die Nazis gekämpft hat. Das hat ihn umgetrieben und das hat er in den 50er-Jahren offensichtlich propagiert.
Er war ein absoluter Aufklärer, Demokratisierer. Und das unterscheidet ihn von den vergleichbaren Generationskollegen in der inneren Immigration, die immer vom hehren deutschen Geist gesprochen haben, dem nichts anzuhaben sei, der von der kruden Politik ja nicht berührt werden würde. Da hat Andersch heftig dagegen polemisiert, dass er gesagt hat, der deutsche Geist, den muss man hinterfragen, es geht wirklich um einen Demokratisierungsprozess, der jetzt notwendig ist.
von Billerbeck: Nun ist es ja so, wir haben es beide schon erwähnt, dass Andersch ja Jahrzehnte Schullektüre war mit seinem Buch "Sansibar oder der letzte Grund", und es gibt eine Werkausgabe. Aber trotzdem, wenn man ihn vergleicht mit Autoren wie Günter Grass oder Max Frisch, dann ist er öffentlich viel weniger bekannt. Woran liegt das?
Böttiger: Ja, das ist merkwürdig. Er spielt in den 60ern, 70ern wirklich eine ganz große Rolle, ihn hat man in einem Atemzug genannt damals mit diesen Autoren, Frisch, Grass. Es gab eine riesige Werkausgabe. Ich glaube, es liegt daran, dass sein Thema doch sehr stark auf dem Faschismus, Nationalsozialismus und der Verdrängung der Adenauer-Zeit in den 50er-Jahren lag, damit wird er verknüpft. Auch in der Schullektüre "Sansibar oder der letzte Grund", übrigens immer noch ein lesenswerter Roman. Der beschäftigt sich mit den Verfehlungen der Deutschen in der Nazi-Zeit. Das war Schullektüre und dagegen begehrt man dann in den 80er-, 90er-Jahren irgendwann auf. Das ist, glaube ich, ein natürlicher Prozess, dass dieses Thema des Nationalsozialismus die Schüler dann in den 90er-Jahren nicht mehr so erreicht wie in den 60er-, 70er-Jahren.
Er ist thematisch von daher begrenzt auf diese deutsche Grunderfahrung und das unterscheidet ihn von populären Autoren wie Max Frisch, der geradezu zeitlose Themen, Mann - Frau, im Vergleich dazu bearbeitet, oder Günter Grass, der in anderer Weise sich politisch eingemischt hat. Also, er scheint mehr zeitgebunden zu sein, aber dennoch lohnt sich literaturgeschichtlich auf jeden Fall die Lektüre seiner Bücher.
von Billerbeck: Lässt sich da noch irgendwas Neues entdecken?
Böttiger: Jetzt beim Nachlesen war ich verblüfft, wie großartig Essays sind wie "Nördlicher Breitengrad" in den 60er-Jahren, wo er eine Reise nach Skandinavien macht. Also, ein Musterbeispiel eines politisch-literarischen Essays, oder wie er einen römischen Winter Anfang der 60er-Jahre beschreibt, wo er die berühmten italienischen Schriftsteller Alberto Moravia oder Pier Paolo Pasolini trifft in einem römischen Café, wo man seine Sehnsüchte nach einer großen Weltliteratur merkt. Also, das ist sehr spannend auch heute wieder zu lesen, und da bleibt er auf jeden Fall.
von Billerbeck: Helmut Böttiger, Autor des im vorigen Jahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Buches über die Gruppe 47, über Alfred Andersch, heute vor 100 Jahren wurde er geboren. Danke für das Gespräch!
Böttiger: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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