"Nachhilfeunterricht" in transnationaler Politik

Roland Roth im Gespräch mit Katrin Heise · 21.01.2010
Das Netzwerk "attac" habe sich von Anfang an als "Volkshochschulbewegung" verstanden und große Verdienste bei der Aufklärung über Probleme transnationaler Politik geleistet, sagt der Politikwissenschaftler Roland Roth, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von "attac" anlässlich des zehnjährigen Bestehens.
Roland Roth: Da haben Sie sicher recht, das Thema ist so alt wie marktwirtschaftliche und kapitalistische Ökonomie, die ja von Anfang an eine transnationale Veranstaltung war. Schon Karl Marx hat das beobachtet. Aber wenn Sie so wollen, haben wir doch in den Achtzigern und vor allem dann auch in den 90er-Jahren mit dem Ende des real existierenden Sozialismus eine Globalisierungswelle erlebt, die alles, was vorher war, in den Schatten stellte. Und von daher ist das wirklich eine neue Phase, die einfach eine Gewichtsverschiebung bedeutet, in dem Sinne, dass das, was vorher im nationalstaatlichen Rahmen auch politisch möglich war, vielerorts eben durch transnationale Bedingungen verändert worden ist. Denken Sie jetzt nur mal an die Krisenerfahrungen, die mit der Finanzkrise der letzten Jahre verbunden sind. Da hat ja nun in den USA eine Welle, sozusagen eine Explosion stattgefunden, wo sich nationale Regierungen eigentlich nur noch anpassend oder moderierend verhalten konnten, aber sie konnten nicht verhindern, dass eben diese Finanzkrise übergreift auf nationale Institutionen und Einrichtungen.

Katrin Heise: Herr Roth, Sie haben die Finanzkrise gerade angesprochen, aber genau zur Finanzkrise war es ja so still um "attac", da hat man sich doch eigentlich einen viel präsenteres Netzwerk gewünscht.

Roth: Das ist richtig, aber es ist so: Wenn die Themen aufgegriffen werden – und es gab ja ein kurzes Zeitfenster, wenn Sie jetzt an das letzte G8-Treffen denken, ein Zeitfenster, wo man dachte, jetzt nehmen sich die Regierungen dieses Themas an und agieren entsprechend, das war ja in Heiligendamm schon angekündigt worden –, und es schien einen Moment so, als sei "attac" fast überflüssig geworden und in den Händen von Frau Merkel gut aufgehoben. Dass das eine trügerische Situation war, das war zu erwarten, aber es ist außerordentlich schwer, in einer solchen Situation, wo alle dafür sind, Finanzmärkte zu regulieren, von einer Gruppe, die dafür schon seit zehn Jahren und länger eintritt, sozusagen besondere Aufmerksamkeit zu erwarten. Man hat quasi den Erfolg der eigenen Praxis nicht selber ernten können, sondern im Grunde gesehen, dass dann andere, mächtigere Akteure auf die Agenda treten.

Heise: Und letztendlich ist es vielleicht auch so, dass "attac" doch ein bisschen in der Analyse stecken bleibt. Wo ist die politische Strategie?

Roth: Ja, Sie haben recht, aber ich glaube nicht so sehr, dass es ein Strategieproblem in dem Sinne ist, dass Analysen fehlen und Vorstellungen, wie, in welche Richtung, mit welchen Mitteln etwas zu verändern wäre. Ich glaube, es gibt ein politisches Umsetzungsproblem. Wir hatten ja eine Phase von sehr massiven Mobilisierungen entlang der Gipfeltreffen von IWF, Weltbank, den großen Staaten, G8, G20 et cetera, und diese Mobilisierung von Protest hat Aufmerksamkeit für dieses Thema erzeugt. Die Krisenentwicklungen der letzten Jahre kam hinzu. Was immer ein großes Problem war: Wie kommt man eigentlich zu einer globalen Ordnung, die diese Gefahren, die beschrieben werden, abzumildern oder abzufangen in der Lage ist? Und da sind natürlich klassischerweise die staatlichen Akteure die mächtigen Spieler, und die großen internationalen Organisationen. Ich glaube, dass es eine Ernüchterungsphase geben wird. Die nächste Krise kommt bestimmt und der Glaube daran, dass staatliche Institutionen und internationale Politik eine Differenz machen wird, dieser Glaube wird auch wieder verschwinden und Ernüchterung wird folgen. Ich nehme an, dass es eine neue Phase von Protesten geben wird, und vielleicht auch neue Zusammenschlüsse, die etwas schwächer geworden sind in den letzten Jahren.

Heise: Und dann wird, in so einer Krise, "attac" wieder recht haben. Aber das reicht ja irgendwie auch nicht. Wie sieht die Zukunft von "attac" aus, damit es nicht in so einer Bedeutungslosigkeit verschwindet? Wo kann "attac" noch Zähne zeigen?

Roth: Ich denke, dass es einerseits eine Fülle von Themen gibt, die anstehen und wo Attac weiter mobilisieren wird. Denken Sie nur an die Cross-Border-Leasing-Geschäfte, die die Kommunen in der Bundesrepublik mit auswärtigen Banken, inländischen Banken geschlossen haben. Sie wissen, es geht da ja um die Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen. Diese Cross-Border-Leasing-Geschäfte sind weitgehend geplatzt, nachdem es Veränderungen in der entsprechenden Steuerregulierung in den USA gegeben hat, und es wird uns auf vieler Ebene, kommunal, auch darüber hinaus, national beschäftigen. Und das heißt, ich gehe davon aus, dass es noch viele drängende Probleme, wenn Sie so wollen Leichen im Keller, gibt, die noch eine ganze Weile für Beschäftigung sorgen werden. Und es zeichnet sich ja nicht ab, dass es eine grundsätzliche Neuorientierung in der transnationalen Finanzpolitik zu geben scheint, sodass wir mit weiteren Konflikten dieser Art rechnen müssen, und es wird zu neuen Bündnissen kommen. Zunächst schien es ja so, als sei dieser Prozess der Globalisierung der Finanzmärkte alternativlos, und es käme nur darauf an, ihn möglichst schnell voranzubringen. Das war die Philosophie der Grünen und der Roten und jetzt auch der Großen Koalition. Man hat sich gerühmt, wie schnell man die heimische Wirtschaft fit macht für diese globalen Finanzmärkte. Heute würde das niemand mehr so vertreten. Man hat die entsprechenden Lobreden von den Netzen genommen, die da noch vom Finanzminister zu lesen waren vor dieser Krise. Und insofern ist der Geist, sagen wir mal, die Stimmungslage umgeschwenkt, und es wird aber darauf ankommen, da vernünftige Politik zu entwickeln. Da gibt es Vorschläge in diesem Raum, den "attac" geprägt hat, auch in den wissenschaftlichen Beiräten dazu, Vorschläge, die alle sehr kompliziert sind, nicht so einleuchtend, vielleicht nicht auf den ersten Blick verständlich. Es handelt sich ja auch um eine sehr komplizierte Materie.

Heise: Man sagt auch zum Teil, dass "attac" zu intellektuell ist, um tatsächlich da Ziele erreichen zu können.

Roth: Ja, manchmal ist Politik ja einfach, wenn es um simple Zusammenhänge geht wie Spenden und etwa Begünstigungen. Da scheint plötzlich Politik ganz leicht zu sein. Aber in der Regel, vor allem dann, wenn es über Ländergrenzen hinweg geht, ist Politik eine eher komplizierte Angelegenheit und wird dann auch üblicherweise den Spezialisten überlassen. "attac" hat sich ja von Anfang an, wenn Sie so wollen, als Volkshochschulbewegung verstanden, nämlich als Nachhilfeunterricht in Sachen transnationale Politik, und war und ist in Maßen darin auch erfolgreich, überhaupt aufzuklären, wie finden eigentlich Regulierungen der Ökonomie über die Grenzen hinweg statt? Wir haben ja über 300 sogenannte internationale Regimes, in denen alles Mögliche reguliert wird, vom Walfang bis zu den Schuldendiensten, und die meisten Bürgerinnen und Bürger haben davon in der Regel nichts gehört, sondern bekommen irgendwann mal Ärger oder ärgern sich über den Walfang der Japaner oder wie auch immer. Aber im Normalfall wissen wir davon wenig und es bleibt eine Sache der Spezialisten. Und es ist schon ein großes Verdienst von "attac", da überhaupt Nachhilfeunterricht gegeben zu haben, dafür eine Sensibilität zu erzeugen, und heute würde niemand mehr sagen: Globalisierung ist Sachzwang und in dieser Form, in der Globalisierungsprozesse etwa der Finanzmärkte stattfinden, wäre es gar alternativlos. Also, insofern ist das ein Feld geworden, das politisch gestaltet werden kann. Aber "attac" war immer ein ganz schwacher Spieler in diesem Feld, ein kleiner Zusammenschluss, nie mächtig genug, um wirklich die Agenda auch zu prägen. Also, wir haben eher ein großes Umsetzungsdefizit und das wird "attac" alleine nicht schultern können, wenn es nicht gelingt, Regierungen mit ins Boot zu holen, die sich an die Spitze dieser Veränderungen setzen. Und es gab ja Anzeichen dafür, dass das in Frankreich oder vielleicht sogar in der Bundesrepublik einmal geschehen könnte.

Heise: Also, den Finger in die Wunde legen und politischen Nachhilfeunterricht geben. Der Politikwissenschaftler Roland Roth – er ist im Wissenschaftlichen Beirat von "attac" – zum zehnjährigen Bestehen des Netzwerkes. Herr Roth, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Roth: Danke auch!