Nachdenken über den Tod

07.10.2008
Das Thema der Endlichkeit hat sich der Theologe Eugen Drewermann in seinem neuen Buch "An den Grenzen der Medizin" vorgenommen. Anhand von Märchen diskutiert er Möglichkeiten der modernen Medizin, den Schrecken neuer Krankheiten und die ewig bleibende Angst des Menschen vor dem Sterben.
Märchen erzählen viel Wahres über das Leben. Sie sind der Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Probleme. Dieser Auffassung ist der Therapeut und Theologe Eugen Drewermann, der sich seit vielen Jahren mit der Deutung von Märchen befasst. Sein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der tiefenpsychologischen Interpretation der jahrhundertealten Erzählungen.

Die Theorien von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung bilden die Grundlage für Drewermanns Märchenanalysen, über die er bereits mehrere Bücher verfasst hat. In seinem neusten Werk beschäftigt er sich mit drei Märchen der Gebrüder Grimm, die die Themen Leben und Tod behandeln.

"Der Gevatter", "Der Gevatter Tod" und der "Fundevogel", 1812 im ersten Band der umfangreichen Grimmschen Märchensammlung erschienen, liefern das Tableau, auf dem Drewermann zeigt, wie alt und zugleich aktuell die Themen Leben und Sterben sind. In unserer modernen Zeit der hoch technisierten Apparatemedizin stellt sich die Frage nach dem Tod für den Einzelnen nicht weniger dramatisch als vor 200 Jahren, lautet sein Fazit.

Mit den "Märchen von Heilung und Hoffnung", so der Untertitel des Buches, will er zeigen, dass es die Grenzen der Medizin schon immer gab. Ebenso wie die Hoffnung auf die Heilkunst der Ärzte. Auch sie existiert seit Jahrhunderten, unabhängig von den tatsächlichen Möglichkeiten. Natürlich werden wir heute viel älter als vor hundert Jahren. Zu verdanken haben wir das einer hoch entwickelten Medizin.

Sie bewahrt uns vor vielen Krankheiten. Andererseits tauchen aber auch neue unheilbare Erkrankungen wie zum Beispiel Aids auf. Insgesamt ist der medizinische Fortschritt aber heute so präsent, dass fast schon als logische Konsequenz daraus die Auseinandersetzung mit dem Thema Tod in unserer Gesellschaft kaum stattfindet. Ein wichtiger Aspekt, den Drewermann sehr direkt und trotzdem einfühlsam bespricht. Denn es liegt ihm viel daran, die Thematik des Lebens und besonders die des Sterbens sehr viel stärker in unserer heutigen Gesellschaft zu diskutieren. Das Thema der Endlichkeit des Lebens kommt seiner Meinung nach heute viel zu kurz.

Verdeutlicht man sich die steigenden Zahlen von Alters- und Pflegeheimen, und die immer größere Zahl von Menschen, die nicht mehr zuhause im Familienkreis stirbt, muss man Drewermann Recht geben.

Besonders von Ärzteseite findet kaum eine Auseinandersetzung mit dem Thema statt. Magensonde und Beatmungsgerät lautet die moderne Antwort auf das Sterben. Die meisten Mediziner leben in dem Glauben, den Tod aufzuhalten, obwohl sie - so Drewermann Analyse - ihm tagtäglich begegnen.

Eine schizophrene Situation, die in den ersten beiden Märchen vom "Gevatter" und vom "Gevatter Tod" symbolhaft erzählt wird. In beiden Geschichten wird der Tod Pate eines armen Kindes. Das Kind wird erwachsen und hat die Fähigkeit, zu erkennen, welcher Kranke gesund wird und welcher stirbt. Der Mann wird ein berühmter Arzt, muss aber bald erkennen, dass er lediglich Handlanger des Todes ist.

Wer Drewermanns vorherige Bücher über Märchendeutung mochte, wird auch an diesem Gefallen finden, und wer sich zum ersten Mal mit überlieferten Märchen befasst, wird schnell von der universellen Gültigkeit des Jahrhunderte alten Wissens überzeugt sein, das sich in den Erzählungen kristallisiert.

Besonders gelungen sind die zahlreichen Vergleiche aus Literatur und Kunst, die neben den Erzählungen der Gebrüder Grimm stehen. Ob zum Beispiel in Dostojewskis Romanen, bei Albert Camus oder in Bildern von Otto Dix zu sehen: Die Heilkunst der Ärzte ist und bleibt begrenzt. Arztsein heißt Leben und Tod gleichermaßen zu akzeptieren.

Lediglich im letzten Kapitel, das die Geschichte des "Fundevogel" erzählt, konzentriert er sich in seiner Interpretation hauptsächlich auf das Märchen. Das ist schade, liegt aber vermutlich an der schwierigen Frage, die dieses Kapitel behandelt: Wie findet ein Mensch zu sich selbst, ohne den Tod zu fürchten? Durch die Liebe, lautet die Antwort des Theologen Drewermann. Denn der Fundevogel ist ein Findelkind - gefunden auf einem Baum, daher der Name Fundevogel - welches die Pflegemutter töten will. Doch die bedingungslose Liebe zur Stiefschwester, die gemeinsam mit ihm flieht, rettet den Fundevogel vor dem Tod.

Wer das Leben liebt, braucht den Tod nicht zu fürchten. Die Idee eines Kreislaufs ewigen Kommens und Gehens treibt uns zum Leben an, schließt Drewermann seine Interpretation. Ein religiös-philosophisches Ende, hoffnungsvoll und gut gemeint. Eine persönliche Antwort muss letztlich aber jeder selber finden.

Rezensiert von Susanne Nessler

Eugen Drewermann: An den Grenzen der Medizin
Märchen von Heilung und Hoffnung

Patmos Verlag, Düsseldorf 2008
150 Seiten, 14,90 Euro