Nachbarschaftsnetzwerk in Berlin

Hier sind Geflüchtete nicht nur Hilfsempfänger

06:46 Minuten
Drei Frauen, zwei davon mit Kopftuch, und ein Mann kochen zusammen.
Ein Kochabend des Freiwilligendienstes Sternenfischer, die die Kieztandems untereinander vermitteln. © Sternenfischer
Von Constanze Lehmann · 16.03.2020
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Geflüchteten helfen, im Kiez anzukommen, darum geht es bei einem Tandemprojekt im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick. Wer mit wem zusammenpasst, wird sorgfältig ausgewählt. So profitieren beide Seiten voneinander.
"Ich bin seit fünf Jahren in Berlin. Ich wohne in Treptow-Köpenick."
"Ich bin Bauingenieur von Beruf. Mein Name ist Hans Werner Maire, ich bin im 82. Lebensjahr."
"Ich bin Ingrid Maire und feiere bald meinen 70. Geburtstag. Und wir fanden uns alle drei, darf ich mal schon sagen, sympathisch und sind jetzt seit über zwei Jahren zusammen."
"Zusammen" bedeutet, sie sind ein Kieztandem. Suleiman, 51, aus Syrien und Familie Maire aus Berlin. Das Kieztandem ist ein Projekt des Freiwilligenzentrums Sternenfischer im Bezirk Treptow-Köpenick. Es soll Geflüchteten helfen, im Kiez anzukommen, die Nachbarn kennenzulernen und Unterstützung zu erhalten, sagt Anne Eilert von den Sternenfischern.
"Und meine Kollegin und ich sind für das Matching zuständig."
Das heißt, sie schauen, wer wohnt in der Nähe, welche Freizeitinteressen gibt es, welche Unterstützung wird gewünscht. Wer passt mit wem zusammen. Und dann gibt es das erste Date.

Tandems auf Augenhöhe

"Die Tandems und die Patenschaften sollen auf Augenhöhe stattfinden, wir wollen weniger, dass es den Helfenden, die Helfende gibt und die Person, die nur Hilfe empfängt, sondern, dass es ein gegenseitiger Austausch ist."
Porträt von Ingrid und Hans Werner Maire.
Ingrid und Hans Werner Maire engagieren sich im Kieztandem von Sternenfischer.© Constanze Lehmann
Familie Maire und Suleiman verbringen regelmäßig Zeit miteinander, gehen zu Veranstaltungen, ins Café, zum Essen. Reden viel. Zusammen gelingt es beispielsweise, einen günstigen Versicherungsabschluss, einen besseren Smartphone-Vertrag für Suleiman auszuhandeln.
Das Tandem funktioniert gut, und so ist es bei den meisten. Das liegt auch an der fachlichen Begleitung durch die Sternenfischer. Sie wollen vermeiden, dass falsche Erwartungen entstehen oder Enttäuschungen in Frust umschlagen. Konflikte sind nicht ausgeschlossen. Zum Beispiel beim Thema Arbeit und Ausbildung.

Teils unterschiedliche Erwartungen

"Meine Erfahrung ist, dass viele Menschen, die neu sind, merken, dass es nicht ganz so schnell geht, wie sie das vielleicht gern möchten und die bürokratischen Hürden hoch erscheinen. Und dann oftmals der ehrenamtliche Gegenpart in dem Tandem natürlich dann auch mit seiner Lebenserfahrung und auch Kenntnissen kommt, die er, sie ja auch hier gesammelt hat", sagt Anne Eilert.
"Und dass dann häufig darauf gepocht wird, ja, du musst jetzt einen Schulabschluss machen, damit du die und die Ausbildung machen kannst. Und das dauert jetzt einfach noch mal im schlimmsten Falle drei bis vier Jahre bis du überhaupt eine richtige Arbeit und einen vernünftigen Lohn erhalten kannst. Und das ist ein anderes Verständnis, was jemand hat, der sagt, er möchte jetzt gern arbeiten und Geld verdienen und wenn möglich auch in seinem Beruf arbeiten."
Auch Suleiman sucht Arbeit. "Ich kann nicht ohne Arbeit bleiben, muss ich arbeiten." Am liebsten natürlich als Bauingenieur, doch ihm fehlen IT- und Software- Kenntnisse. Eineinhalb Jahre hat er im Bundesfreiwilligendienst gearbeitet. Jetzt würde er gern eine Umschulung zum Busfahrer machen, oder als Hausmeister arbeiten.

Schwieriges Thema für alle: Wohnungssuche

Und es gibt noch ein Problem. Ein Problem, das er mit vielen Berlinern teilt.
"Das ist eine schwierige Situation in Deutschland, eine Wohnung zu finden, ich brauche drei oder vier Zimmer."
Das Tandem kommt gerade von der Wohnraumberatung. Suleiman ist aufgewühlt. In wenigen Tagen werden seine Frau, seine vier Töchter und sein Sohn nach Deutschland kommen. Fünf Jahre hat er auf diesen Augenblick gewartet, dafür gekämpft. Die Nerven liegen blank. Nicht nur wegen der fehlenden Wohnung, es könnte ja in letzter Minute etwas dazwischenkommen.
Wenn seine Tandempartner ihn bei Terminen begleiten, halten sie sich meist im Hintergrund.
"Ich meine, wir machen das ja auch manchmal, dass wir sagen, Mensch, kannst du nicht mitkommen, das ist so schwierig für mich, irgendwie da beim Amt vorstellig zu werden. Aber es ist immer wichtig, dass Suliman weiß, dass er das machen muss und dass er die Entscheidung treffen muss. Aber wenn dahinter noch jemand steht und so nickt, das ist dann schon immer eine Hilfe."

Etwas zurückgeben, ein Zeichen setzen

Es sind die unterschiedlichsten Gründe, warum sich Menschen in Treptow-Köpenick mit den Neu-Berlinern solidarisch zeigen.
"Etwas zurückzugeben, also mein Gutgehen-Sein, dass das einfach auch jemandem gegeben wird, dem es vielleicht nicht so gut geht oder der Hilfe braucht. Dem man einfach auch unter die Arme greifen kann. Das war so meine Motivation. Und dass sich das so ergeben hat, empfinde ich als Glück."
Ingrid Maire repräsentiert eine Gruppe, die für Beruf und Einkommen keine Zeit mehr aufwenden muss. Aber es kommen zunehmend auch junge Menschen, Studierende, berufstätige Eltern, sagt Anne Eilert.
"Die, die sich engagieren möchten, denen es wichtig ist, dass Sie ein Zeichen setzen, die in einem toleranten und offenen Bezirk wohnen möchten und sich da auch ganz klar positionieren dazu."

In einem Bezirk in dem bei der letzten Abgeordnetenhauswahl jeder vierte, fünfte AfD gewählt hat. Auch im behaglichen Ortsteil Müggelheim, wo Familie Maire wohnt. Die Nachbarn wissen von ihrem Engagement für Geflüchtete.

Verhaltene Reaktionen der Nachbarn

"Wenn ich das das ehrlich sagen darf, kamen da weder jetzt kritische Bemerkungen noch ausdrücklich zustimmende, das wird im Prinzip hingenommen", sagt Hans Werner Maire. "Nicht ganz, denn als die befreundete Familie von Suleiman ja abgebrannt war im Heim und wir es auch mit dem Nachbarn kommuniziert haben, da haben einige gespendet, also das sind schon dann Reaktionen, wenn man wirklich bewusst kommuniziert, dass da schon auch eine gewisse Achtung da ist", ergänzt seine Frau.
Ingrid und Hans Werner Maire betonen, dass ihr Tandem auf Gegenseitigkeit beruht, dass sie viel von Suleiman über Syrien, über die Kultur und Religion erfahren hätten. Nur bei einer Frage sei er die Antwort schuldig geblieben:
"Ich habe gefragt, wenn deine Frau jetzt irgendwann nach Deutschland kommt und sie sieht hier in der Community ja viele emanzipierte Frauen, die schon länger hier sind. Und sie würde jetzt sagen: `Ich trag jetzt ab übermorgen kein Kopftuch mehr.‘ 'Das macht sie nicht.' Ich sage: 'Suleiman, wir unterstellen jetzt mal, es sei der Fall. was machst du dann? Zwingst du sie, das Kopftuch zu tragen oder tolerierst du das?‘ Die Antwort habe ich bis heute nicht bekommen."
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