Nach den Anschlägen

Wie sich Frankreich verändert hat

Zu sehen sind viele Teelichter, und der Schriftzug "Je suis Paris" auf einem Blatt Papier.
"Je suis Paris" - überall in der Welt, hier in Marseille, trauerten Menschen der Opfer von Paris. © picture-alliance / dpa / Clement Mahoudeau
Von Ursula Welter · 07.01.2016
Ein Jahr nach den Anschlägen auf "Charlie Hebdo" und zwei Monate nach den blutigen November-Attentaten sind die Risse in der französischen Gesellschaft besonders groß. Wie reagieren die Menschen auf das Schreckensjahr?
Frankreich im Winter 2015/2016. Momentaufnahmen: Der Privatsender "Radio Classique" mit "Ansichten über Frankreich" - in diesen Tagen geht es um Attentate und Aufschwung für die Extremisten. Der namhafte Schauspieler Jacques Weber beantwortet die Fragen der Moderatorin. Sein Frankreichbild in diesem Winter handelt von Francoise Sagans Roman "Bonjour Tristesse".
"Frankreich zwischen islamistischen Fanatikern und Front National - würde der Kulturmensch Weber notfalls zur Waffe greifen, um sein Land zu verteidigen?", wird Weber am Ende des Gesprächs gefragt.
Er sei kein Kriegstreiber, antwortet er. Aber wahr sei auch, dass er, um eine Katastrophe zu verhindern, notfalls auf die Straße gehen werde, gegen Terrorismus, gegen den Front National. Sollte eines von beidem sprunghaft ansteigen, sagt der Schauspieler, "dann wäre ich auf der anderen Seite, ja, ich würde kämpfen".
Ein Klassikprogramm, ruhige Anmutung, ein normaler Radioabend in Frankreich? Nichts ist normal im Frankreich dieser Tage, die Fragestellung zeigt es.
Keine ausführliche Debatte über soziale Missstände
Paris, 13. November 2015: Drei Gruppen greifen an verschiedenen Orten an. Nahezu simultan. Frankreich ist schwer getroffen und reagiert nach den November-Attentaten anders als nach den Anschlägen vom Januar 2015.
Im Januar hält sich der Staatspräsident noch zurück. Im November spricht auch er von Krieg und einer dschihadistischen Armee, die Frankreich angegriffen habe.
Im Januar demonstrieren Millionen Franzosen für Meinungsfreiheit, für Werte, Staatschefs aus aller Welt kommen zum "Marsch der Nation" am 11. Januar. Aber schon da wird deutlich, welche Risse durch das Land gehen. Jugendliche aus Einwanderervierteln verweigern sich der nationalen Schweigeminute, wollen nicht "Charlie" sein.
Jetzt, im November, wird die Schweigeminute zwar nicht gestört, aber diesmal gibt es keine ausführliche Debatte über soziale Missstände in den Vorstädten mehr, kaum noch eine Diskussion über die Grenzen der Religion in der Französischen Republik.
Die Risse in der französischen Gesellschaft treten nach diesem Schreckensjahr umso schmerzhafter zutage: Die meisten Täter sind junge Franzosen. Das Netz der Hintermänner und potentieller Helfershelfer, die von Belgien und Syrien aus operieren: ebenfalls französisch.
Zwischen trotziger Lebensfreude und dem Gefühl anhaltender Bedrohung
Der Politologe Gilles Kepel beschreibt in seinem Buch, wie die Ideologie des sogenannten IS die Spaltung, den Bürgerkrieg mit ins Kalkül zieht.
Und er schlägt gedanklichen Bogen zum Front National: Natürlich, sagt Kepel, seien Zulauf für die Dschihadisten durch perspektivlose Jugendliche aus den prekären Einwanderer-Vorstädten und der Zulauf für den Front National durch einen Teil der Bevölkerung, der sich ausgegrenzt fühlt, nicht identisch, dennoch:
"Im Falle der extremen Rechten haben Sie ein Phänomen, das sich davon nicht komplett unterscheidet, wenn es auch andere Personenkreise sind - immerhin fast acht Millionen Wähler bei den Regionalwahlen für den Front National...."
Der Vergleich des Politologen provozierte eine militante Reaktion der Chefin des "Front National". Marine Le Pen verbreitete, unverschlüsselt, via Twitter, Bilder von enthaupteten Geiseln, Propagandamaterial der Islamisten, um – wie sie sich rechtfertigt – zu zeigen, wer die wahren Barbaren seien. Mit ihrer Twitter-Botschaft löst Le Pen, nicht nur in Frankreich, Entsetzen aus. An der Popularität des "Front National" ändert das aber wenig.
So schüren die einen das Feuer, das in vielen Teilen Frankreichs bereits lodert. Die anderen, die Regierung, schickt schwerbewaffnete Soldaten auf die Wochenmärkte, vor die Kirchenportale, um die Bevölkerung zu beruhigen. Eine Bevölkerung, die zwischen trotziger Lebensfreude und dem Gefühl anhaltender Bedrohung schwankt.
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