Nach dem Terrorangriff

"Wien war immer so ein Inbild der Glückseligen"

10:41 Minuten
Wiener Bürgermeister Michael Ludwig legt im Bereich des Tatorts des Terroranschlags einen Kranz nieder.
Trauer in Wien: Bürgermeister Michael Ludwig legt zum Gedenken an Tote und Verletzte einen Kranz nieder. © picture-alliance/apa/Hans Punz
Hasnain Kazim im Gespräch mit Axel Rahmlow  · 03.11.2020
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Jahrelang hat der Journalist Hasnain Kazim von Terrorangriffen in anderen Teilen der Welt berichtet. Nun hat ihn das Thema auch in Wien eingeholt, wo er die Lage nach dem gestrigen Terrorakt analysiert. Er lobt die besonnene Wortwahl der Politiker.
Einen Tag nach dem Terrorangriff in Wien sei die Stimmung in der Stadt sehr still und zurückgehalten, schildert der Journalist Hasnain Kazim seine Eindrücke. Der frühere Krisenreporter lebt seit fünf Jahren in Wien und hat in anderen Teilen der Welt oft über Terrorangriffe militanter Islamisten berichtet.
"Die Menschen haben sehr schnell verstanden, was passiert ist", sagt er über die heutige Lage in Wien. Am Montag waren in der dortigen Innenstadt mindestens vier Menschen bei einem Terroranschlag getötet worden und etwa 17 weitere Personen wurden verletzt. Am Dienstag reklamierte der "Islamische Staat" die Tat für sich.

Straßen voller Polizisten

Deshalb seien alle verschüchtert und vorsichtig, die Straßen in Wien voller Polizisten, sagt Kazim. "Man harrt der Dinge und wartet, wie es weitergeht." Denn es habe lange Zeit geheißen, der Polizeieinsatz sei noch nicht beendet und es werde nach weiteren Tätern gesucht.
Es deute viel darauf hin, dass es sich um einen einzigen Attentäter gehandelt habe, so Kazim. Aber es habe mehrere Festnahmen gegeben, sodass er möglicherweise ein Netzwerk gegeben habe. "Das wird alles in den kommenden Tagen rauskommen."

Er selbst fühle sich sehr an seine Korrespondentenzeit in Pakistan, in der Türkei und anderen islamischen Ländern erinnert, sagt Kazim. Auch dort sei es immer so gewesen, dass nach einem Terroranschlag besorgte Anrufe von Familie und Freunden folgten, mit den Fragen: "Geht es Euch gut? Seid Ihr in Sicherheit?" Das passiere jetzt wieder.
"Ich habe viel aus Terrorgebieten und über Terror berichtet und war jetzt ganz froh, in Österreich zu leben, fern von diesem Thema." Allerdings habe er immer befürchtet, es könne mal wieder ein Thema werden. "Wien war immer so ein Inbild der Glückseligen." Dort sei seit vielen Jahren nichts passiert.

Moscheen als mögliche Stätten der Radikalisierung

Seinem Eindruck nach hätten die österreichischen Behörden die islamistische Gefahr keineswegs unterschätzt. Aber offensichtlich sei die Bereitschaft des Täters unterschätzt worden, als Terrorist in Erscheinung zu treten. Der 20-Jährige sei einschlägig vorbestraft gewesen, habe bereits im Gefängnis gesessen und sei Mitglied der Terrororganisation "Islamischen Staat" gewesen. "Man hat ihn vorzeitig freigelassen, weil er den Staat, die Justiz, alle um sich herum getäuscht hat, als habe er sich deradikalisiert." Das sei aber offensichtlich nicht so gewesen.

Er habe sich die Unterlagen aus dem Prozess gegen den Islamisten von 2018 angesehen, sagt Kazim. "Da kam ganz klar hervor, der Märtyrertod wäre etwas, darauf wäre er stolz." Nun sei er tot. "Ich hoffe, dass er nicht als Märtyrer in die Geschichte eingeht."
Ähnlich wie in Deutschland gebe es auch in Österreich eine gewisse Naivität gegenüber den Trägern einiger Moscheen. Da gebe es teilweise weitreichende Verbindungen zur türkischen Religionsbehörde, zur Muslimbruderschaft und zu konservativen Vereinen. "Ob das jetzt alles so hierhergehört, das ist fraglich. Ich würde sagen: nein." Er sei auch darüber erstaunt, dass die Zahl der radikalisierten Islamisten in Österreich im Verhältnis zur Bevölkerung relativ hoch sei. "Auch das ist eine Sache, die man hier sehr genau beobachtet."

Kluge Wortwahl der Regierenden

Kazim lobte, dass die österreichische Regierung nach dem Terrorakt relativ klug handele. Kanzler Sebastian Kurz und Innenminister Karl Nehammer hätten davon gesprochen, dass sich das Land nicht spalten lasse. Sie hätten auch ausdrücklich erwähnt, dass die beiden Österreicher, die einen angeschossenen Polizisten und eine ältere Dame in der Schusslinie gerettet hätten, einen türkischen Migrationshintergrund gehabt hätten. "Die Regierenden reden sehr klug und besonnen, und das ist hoffentlich die Richtung, in die sich dieses Land weiterentwickelt."
(gem)
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