Nach dem Koalitionsgipfel

AWO fordert Perspektive für Flüchtlinge

Flüchtlinge in Dortmund halten einen Zettel mit der Aufschrift "Thank you, Germany" hoch.
Flüchtlinge in Dortmund: Sie brauchen "erste Hilfe", aber auch eine längerfristige Perspektive © picture-alliance / dpa / Maja Hitij
Brigitte Döcker im Gespräch mit Nana Brink · 07.09.2015
Sechs Milliarden Euro für die Flüchtlingshilfe: Das ist das Ergebnis des Koalitionsgipfels. Die Arbeiterwohlfahrt begrüßt das und fordert zugleich, in längeren Zeiträumen zu denken und den Menschen Perspektiven zu bieten.
Die Arbeiterwohlfahrt ist mit dem Ergebnis des Koalitionsgipfels zur Flüchtlingsfrage zufrieden. Im Deutschlandradio Kultur sagte Brigitte Döcker, Vorstandsmitglied des Bundesverbandes der AWO, die vom Bund zugesagten sechs Milliarden Euro für die Flüchtlingshilfe seien "schon eine Leistung, das muss man anerkennen".
Nötig sei nun aber auch ein Konzept für die Zukunft der Menschen. Die Flüchtlinge bräuchten jetzt eine Perspektive für ihr Leben. Politik und Verwaltung warf sie vor, sich nicht früh und entschlossen genug um die Flüchtlingskrise gekümmert zu haben. Döcker forderte, nicht nur an die "Erstaufnahmesituation" zu denken, sondern auch an den Spracherwerb, eine gute Gesundheitsversorgung, Kitas, Schulen und Jobs. Auch der soziale Wohnungsbau müsse wiederbelebt werden, sagte sie. Die Flüchtlinge müssten in der Lage sein, ihr Leben selbst zu gestalten. Eine bessere Strategie gegen Rechtsextremismus und Rassismus gebe es nicht.
Mit einem milliardenschweren Maßnahmenpaket will die Bundesregierung die Versorgung und Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland in den Griff bekommen. Unter dem Druck wachsender Asylbewerberzahlen erhöht der Bund die Mittel im Haushalt 2016 um drei Milliarden Euro. Bundesländer und Kommunen sollen weitere drei Milliarden Euro erhalten, heißt es in einem Papier, das die Spitzen der großen Koalition in der Nacht zum Montag beschlossen. für 2015 hatte der Bund eine Milliarde Euro für Flüchtlingshilfe bereitgestellt.
Die Koalition will außerdem den Kreis der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten per Gesetzesänderung um Kosovo, Albanien und Montenegro erweitern. Diese Einstufung dient dazu, Asylbewerber aus den betroffenen Länder schneller wieder in die Heimat zurückzuschicken. Bargeldbedarf in Erstaufnahmeeinrichtungen soll so weit wie möglich durch Sachleistungen ersetzt werden. Endgültige Entscheidungen sollen am 24. September bei einem Bund-Länder-Gipfel fallen.

Das Gespräch im Wortlaut:
Nana Brink: Es dauerte, aber nicht so lange, wie man vielleicht erwartet hatte, denn allen Beteiligten des gestrigen Koalitionsgipfels war ja klar – sie müssen liefern. Unüberhörbar ist ja die Forderung aus Ländern und Kommunen, dass sich der Bund stärker an der Hilfe für die ankommenden Flüchtlinge beteiligen muss. Stefan Maas fasst das Ergebnis des abendlichen Treffens zusammen:
((Einspieler))
Ein beispielloses Signal also, das der Bund sendet – sechs Milliarden Euro mehr Geld, und die Frage ist jetzt, wie kommt das unten an? Brigitte Döcker ist Vorstandsmitglied beim Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt, die Heime für Flüchtlinge unterhält und vor allem Unterstützung im Alltag leistet. Ich grüße Sie, Frau Döcker!
Brigitte Döcker: Guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Ist das kraftvolle Bündel von Maßnahmen – so hat es SPD-Fraktionschef Oppermann ja gestern ausgedrückt – ist es das, was Sie erwartet haben?
Flüchtlingspolitik: "Wir brauchen ein Konzept"
Döcker: Ich muss zuerst einmal sagen, die 6 Milliarden Euro für 2016, das ist schon eine Leistung, das muss man anerkennen. Wir hatten in diesem Jahr eine Milliarde, also wer da sagt, das ist kein deftiger Schritt, der erkennt nicht an, was da passiert ist. Das sehe ich schon so.
Wir brauchen aber auch einen Plan, wir brauchen ein Konzept, wie wir mit dieser Situation umgehen. Wir haben erlebt, dass Politik und Verwaltung auf doch verschiedenen Ebenen sich nicht entschlossen gekümmert hat, nicht frühzeitig. Da sind dann die Bürgerinnen und Bürger gekommen und haben gezeigt, wie das geht, wie Menschlichkeit aussehen kann.
Man muss nicht auf Abgrenzung setzen, man muss mit der Situation umgehen, humanitär handeln. Die Einreise nach Deutschland, die Frau Merkel da ermöglicht hat, kann ich nur begrüßen, sie hat das getan, was die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland tun wollten.
Brink: Nun haben Sie ja selber gesagt, das ist ziemlich einmalig, ein einmaliges Signal, was da gestern ausgesendet worden ist. Klar ist ja auch, dass es wahrscheinlich bis zum Gipfel, also auch zwischen den Ländern, den Ministerpräsidenten, am 24. September, dass da erst konkrete Sachen entschieden werden. Sagen Sie doch mal, was brauchen Sie denn für Ihre Arbeit nun am meisten?
Perspektive: Wohnungen, Kitas, Schulen
Döcker: Ich würde gerne die Perspektive der Menschen einnehmen. Die Menschen, wenn sie denn eine Bleibeperspektive haben, brauchen auch eine Perspektive für ihr Leben. Das geht damit los, dass sie die Sprache erlernen können, dass es da ausreichende Möglichkeiten gibt, dass sie eine gute Gesundheitsversorgung bekommen – die Menschen sind oftmals krank und haben Traumatisierungen – darum muss man sich kümmern, weil sonst sind die Menschen nicht in der Lage, ihr Leben selbstständig zu gestalten.
Die Kommunen sollen Mittel erhalten, das ist wichtig und das ist richtig, wir müssen aber nicht nur an die Erstaufnahmesituation denken, sondern wir müssen an die Infrastruktur sozusagen entlang eines Lebens denken. Die Menschen können nicht in der Flüchtlingssozialarbeit verbleiben, sondern sie müssen in die Infrastruktur, die Menschen offen steht in Deutschland – da müssen wir an Kitas denken, da müssen wir an Schulen denken, und dieses muss man mit in den Blick nehmen.
Ich will die Probleme gar nicht anhäufen, sondern ich möchte gerne, dass man den Plan auf das Leben der Menschen ausrichtet und nicht nur für die Erstaufnahmesituation, die im Moment natürlich das ist, was am meisten herausfordert, gerade wo natürlich jetzt der Winter kommt oder der Herbst kommt und es kälter wird.
Die Menschen brauchen Unterkünfte, die beheizbar sind, die auch ausreichend Licht haben. Also Bunker sind absolute "No-Gos", sowas geht nicht. Wir müssen aber von vornherein das Leben insgesamt in den Blick nehmen und beginnen mit der Sprache und den anderen Dingen der Versorgung, die ich eben genannt habe.
Brink: Sie haben ja sehr viel Erfahrung damit. Sie leisten ja gerade Unterstützung im Alltag. Ist das mit der Sprache, das ja oft vorkommt, das A und O eigentlich?
"Besonders wichtig, dass wir den sozialen Wohnungsbau wiederbeleben"
Döcker: Wenn wir das Ziel haben, dass die Menschen in die Lage versetzt werden, ihr Leben selbständig zu gestalten, und das sollten wir tun, weil eine bessere Arbeit gegen Rechts gibt es eigentlich nicht, gegen Rechts und Rassismus, dass Menschen ihr Leben selbst gestalten – wir brauchen Menschen in Deutschland, die hier einer Arbeit nachgehen, dafür muss die Sprache erlernt werden, und das sollten wir so schnell wie möglich angehen, und die Menschen müssen gesund und in der Lage sein, auch tatsächlich für sich und ihre Familien zu sorgen.
Brink: Das heißt, Sie sagen, diese Aufnahme von Flüchtlingen, also in der Erstaufnahme, ist richtig, aber wir müssen weiterdenken, das heißt konkret, Integration von Anfang an, also auch klarmachen, die werden meistenteils hier bleiben?
Döcker: Ja, davon gehe ich aus, weil Bleibeperspektive heißt, die Menschen können bleiben. Dann müssen sie auch die gesamte Infrastruktur in Deutschland nutzen können, und sie wollen eine Arbeit aufnehmen können und das wollen sie ja auch, deswegen kommen ja auch viele her, und die Kinder sollen in Kitas gehen, die sollen eine Ausbildung machen können, also eine Schule und dann in die Ausbildung gehen.
Für ganz dringend und ganz besonders wichtig halte ich, dass wir den sozialen Wohnungsbau wiederbeleben, dass Menschen in Deutschland und dass nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch alle bezahlbaren Wohnraum finden. Das ist eine Herausforderung, der müssen wir uns auch jetzt schon stellen. Also jetzt nicht weiter wegschieben und abwarten, sondern wir müssen handeln.
Brink: Nun hat ja der Bund, also hat der Gipfel gestern auch schon klargemacht, dass es Kapazitäten für 150.000 winterfeste Plätze geben wird für die Flüchtlinge – ist das auch dann ein Schritt in die richtige Richtung, hilft Ihnen das auch weiter bei der Verteilung?
Döcker: Ja, also wir brauchen diese Plätze und damit geht die Versorgung los, es ist außerordentlich wichtig, und wir müssen hier einfach auch eine Qualität bieten, die menschenwürdig ist und das sind wir auch unseren Werten geschuldet. Wir müssen die Menschen vernünftig unterbringen, und da sind wir ja durchaus an vielen Stellen nicht ausreichend ausgestattet gewesen und von daher – wunderbar!
Brink: Brigitte Döcker, Vorstandsmitglied beim Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt. Vielen Dank für Ihre Einschätzung, Frau Döcker!
Döcker: Sehr herzlichen Dank, Frau Brink!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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