Nach dem Finanzcrash in Island

Besuch im Krisen-Labor

Demonstranten vor dem Parlament in Reykjavík fordern den Rücktritt von Ministerpräsident Gunnlaugsson.
Demonstration in Reykjavík gegen den isländischen Ministerpräsidenten Gunnlaugsson nach Bekanntwerden der "Panama Papers" im Frühjahr 2016. © HALLDOR KOLBEINS / AFP
Von Philipp Boerger und Kolfinna Baldvinsdóttir · 19.06.2016
Island mit seinen rund 330.000 Einwohnern wollte nach dem Bankencrash im Jahr 2008 alles besser machen. Deswegen war der Schock groß, als der Name des Regierungschefs Gunnlaugsson in den "Panama Papers" auftauchte. Nun wird ein neuer Präsident gewählt.
"So wie die meisten Isländer fühle auch ich mich betrogen. Es ist nicht gut, was passiert ist und wer alles darin verwickelt ist. Es ist schlimm, dass viele von denen einfach weiterhin im Amt sind. Es ist schlecht für die Moral. Der Regierung vertraut keiner mehr. Das ist ein großes Problem. Wer weiß, wo uns das hinführt."
Die junge Isländerin Auður Lóa und ihr Freund Starki sind sauer. Auf die Politiker, das ganze verfilzte System. Auður Lóa ist 23, Starki 25 Jahre alt. Ihre Generation ist mit der Erfahrung aufgewachsen, dass Schamlosigkeit und Gier gute Eigenschaften sind, um in Island Karriere machen zu können oder etwas zu sagen zu haben.
Wir befinden uns in Mosfellsbær, etwa 9000 Menschen leben hier. Die Gemeinde liegt etwa 20 Kilometer weit von Islands Hauptstadt Reykjavík entfernt. Es ist Juni und 15 Grad warm.
Audur Lóa, Starki und ich sind schnell beim Thema Panama-Papers. Im Frühling war herausgekommen, dass gut 600 Isländer ihr Vermögen in Steueroasen angelegt haben, auch Spitzenpolitiker und einflussreiche Unternehmer.
"Sie haben anscheinend gar kein Schuldbewusstsein. Die versuchen, sich durch die Sache irgendwie durchzumogeln, die sitzen das aus. Die verstehen gar nicht, was sie angerichtet haben. Und entschuldigt haben sie sich auch nicht."
Auður Lóa und Starki
Auður Lóa und Starki sind enttäuscht von der bisherigen Politik isländischer Politiker.© Philipp Boerger
Auður Lóa und Starki haben mit Mitte 20 schon ein erstes Studium abgeschlossen. Jetzt im Sommer werden sie etwas Geld verdienen und dann wollen beide - wie so viele junge Isländer - am liebsten nochmal ins Ausland gehen. Raus aus dem Filz.
"Isländer zu sein bedeutet auch, dass Du über fast jeden Menschen hier Bescheid weißt und eigentlich auch mit fast jedem bekannt oder sogar verwandt bist. Das kann natürlich eine gute Sache sein, aber Du kannst dich dadurch auch etwas festgeklebt fühlen. Deshalb sollte man immer wieder seinen eigenen Horizont erweitern, um nicht die ganze Zeit in einer Blase zu leben."
Wir laufen auf einem Schotterweg am Ufer des kleinen Flusses Várma entlang. Auf den Grundstücken links und rechts davon stehen abwechselnd klassische skandinavische Holzhäuser in kräftigen Farben und Häuser im modernen Bauhausstil mit Flachdach und tiefen Fenstern. Ab und zu ist auch ein Bauernhof zu sehen mit großen Gewächshäusern.
Plötzlich ändert sich die Landschaft. Wir stehen nun am Rand einer Großbaustelle. Immer mehr Wiesen werden in Betonfundamente verwandelt. Wir laufen näher auf die Baustelle zu, als ein Vogel vom Boden aufsteigt und aufgeregt vor uns her flattert, als wolle er uns etwas zeigen.
"Die hat hier am Boden in der Nähe wahrscheinlich ihr Nest. Das ist ein Ablenkungsmanöver. Die Vogelmutter fliegt vor uns her, damit wir ihr folgen und sie jagen und uns dadurch vom Nest entfernen."
Lastwagen donnern an uns vorbei. Wir zählen mindestens 15 riesige Baukräne. Wird hier ein komplett neuer Stadtteil gebaut? Ganz genau, sagt Starki, der Freund von Auður Lóa:
"Sie bauen eine neue Siedlung, und die Gegend hier wird sicher begehrt werden, wegen der ganzen Natur drum herum. Die Preise hier werden niedriger sein als in Reykjavík. Die vielen Touristen dort und Kurzzeitvermietungen haben die Mieten dort auf die Spitze getrieben."

Island in den Top Ten der Bankenpleiten

Infolge der Finanzkrise 2008, die Island so hart erwischt hat, wie kaum ein anderes Land auf der Welt, mussten die Menschen harte Einschnitte hinnehmen, vor allem im Bereich der Sozialleistungen, im Bildungssystem und im Gesundheitssystem. Viele Bürger verloren ihr Erspartes oder sogar ihre Häuser und Wohnungen.
Die Konkurse der isländischen Banken gehören bis heute zu den zehn größten Bankenpleiten. Die Währung Krone verlor gegenüber dem Euro damals mehr als die Hälfte ihres Wertes. Inzwischen, acht Jahre später, hat sich der Wechselkurs wieder stabilisiert:
"Im Moment steht die Krone gar nicht so schlecht da. Sie ist wieder stärker geworden. Aber wegen der Kapitalverkehrskontrollen dürfen Isländer und Ausländer ihr Geld nicht ohne weiteres außer Landes bringen. Also investieren sie es hier. Und eine der wenigen Möglichkeiten, Geld anzulegen, ist, es in Immobilien zu stecken."
Inzwischen erreichen die Preise am Wohnungs- und Häusermarkt immer neue Rekordhöhen. Wirtschaftsexperten warnen schon vor einer neuen Krise: einer Immobilienblase. Teile der Elite aber, das zeigen die Panama Papers, haben ihr Geld in Sicherheit gebracht und in Steueroasen angelegt. Für sie gelten offenbar andere Regeln. Im April musste deshalb der Ministerpräsident zurücktreten, er ist aber Chef seiner regierenden Fortschrittspartei geblieben.
Vor einem Monat tauchte dann auch noch der Name der Ehefrau des isländischen Präsidenten in den Panama-Papers auf.
Bessastaðir, Amts- und Wohnsitz des Präsidenten Islands
Bessastaðir, Amts- und Wohnsitz des Präsidenten Islands© Philipp Boerger
Ein freundlicher Mann in Jeans und Muskelshirt öffnet mir die Tür des Amts- und Wohnsitzes des isländischen Präsidenten, bittet mich herein. Er hat kräftige und tätowierte Oberarme. Er entschuldigt sich dafür, dass er keinen Anzug trägt, so wie ich heute. Die Angestellten des Hauses sind schwer beschäftigt, sie tragen Tische und Stühle umher und stellen sie in Reihen auf, denn hier soll in den kommenden Tagen eine Konferenz stattfinden.
Am kommenden Samstag wird in Island ein neuer Präsident gewählt. Der amtierende Präsident, Ólafur Ragnar Grímsson, hat mir für ein Interview zugesagt. Er ist bereits 20 Jahre im Amt! Obwohl er in den vergangenen Jahren angekündigt hatte, dass er sich zurückziehen möchte, blieb er dann doch - und wurde fünfmal wiedergewählt.
Zur Präsidentenwahl am 25. Juni tritt er aber nicht nochmal an. Es sei eine Geste demokratischen Respekts, jetzt Platz für einen Nachfolger zu machen, erklärte Grímsson. Wie spreche ich ihn richtig an? Guten Tag, Herr Präsident Grímsson? Oder einfach nur: hi, Ólafur?
"Die isländische Tradition kennt keine Familiennamen. Wir sprechen uns untereinander alle mit dem Vornamen an. Unser Telefonbuch ist nach den Vornamen sortiert."
Ólafur Ragnar Grímsson, 73 Jahre alt, silberfarbenes Haar, ist ein großer Mann. Er wirkt freundlich, strahlt eine natürliche Autorität aus.

Präsident Grímsson sorgte weltweit für Schlagzeilen

Im Jahr 2010 sorgte Präsident Grímsson weltweit für Schlagzeilen, als er sich weigerte, ein vom Parlament beschlossenes Gesetz zu unterzeichnen: Das sogenannte Icesave-Gesetz sah vor, dass die Republik Island, also die Bürger, Milliarden Euro Auslandsschulden einer pleitegegangenen isländischen Internetbank bezahlen sollen - und dazu noch hohe Strafzinsen. Icesave hatte Sparern in Großbritannien und den Niederlanden mehr als fünf Prozent Zinsen für ihr Geld versprochen.
"Das war die schwierigste Entscheidung, die ich jemals treffen musste. Als ich verkündete, dass die Isländer in einem Referendum über das Gesetz abstimmen sollen, war so gut wie jede europäische Regierung dagegen."
In der Volksabstimmung sagten dann über 90 Prozent der Wahlberechtigten Nein dazu, dass sie für das Versagen ihrer Banker haften sollen.
Ein Jahr später, 2011, wiederholte sich das Ganze. Wieder beschloss das Parlament ein Gesetz über die Rückzahlung der Auslandsschulden der Icesave-Bank. Fast alle waren sich darüber einig, dass Island als Teil des europäischen Einlagensicherungsfonds seinen Verpflichtungen nachkommen muss. Doch erneut verweigerte Präsident Grímsson seine Unterschrift, ein weiteres Mal gab es anschließend eine Volksabstimmung. Und wieder sagte die Mehrheit der Isländer: Nein:
"Durch die Referenden haben die Menschen ihr Selbstvertrauen, ihre Kraft und ihre Selbstachtung zurückgewonnen. Das hat auch unserer Wirtschaft damals gut getan. Meiner Meinung nach waren die Volksabstimmungen nicht nur Beispiel für gelebte Demokratie, sie waren auch ein Beispiel für gute Wirtschaftspolitik."
Tatsächlich zahlte sich die Sturheit am Ende aus. Das Gericht der Europäischen Freihandelszone urteilte vor drei Jahren, dass die isländischen Steuerzahler nicht ohne weiteres für die Auslandsschulden einer Privatbank haften müssen.
Präsident Grímsson, der einzig wahre Demokrat Islands, der Beschützer der Nation? Ein bisschen inszeniert er sich so. Und vergisst dabei, dass er mit seinen beiden Vetos damals demokratisch gefällte Entscheidungen des Parlaments übergangen hat.
Eigentlich ist es in Island nicht üblich, dass sich ein Präsident in die aktuelle Politik einmischt. Aber Ólafur Ragnar Grímsson hat dazu eine andere Meinung. Er sieht die Demokratie gefährdet:
"Ministerien, Interessensverbände, sogenannte Experten, Institute und PR-Agenturen haben zu viel Macht gewonnen. Das ist eine gefährliche Entwicklung, finde ich. Deshalb sollte es mehr Volksabstimmungen geben, natürlich nicht andauernd, aber bei allen größeren Entscheidungen. Referenden sollten ein Stützpfeiler der Gesellschaft im 21.Jahrhundert sein."
Der Europäischen Union steht Präsident Grímsson deshalb skeptisch gegenüber. Auch das hat mehrfach öffentlich erklärt - auch, als die isländische Regierung im Jahr 2009 einen offiziellen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU stellte.
"Nordeuropa ist seit vielen Jahren wirtschaftlich deutlich erfolgreicher, als die süd- und mitteleuropäischen Länder. Norwegen und Island und Grönland sind gar nicht in der EU. Und Großbritannien, Schweden und Dänemark sind zwar Mitgliedsländer, aber sie sind nicht Teil der Eurozone. Aus meiner Sicht sollte sich Island nicht der EU anschließen. Werte wie Demokratie und Menschenrechte sollten die Grundpfeiler der europäischen Politik sein, sie sind es aber nicht."

Islands neue Zeit begann mit einer Graswurzelbewegung

Nach der nationalen Katastrophe der Finanzkrise sollte in Island alles besser werden. Die neugewählte linke Regierung kündigte 2010 eines der größten Demokratie-Experimente aller Zeiten an: Alle Isländer wurden aufgefordert, sich an der Gestaltung einer neuen Verfassung zu beteiligen. Auf verschiedenen Internet-Plattformen konnten die Bürger Vorschläge für ein besseres Zusammenleben machen. Der Ökonomie-Professor Þorvaldur Gylfason war damals zum Leiter des Verfassungsrates ernannt worden:
"Es begann als Graswurzelbewegung. Dann wurden per Zufallsverfahren 25 Bürger ausgewählt, um aus den vielen Vorschlägen einen neuen Verfassungsentwurf auszuarbeiten. Jeder Isländer über 18 hatte die theoretische Chance, in das Komitee berufen zu werden."
Ich treffe Þorvaldur Gylfason zum Gespräch in seinem Wintergarten im obersten Stock eines Neubaus in Reykjavík. In nur wenigen Monaten, erzählt er, formulierten die 25 Männer und Frauen, weiterhin unterstützt von anderen Bürgern per Internet, einen Text für ein neues Grundgesetz. Der Entwurf sieht zum Beispiel vor, dass die Bürgerrechte gestärkt werden sollen:
"Eine der neuen Vorschriften besagt, dass eine Volksabstimmung ausgerufen werden kann, wenn 10 Prozent der Wahlberechtigten unzufrieden sind mit einer Entscheidung des Parlaments. Bislang hat nur der Präsident die Macht dazu. Diese Macht soll er auch behalten, aber in Zukunft können eben auch die Bürger ein Referendum erzwingen."
Andere Artikel im Entwurf für eine neue Verfassung sehen vor, die Umwelt stärker zu schützen. Die natürlichen Ressourcen Islands sollen nicht von einigen wenigen Großunternehmen ausgebeutet werden dürfen, so der Ökonomie-Professor Gylfason:
"Das isländische Gesundheits- und das Bildungssystem sind massiv unterfinanziert. Aber unsere Regierung besteuert die großen Fischerei-Konzerne nicht angemessen, obwohl sie seit 30 Jahren exklusive Fangrechte haben. Genauso ist es bei den Energiekonzernen."
Verfassungsrechtler aus der ganzen Welt und auch Mitglieder des Europarats waren voll des Lobes für den Entwurf eines neuen Grundgesetzes, erzählt Gylfason. Und auch in der isländischen Bevölkerung kam alles gut an.
Beschränkt werden sollte nämlich auch die Macht des Justizministeriums bei der Auswahl und Ernennung von Richtern. Und die Wahlkreise hätten neu zugeschnitten werden sollen: Bislang zählen Wählerstimmen aus den dünn besiedelten ländlichen Regionen viel mehr, als Wählerstimmen aus der Hauptstadtregion Reykjavík, wo aber mehr als die Hälfte der Isländer lebt.
Doch dann gab es im Parlament keine Mehrheit für den Verfassungsentwurf. Kurz danach wurde die linke Regierung abgewählt. Þorvaldur Gylfason ist - wie Auður Lóa und ihr Freund Starki, wie so viele Isländer – enttäuscht:
"Die neuen Verfassungsideen und der starke Rückhalt in der Bevölkerung sind der politischen Klasse und auch dem Präsidenten ein Dorn im Auge. Sie möchten das Projekt beerdigen. Sie stechen der Demokratie das Messer in den Rücken. Sie spielen mit dem Feuer. Sie geben der isländischen Demokratie den Abschiedskuss."
Island, die Vulkaninsel im Nordatlantik, scheint mir nach meinen Besuch bei jungen Isländern, beim Präsidenten und einem liberalen, nach Reformen strebenden Wirtschafts-Professor ein abschreckendes Beispiel dafür zu sein, was entfesselte Märkte und instinktlose Politiker anrichten können. Weil einige die Regeln nicht beachtet und nur an ihr Eigeninteresse gedacht haben, stand das Land 2008 kurz vor dem Staatsbankrott und spätestens seit dem Panama-Papers-Skandal im April ist die Gesellschaft entzweit.

Islands Piratenpartei als Alternative zum Establishment?

Inzwischen erscheint die Piratenpartei als echte Alternative. Sie erreicht in Umfragen seit Monaten zwischen 30 und 40 Prozent. Im vierten Stock eines Industriebaus in Reykjavík findet heute ein Parteitag der Piraten statt. Rund 100 Mitglieder sind gekommen.
Elsa Nore ist 38 Jahre alt, arbeitet als Erzieherin in einem Kindergarten und würde bei der nächsten Parlamentswahl gern als Abgeordnete ins Parlament einziehen:
"Wir stehen für Veränderungen. Wir wollen, dass die, die an der Macht sind, weniger Macht haben und dass die, die bislang keine Macht haben, mächtiger werden. Die Politik hat sich so weit von den normalen Menschen entfernt. Es muss doch möglich sein, Ideen von außerhalb ins Parlament zu tragen. Die Regierung müsste den Menschen nur mal zuhören. Und das möchte ich verändern."
Neben Elsa Nore steht Birgir, 49 Jahre alt und Architekt. Er ist noch nicht so lange Mitglied bei den Piraten, Berufspolitiker will er nicht werden. Aber er hat die Nase voll von der Vetternwirtschaft in Island.
"Es gibt hier viel Korruption. Du hilfst mir hier und ich tue dafür dies für dich. Dafür bekomme ich ein Stück vom Kuchen ab. Man beschützt und fördert sich gegenseitig, verhilft seinen Bekannten zu Aufträgen. Aber wenn du nicht in der richtigen Partei bist oder eine andere Meinung hast, kann es schwierig werden für dich."
Birgir spricht aus Erfahrung. Er wurde aus einem Architektenverband rausgeschmissen, weil er mit einigen Entscheidungen nicht einverstanden war - vermutet er. Den tatsächlichen Grund hat er nie erfahren. Aber sowas würde sich doch nicht plötzlich ändern, nur weil die Piraten an die Macht kommen. Oder?
"Nun, sie würden viele Prozesse transparenter machen. Und wenn es mehr Volksabstimmungen gibt und alles transparent erklärt werden muss, funktioniert die Cliquenwirtschaft nicht mehr. Und es würde jemand anders an der Macht sein, der solche Bürgerbeteiligung unterstützt. Und dann kann sich die jeweils bessere Idee durchsetzen."
Dieser Meinung ist auch Birgitta Jónsdóttir, die Vorsitzende der isländischen Piratenpartei. Sie hat schwarze lange Haare, trägt schwarze Kleidung und hat wache, lustige Augen, die diese isländische Magie und Verrücktheit ausstrahlen. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass die Augen sehr wütend funkelnde Blicke aussenden können.
"Das System ist Teil des Problems, Du musst es ändern. Ansonsten ist es egal, wer gerade an der Macht ist, es ändert sich nichts, solange die Strukturen dieselben sind. Und die Menschen verändern sich, wenn sie in diese Strukturen hineingeraten, du kannst es beobachten: Auch Leute, die eigentlich gut und ehrlich waren, werden genauso geheimnistuerisch und inkompetent, wie die anderen. Weil sie nichts anders machen können. Wenn Du etwas verändern willst, musst Du aber andere Sachen ausprobieren. Das ist doch klar."
Birgitta Jónsdóttir schaffte es bei den vorgezogenen Neuwahlen 2009, also während der Finanzkrise, als Abgeordnete ins Parlament gewählt zu werden. Damals als Teil einer neuen Gruppe namens Hreyfingin, zu deutsch: Bewegung.
Später wurde Birgitta Jónsdóttir Mitglied bei den Piraten, und die sind seit den letzten Wahlen 2013, mit drei Sitzen im isländischen Parlament vertreten:
"Nein, ich möchte nicht die nächste Ministerpräsidentin werden. Ich wäre lieber die Sprecherin des Parlaments, ich wäre wirklich gut darin. Ich bin jetzt seit sieben Jahren Abgeordnete. Ich weiß genau, was wir ändern müssen, um das Parlament ein Stück zu entmachten. Um es zu öffnen, um die Öffentlichkeit mehr miteinzubeziehen. Und ich würde hart sein zu meinen eigenen Parteimitgliedern, wenn sie nicht halten, was sie versprochen haben. Wir müssen die Kategorien der Macht neu denken."
Und ein Stück weit die Welt verbessern, will sie auch gleich noch: Birgitta Jónsdóttir kann sich gut vorstellen, die von den USA wegen Geheimnisverrats gesuchten Whistleblower Edward Snowden oder Julien Assange nach Island zu holen. Die Mehrheit der Bevölkerung hätte gewiss nichts dagegen:
"Asyl würde ihnen nicht helfen, sicher wären sie nur, wenn sie die Staatsbürgerschaft bekommen. Ich habe Snowden und Assange von Anfang an ermutigt, sich um eine isländische Staatsbürgerschaft zu bewerben. Wenn sie eines Tages einen entsprechenden Antrag stellen und wenn die Piratenpartei dann stark genug ist, würden wir darüber im Parlament verhandeln. Das größte Problem wäre es eher, dass die beiden überhaupt nach Island reisen dürfen."
Island hat sich in der Vergangenheit schon einige Male mit den Mächten dieser Welt angelegt, man denke an die Volksabstimmungen über Icesave - oder an Bobby Fischer: 2004 erhielt der berühmte Schachspieler Asyl in Island, die USA hatten seinen Reisepass für ungültig erklärt. 1991 war Island der erste Staat der Welt, der Litauen, Estland und Lettland anerkannte, als die drei baltischen Länder ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärten.
Auch die Enthüllungsplattform Wikileaks wurde von Island schon früh unterstützt. Ein ursprünglich geheimes Video, das zeigt, wie amerikanische Soldaten aus einem Hubschrauber heraus wahllos irakische Zivilisten niederschießen, wurde in Island bearbeitet und sorgte weltweit für Empörung. Im Abspann des Videos werden zahlreiche isländische Mitarbeiter namentlich erwähnt. Auch die Politikerin Jónsdóttir.

Treffen mit dem möglichen neuen Präsidenten Johannesson

Es ist eben doch nicht alles nur verfilzt und verlogen, denke ich - und fahre mit der Fähre auf die Westmännerinseln, eine kleine Inselgruppe südlich von Island. Hier gibt es noch in fast jeder Familie einen Fischer.
Hier hat heute der Mann mehrere Wahlkampfauftritte, der wahrscheinlich der neue Präsident von Island wird. Guðni Johannesson, von Beruf Geschichtsprofessor an der Universität Island. In den Umfragen führt er eindeutig mit rund 55 Prozent der Stimmen. Der bei weiten Teilen der Bevölkerung weiter populäre Amtsinhaber Grímsson, den ich in seinem Amtssitz besucht habe, tritt nicht mehr an:
"Ein Präsident sollte sich in der Geschichte unseres Landes auskennen, um die Gegenwart zu verstehen. Er sollte stets optimistisch in die Zukunft blicken. Er sollte versöhnen und nicht spalten. Er sollte an die Menschen denken, denen es nicht so gut geht. Ein Präsident sollte gute Arbeit leisten und den morgigen Tag besser machen als den gestrigen."
Guðni Johannesson spricht im Veranstaltungssaal des Gemeindehauses. Er ist 47 Jahre alt und hat Biografien über frühere isländische Präsidenten verfasst. Die Mehrheit der Isländer kannte ihn bis vor wenigen Monaten nicht. Er hat keinen politischen Hintergrund. Dass er in Rekordzeit so beliebt geworden ist, drückt vielleicht die Sehnsucht vieler Isländer nach einem Neuanfang aus:
"Er wäre ein vielversprechender Präsident. Er ist jung, intelligent. Ich mag ihn sehr."
"Guðni ist einer von uns. Ein normaler Mensch. Er will das Präsidentenamt vom Ruf des Elitären lösen. Guðni ist auf dem Boden geblieben. Und so sollte sich ein Präsident auch verhalten."
Alle mögen plötzlich Guðni - und sie mögen auch seine Frau Eliza, die jetzt ebenfalls die Bühne betritt. Die beiden haben sich als Studenten bei einem Blind Date kennengelernt, erzählen sie:
"Hier stehen wir nun, 13 Jahre später."
"18 Jahre, mein Liebling. Bist du ein Historiker oder nicht?"
"Ach ja, stimmt. Wieviele Kinder haben wir nochmal?"
Die beiden haben fünf Kinder. Guðni scheint verstanden zu haben, dass sich viele Isländer nach einem Präsidenten sehnen, der sich nicht als politisches Staatsoberhaupt inszeniert. Der sich nicht auf die eine oder auf die andere Seite stellt:
"Als Präsident möchte ich meiner Kinder weiterhin mit dem Fahrrad zur Schule bringen."
"Wenn ihr für mich und meine Familie stimmt, beweist ihr der Welt, dass wir eine familienfreundliche Gesellschaft sind."
Präsidentschaftskandidat Johannesson ist so populär geworden, dass sein wichtigster Konkurrent in den Umfragen nur noch auf 15 Prozent kommt.
Dieser Herausforderer ist Davið Oddsson - und er steht wieder für das alte, verfilzte System. Davið Oddsson ist der frühere isländische Ministerpräsident, Zentralbankchef, Chef der konservativen Unabhängigkeitspartei und nach Ansicht des amerikanischen Time-Magazines, einer der 25 Hauptverantwortlichen für die weltweite Finanzkrise 2008.

Der Bankencrash war ein Kulturschock für Island

Ich bin zurück in der Gemeinde Mosfellsbær, wo ich am Anfang dieser Geschichte mit Auður Lóa und Starki am Fluss spazieren gegangen bin.
Überall blühen Lupinen, lilafarbene Lupinen. Aus der Ferne betrachtet sieht es aus wie eine blühende Heidelandschaft.
Ich sitze im Garten mit Sigrun, sie wohnt hier in der Nachbarschaft:

"Die Lupine ist nach Island importiert worden 1945 aus Alaska. Sie überwuchert alle anderen Pflanzen und trägt dazu bei, dass die biologische Vielfalt beeinträchtigt wird."
Die Lupine wurde nach Island gebracht, um die Erosion zu stoppen, erzählt Sigrun:
"Island ist zu 60 Prozent eine Wüste. Bei der Besiedlung von Island im neunten Jahrhundert waren ungefähr 25 Prozent des Landes mit Wald bewachsen. Die Siedler von Island haben das ganze Land abgeholzt. Und seitdem kämpfen wir eben mit diesem Problem."
Irgendwie erscheint mir die Geschichte mit der alles überwuchernden Lupine wie ein Synonym für die turbulenten Entwicklungen, die Island in den letzten Jahrzehnten erlebt hat.
Bis Anfang der 90er Jahre war die Insel in vielen Bereichen ein abgeschottetes Land mit vielen Staatsbetrieben. Dann kamen der Neokapitalismus und die Privatisierungen und die Erwartungen waren erstmal hoch. Für eine Weile schien dieses neue Gesellschaftsmodell prima zu funktionieren. Dann kam der Crash.
"Bei dem Zusammenbruch der Banken, ja, es war ein richtiger Kulturschock für die Nation. Es ist ein Krieg auf Island, obwohl man das nicht so an der Oberfläche merkt. Und viel Trauer auch. Auch die Panama-Affäre. Das war einfach zu viel für zu viele Menschen."
Sigrun ist 58 Jahre alt, verheiratet, sie hat drei Kinder, einen Hund und ein kleines Gewächshaus im Garten . Sie hat früher mal in Berlin gelebt und dort Philosophie studiert. Sie engagiert sich im Gemeinderat von Mosfellsbær.
Sigrun sagt, dass sie Umweltschützerin ist. Sie hat zum Beispiel monatelang gegen die neue Aluminiumfabrik in Ostisland protestiert. Genützt hat der Protest nichts. Flüsse wurden gestaut und ein riesiger Damm errichtet, um ein neues Wasserkraftwerk zu bauen, das die energieintensive Aluminiumfabrik mit Strom versorgt.
Dementsprechend traurig ist Sigrun darüber, "dass wir so vieles kaputt machen, also die Wasserfälle, die geothermalen Gebiete und so weiter, um Elektrizität zu produzieren für die Schwerindustrie auf Island, die nicht einmal den Isländern selbst gehört. Wovon wir ganz wenig verdienen".
Skandale, Krisen, Umweltzerstörung. Höre ich Sigrun so zu, steht es wirklich schlecht um den isländischen Patienten. Dabei landet Island bei zahlreichen internationalen Vergleichen stets auf den vordersten Plätzen.
Die Geburtenrate ist eine der höchsten in Westeuropa. Fast in jedem noch so kleinen Ort gibt es ein Schwimmbad, eine Bibliothek und ein Gemeindezentrum. Die Naturlandschaft ist abwechslungsreich und, zumindest jetzt im Sommer, überwältigend schön. Die Isländer sind eines der friedlichsten und zufriedensten Völker der Welt, das Land hat grüne Energie im Überfluss und keine eigene Armee.
Nirgendwo sonst auf der Welt leben Frauen und Männer so gleichberechtigt, stellt alle Jahre wieder das Weltwirtschaftsforum in seinen Berichten zur Gleichstellung fest. Sigrun:

"Als ich zum Beispiel in Berlin lebte, haben mich Leute häufig gefragt, warum sind denn die isländischen Männer so schweigsam? Sie sind irgendwie mehr zurückhaltend als wir Frauen. Und, also Frauen auf Island haben auch sehr gute Beziehungen miteinander, also, wir stehen zusammen."
Na, das ist doch ein Anfang für einen Neuanfang, denke ich am Ende meines Besuchs.
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