"Nach 15 Jahren Aufklärungsarbeit einen Tag feiern"

Moderation Klaus Pokatzky · 26.11.2012
Der als Kind in der Odenwaldschule im hessischen Heppenheim sexuell missbrauchte Andreas Huckele wird mit dem Geschwister-Scholl-Preis 2012 ausgezeichnet. In seinem Buch "Wie laut soll ich denn noch schreien" schreibt er unter dem Pseudonym Jürgen Dehmers über die Zeit an der Schule. Für eine vollständige Aufarbeitung der Missbrauchsfälle müsste Huckele zufolge die Stiftung dringend neu organisiert werden.
Klaus Pokatzky: Unter dem Pseudonym Jürgen Dehmers hat Andreas Huckele das Schweigen gebrochen. Er hat den sexuellen Missbrauch an der Odenwaldschule, der renommierten Institution im hessischen Heppenheim aufgedeckt. Heute Abend bekommt er in München den Geschwister-Scholl-Preis. Jetzt ist er dort in München am Telefon. Zunächst einmal Glückwunsch, Andreas Huckele!

Andreas Huckele: Ja, danke schön.

Pokatzky: Sie erhalten den Preis, weil sie sich unbeirrbar für die Öffentlichmachung des Themas und die Aufarbeitung starkgemacht haben. Ist die Preisverleihung heute Abend jetzt für Sie wirklich so eine richtige Bestätigung, dass Sie das auch erreicht haben?

Huckele: Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass es im Kontext Odenwaldschule und sexualisierte Gewalt einmal überhaupt einen Anlass geben könnte, der bei mir einfach nur ungetrübte Freude auslöst. Und ich empfinde das auch mit gemischten Gefühlen, kann aber auch guten Gewissens sagen: Nach 15 Jahren Aufklärungsarbeit einen Tag feiern, das geht schon in Ordnung.

Pokatzky: Und danach feiern Sie dann nicht mehr?

Huckele: Danach wird erst einmal weitergearbeitet. Wir haben noch viel zu tun, und das werde ich ab morgen wieder in Angriff nehmen.

Pokatzky: Was haben Sie noch zu tun, wenn es um die Odenwaldschule geht?

Huckele: Also es steht immer noch aus, dass die Odenwaldschule alle Betroffenen sexualisierter Gewalt angemessen entschädigt. Es steht immer noch aus, dass die Odenwaldschule im Prinzip schließt, umstrukturiert, wie auch immer, jedenfalls mehr tut als diese Pseudoaktivitäten der letzten 13 Jahre, die immer nur dazu geführt haben, dass so viel zugegeben wurde, wie nicht mehr zu verleugnen war.

Pokatzky: Sie haben ein Buch geschrieben, und darin fordern Sie, die Odenwaldschule für immer zu schließen. Aber im Moment dürfte doch keine Schule stärker im Scheinwerferlicht stehen als die Odenwaldschule, da kann doch gar nichts mehr passieren. Warum also schließen?

Huckele: Also dass die Odenwaldschule im Scheinwerferlicht steht, das führt ja noch nicht dazu, dass die Strukturen, die diese Gewalt ermöglicht haben, verändert wurden. Und wir haben ja inzwischen gelernt, dass die bestehenden Strukturen immer wieder Menschen angezogen haben, die genau diese Strukturen nutzen, um gewalttätig gegenüber Kindern zu sein. Das Scheinwerferlicht an sich, glaube ich, kann keine Verbrechen verhindern.

Pokatzky: Als Sie und Ihre Mitstreiter - 1999 war das schon, also vor 13 Jahren - an die Öffentlichkeit gegangen sind, da ist zwar ein aufrüttelnder Artikel der "Frankfurter Rundschau" erschienen, doch ohne große Reaktion. Mehr als 100 Schüler waren Opfer des Missbrauchs, mehr als ein Dutzend Lehrer und Erzieher gehörten zu den Tätern. Wie erklären Sie sich, dass das so lange unaufgedeckt bleiben konnte?

Huckele: Also ein Faktor war ganz sicherlich gewesen, dass 1999 die "Frankfurter Rundschau" schon nicht mehr zu den Leitmedien gezählt hat, das heißt die anderen Blätter ihnen nicht gefolgt sind. Das andere ist auch, dass einfach eine ganze Reihe von Journalisten entweder die Triftigkeit des Themas nicht erkannt haben oder einige sogar gezielt das Thema verhindert haben. Das war 2010 anders.

Pokatzky: Wenn Sie sagen gezielt verhindert, bedeutet das, dass die Odenwaldschule oder die, die da verstrickt waren, entsprechende Kontakte, ein entsprechendes Netzwerk in den Medien hatten?

Huckele: Dazu ist es unglaublich schwierig, sich öffentlich zu äußern, aber es ist so - das wissen wir heute -, dass einfach in den Redaktionen Leute gesagt haben, wenn wir dieses Thema jetzt groß öffentlich machen, dann schaden wir einer bestimmten Pädagogik, dann schaden wir einer bestimmten Einrichtung, die - und dann kommt das immer wiederkehrende Argument - ja im Grunde auch viel Gutes geleistet hat.

Pokatzky: Sie haben Ihr Buch "Wie laut soll ich denn noch schreien?" unter dem Pseudonym Jürgen Dehmers verfasst, um sich selbst, also als ein ehemaliges Opfer und ja immer noch Opfer - mit dem, was Sie da in sich herumtragen müssen - des sexuellen Missbrauchs, zu schützen. Jetzt haben Sie Ihren richtigen Namen bekannt gegeben, warum? Weil diese Doppelrolle Sie vielleicht zu sehr belastet hat?

Huckele: Also für mich war es wichtig gewesen, irgendwann mein Alter Ego Jürgen Dehmers in meine Identität vollständig zu integrieren, und möchte an dieser Stelle das schon auch als Widerspruch formulieren. Also ich bin heute kein Opfer mehr. Ich war eines als Kind, so wie alle anderen Kinder es auch waren, aber heute verstehe ich mich als Akteur.

Pokatzky: Wie haben Sie das hingekriegt, dass Sie heute sagen können, Sie sind kein Opfer mehr? Träumen Sie nicht manchmal davon?

Huckele: Doch, natürlich. Also ich träume davon und ich hab auch diverse Schädigungen, die alle Traumatisierten haben, mit Reizempfindlichkeit, Lärmempfindlichkeit, nicht in engen Räumen sein können, aber ich hab sozusagen meinem Dämon ins Auge gesehen und habe einfach angefangen, mich mit ihm auseinanderzusetzen.

Pokatzky: Jetzt wird ja Ihre oder ist besprochen worden, Ihre wahre Identität, Ihr Privatleben wird damit öffentlich, ist das nicht doch ein hoher Preis?

Huckele: Unterm Strich ist es der niedrigere Preis. Also der höhere Preis war gewesen, permanent mit einer Doppelidentität zu leben, und das wollte ich nicht mehr.

Pokatzky: Wenn ich Ihnen zusätzlich zu dem Geschwister-Scholl-Preis, den Sie heute Abend bekommen, noch etwas schenken könnte, einen Wunsch erfüllen könnte, was wünschen Sie sich, wie in Zukunft mit dem Thema Missbrauch umgegangen wird?

Huckele: Ich wünsche mir, dass die Leute zusammenstehen und eine soziale Umwelt schaffen, in der die Kinder unversehrt aufwachsen können.

Pokatzky: Wird da schon genug getan?

Huckele: Nein. Also es wird darüber gesprochen, das Thema wird überhaupt erstmals wirklich zugelassen, aber die entscheidenden Handlungen stehen noch aus.

Pokatzky: Dann frage ich jetzt noch mal ganz konkret: Was würden Sie sich von der Odenwaldschule, von der derzeitigen Leitung wünschen?

Huckele: Dass sie die Stiftung, die einberufen wurde und die eine Arbeit macht, die ich sehr kritisch sehe, dass das alles neu organisiert wird und dass Menschen beauftragt werden, die dem Thema auch gewachsen sind.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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