Mythos und Umbruch maßgeschneidert

11.09.2008
Bei Ingo Schulze liebt Adam nicht Eva, sondern Evelyn. Und er, der Schneider, liebt sie, die Studentin, nicht im Paradies, sondern in der DDR. Die sehr private Geschichte verknüpft den alten Menschheitsmythos mit den politischen Umbrüchen von 1989. Rasch dahingeworfene Dialoge in kurzen Kapiteln: Das liest sich sehr süffig.
Die Entstehungsgeschichte dieses Buches ist sehr beredt. Der Berlin Verlag, der Verlag Ingo Schulzes, hat eine großangelegte ambitionierte Reihe mit vielen ausländischen Verlagen initiiert, in der bekannte Autoren die alten Mythen neu erzählen. Ingo Schulze stand da vielleicht ein bisschen unter Druck. Aber kaum, als er sich des biblischen Initiationsmythos um Adam und Eva angenommen hatte, wurde etwas Überraschendes daraus.

Als kleine Schreibübung, als Etüde geplant, entstand schier unversehends ein ausgewachsener Roman. Man merkt, dass dieses Buch ganz anders geschrieben wurde als der große Wenderoman "Neue Leben", in dem Schulze alles in die Waagschale zu werfen versuchte, was er zu Ost und West und 1989 zu sagen hatte. "Adam und Evelyn" nahm sich anfangs wohl wie ein leichthändiges Nebenwerk aus. Es liest sich süffig, kurzweilig, wirkt rasch dahingeworfen mit Lust am Einfall und seiner Ausführung. Es ist ein Roman mit vielen kurzen Kapiteln, und er besteht fast nur aus Dialogen. Das hat sofort etwas Mitreißendes – ohne viel Drumherum, so scheint’s.

Schulze verlegt die Adam und Eva-Geschichte, zunächst unmerklich, in die DDR-Zeit um 1989. Adam ist ein Schneider, ein eleganter Damenschneider, der sich mit den Verhältnissen auf recht souveräne Weise arrangiert hat. Er liebt sein Handwerk, und er liebt die Frauen, denen er schöne Kleider maßgerecht auf den Leib schneidert. Es wirkt wie ein Idealfall dessen, was damals Günter Gaus als die "Nischenexistenz" der DDR-Bewohner ausgemacht zu haben glaubte. Adams Freundin Evelyn ist Anfang 20 und 12 Jahre jünger, und einmal, im Sommer 1989, erwischt sie Adam in flagranti mit einer seiner Kundinnen. Er liebt die Kundinnen zwar vor allem deshalb, weil er es liebt, ihnen adäquäte Kleider zu schneidern, aber dass Evelyn sofort mit ihrer Freundin Simone nach Ungarn in den Urlaub fährt, ist nachvollziehbar. Dort beginnt sie eine Affäre mit Simones Cousin Michael aus dem Westen. Adam aber fährt Evelyn mit dem Auto nach, und er trifft sie am Plattensee, da, wo sie ursprünglich gemeinsam Urlaub machen wollten, bei einer befreundeten ungarischen Familie: Er zeltet im Garten, Evelyn zeigt ihm die kalte Schulter und wohnt mit Simone und Michael im Haus.

Die politische Umbruchphase dieser Wochen ist in Schulzes Text mit einer sehr privaten, konkreten Liebesgeschichte kurzgeschaltet, und in diesem Zusammenhang, im Übergang von individueller und globaler Perspektive wird die Geschichte als eine Neuauflage alter Menschheitsmythen lesbar. Langsam dringt durch, dass Ungarn die Grenzen für DDR-Bürger öffnen wird, dass in Bayern schon Auffanglager vorbereitet werden. Michael, der Mann aus dem Westen, kann nicht länger warten, seine Arbeit in Hamburg ruft, doch Evelyn zögert, sich ihm gleich anzuschließen. Zusammen mit Adam fährt sie dann doch über die Grenze, über Österreich nach Bayern, in einem Hotelzimmer liest ihr Adam in der Bibel die Geschichte von Adam und Eva vor, und über die gesamte Handlung legt sich ein großes Assoziationsnetz, ein Spiel mit Motiven und Verweisen: Was hat es mit der Vertreibung aus dem Paradies auf sich? Was ist das Paradies? Was ist Verführung, was macht Eva mit Adam, worauf lässt Adam sich ein?

Während Evelyn sich anschließend in München relativ schnell zurechtfindet und das Studium beginnt, das ihr in der DDR verweigert worden ist, sieht Adam die Bilder von den Montagsdemonstrationen in Leipzig und gerät in eine Depression, die der Arzt als "Übersiedlungssyndrom" diagnostiziert. Er findet Arbeit bei einem "Flickschuster", wie er es nennt, einer Änderungsschneiderei. Die Frauen des Westens sind längst an Konfektion gewöhnt und nicht an maßgeschneiderte Kleider. Aber Schulze hält den Schluss offen, Adams Sicht der Dinge ist nicht die Sicht des Romans. Wenn Adam zum Schluss – mit sehr ruhigen, bedachten Bewegungen – die Fotos verbrennt, die er immer von seinen Modellen gemacht hat, ist klar: es wird, es muss etwas Neues beginnen.

Rezensiert von Helmut Böttiger

Ingo Schulze: Adam und Evelyn
Roman, Berlin Verlag, 313 Seiten, 18 €