Muttersprache der Götter

09.03.2012
Heinz Schlaffer ist Germanist und war Professor für Literaturwissenschaften in Stuttgart. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass er ein Buch über Lyrik geschrieben hat. Erstaunlich ist allerdings der Titel und was er über dieses Buch vermuten lässt: "Geistersprache".
Gedichte, so die verbreitete, idealistische Illusion, sind persönlichster Ausdruck des Gefühls und des Erlebens. Sie entstammen der Eingebung eines Dichters, seinem innersten Empfinden, und sind in einer mal nur dunklen, mal unverständlichen Sprache notiert, die einer Interpretation bedarf, um ihre mögliche Bedeutung hervorzuholen. So lernt und praktiziert man das in der Schule nach dem Motto: Was will der Dichter uns damit sagen? Die Frage, warum es Gedichte überhaupt gibt, warum sie so sind, wie sie sind, und welche Bedürfnisse ihrer Entstehung zugrunde liegen, wird dabei nur selten gestellt. So wirkt es zunächst geradezu befremdlich, wenn der emeritierte Germanist Heinz Schlaffer nun mit "Geistersprache" eine Kulturgeschichte der Lyrik vorlegt und dabei - so der Untertitel - deren "Zweck und Mittel" zu untersuchen verspricht.

Konsequent führt Schlaffer Lyrik auf die Entstehung in religiösen, rituellen Zusammenhängen zurück. Als ihre elementare, ursprüngliche Aufgabe bezeichnet er die "Anrufung", also die Hinwendung zu Göttern und Geistern. "Sprechhandlungen" wie Lobeshymnen, Segenssprüche, Gelöbnisse, Beschwörungen, Klagen, Mahnungen, die sich daraus ergeben, begründen die verschiedenen Gattungen der Lyrik. Doch alle waren ursprünglich in Feierlichkeiten oder gemeinsame kultische Handlungen eingebunden. Der Dichter war eine Art Priester, oder, wie der Schamane, zugleich auch noch Arzt, Zauberer und Sänger. Das Publikum war nicht direkter Adressat der Gedichte (wie der heutige Leser), sondern Zeuge der Anrufung, so wie ein Besucher des Gottesdienstes.

Poesie, sagt Schlaffer, ist "die Muttersprache der Götter", doch die Geschichte der Lyrik schildert er als einen fortgesetzten Säkularisierungsprozess. In Metrik, Rhythmik und Form findet er Hinweise auf die rituelle Herkunft und führt Gedichte in ihrer materiellen Gestalt auf ihre jeweiligen Zwecke zurück. Dass sie einmal mit Tanz, Gesang und Festen verbunden waren, ist in ihrer Gestalt noch spürbar, auch wenn das Wissen um alte Funktionen und der Glaube an die zu beschwörenden Geister verloren ging. Die Erfindung des "Genies" war ein letzter Versuch, der Aufklärung zum Trotz doch noch ein wenig göttlichen Atem im Gedicht zu retten.

Schlaffer macht es sich nicht leicht. Auch er kann nicht erklären, warum es Lyrik auch heute noch gibt, da doch ihre Zwecke verloren gegangen sind, ihre Mittel aber trotzdem auf diese alten Zwecke ausgerichtet bleiben. Gedichte leben heute ein Gespensterleben und haben sich - auf anderer Ebene - erneut in eine "Geistersprache" verwandelt. Nichts könnte der Lyrik fremder sein als die buchförmige Existenz in einer Bibliothek.

Nach seiner "kurzen Geschichte der deutschen Literatur", die er vor zehn Jahren vorlegte, ist Heinz Schlaffer erneut eine anregende historische Betrachtung gelungen. Er öffnet einen ungewöhnlichen Blick auf die Poesie, holt sie heraus aus dem auratischen Raunen und gibt ihr, indem er sie radikal entzaubert, einen neuen, ganz eigenen Glanz. Lyrik auf Zwecke zurückzuführen macht sie eben nicht ärmer, sondern gibt ihr eine neue Kraft. Mit Heinz Schlaffer lassen sich viele Gedichte anders und genauer lesen, weil er die Vielfalt ihrer Mittel ins Bewusstsein rückt. Und am Ende bleibt ein Rest des Unerklärten. Platz genug für die Lyrik, um zu überdauern.

Besprochen von Jörg Magenau

Heinz Schlaffer: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik
Hanser, München 2012
204 Seiten, 18,90 Euro
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