Kaum Mutterschutz in den USA

Hilfe, unser Baby kommt!

22:45 Minuten
Blonde Mutter und zwei blonde Kinder machen Faxen mit Papierkronen im Garten.
Sie hat eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen, um sich ihre Kinder leisten zu können: Novella Evans mit Tochter Charlotte und Sohn Nate. © privat
Von Nicole Markwald · 19.07.2022
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In keinem anderen Industrieland der Welt ist die Situation für Mütter so hart wie in den USA: kein bundesweiter gesetzlicher Mutterschutz, arbeiten bis kurz vor der Geburt und schnell danach. Leidtragende sind Väter, Mütter und Kinder gleichermaßen.
Claire Kinder ist mit ihrem Sohn Jonah auf einem Spielplatz. Noch kann der Einjährige nicht laufen, trotzdem ist nichts vor ihm sicher: Er krabbelt durch den Sandkasten, erklimmt eine kleine Mauer, kriecht vorsichtig über einen auf dem Gehweg geparkten Elektroroller. “Er ist etwas zu früh auf die Welt gekommen, wog nur etwas über 2000 Gramm. Er wirkte in den ersten Monaten so zerbrechlich", erzählt Claire.

"Es ging nur ums Überleben"

Davon ist nun nichts mehr zu sehen – doch auch für Claire selbst war der Beginn ihrer Mutterschaft traumatisch. „Rückblickend sind die ersten Wochen total im Nebel", erinnert sie sich. "Eine Woche, nachdem wir aus dem Krankenhaus entlassen waren, musste ich wieder eingeliefert werden." Sie litt nach der Geburt an den Folgen einer Schwangerschaftsvergiftung. "Im ersten Monat nach der Endbindung ging es für mich nur darum zu überleben.“
Vor blauem Himmel und Skyline steht eine junge lachende Frau mit lachendem Baby auf dem Arm auf einer Grünfläche.
"Wie wir uns um unsere Kinder und Frauen kümmern, zeigt, was für eine Gesellschaft wir sind", meint Claire. Hier mit ihrem Sohn Jonah.© Deutschlandradio / Nicole Markwald
Die amerikanische Gesetzgebung sieht für Frauen nach der Geburt eines Babys keinen besonderen Schutz vor. Einen landesweit gültigen bezahlten Mutterschutz gibt es in den USA nicht – als einziges industrialisiertes Land der Welt.
American Exceptionalism, die sonst so stolz betonte Einzigartigkeit der anderen Art. Einige wenige Bundesstaaten wie Kalifornien, Connecticut und New Jersey haben bezahlten Mutterschutz eingeführt, Minimum vier Wochen, höchstens zwölf Wochen lang.

Keine gesetzlich bezahlte Auszeit

Tennessee, wo Claire Kinder zum Zeitpunkt ihrer Schwangerschaft lebte, gehört nicht zu den neun Bundesstaaten und Washington D.C., die Frauen eine bezahlte Auszeit gesetzlich anbieten. In dem Fall hängt alles vom Arbeitsplatz und der Größe des Unternehmens ab.
Seit drei Jahren arbeitete Claire in einer Anwaltskanzlei mit zwölf Angestellten. Die Kanzleiinhaber erwarteten, dass sie acht Wochen nach der Entbindung in den Job zurückkehrt. Vier Wochen lang erhielt sie von ihrem Arbeitgeber Geld, die übrigen vier Wochen nicht.
Als die Rückkehr in den Job anstand, kam die Überraschung: „Sie wollten, dass ich zurückkehre, aber nur als Vollzeitkraft, im Büro. Obwohl wir wegen der Pandemie seit über einem Jahr alle von zu Hause arbeiteten. Es gab überhaupt keinen Spielraum, vielleicht in Teilzeit zu gehen oder Homeoffice zu machen.“

Zwischen Job und Kind entscheiden

Die 36-Jährige und ihr Mann entschieden, dass Claire nicht in den Job zurückkehrt. „Viele Leute müssen zurückkehren", meint sie. "Ich habe Glück, weil mein Mann einen Vollzeitjob hat. So hatten wir Zeit, bis ich etwas in Teilzeit fand. Aber es war stressig. Ich wollte meinen Job eigentlich gern weitermachen. Aber ich hatte auch das Gefühl, dass ich mein Kind hätte hintenanstellen müssen.“
Eine blonde Frau mit dunkelumrandeter Brille sitzt vor einem Bücherregal.
Der fehlende gesetzlich vorgeschriebene Mutterschutz untergrabe die Gleichberechtigung, meint die Politikwissenschaftlerin Megan Sholar. © privat
Die Geschichte von Claire ist kein Einzelfall. Für viele Frauen in den USA kommt mit dem Familienzuwachs auch der Knick in der Karriere oder das vorläufige Ende des Berufswegs.

Hauptleidtragende sind die Mütter

Nach einer Erhebung des Pew Research Centers reduzieren mehr Frauen als Männer ihre Stunden, lehnen eine Beförderung ab, bleiben häufiger zu Hause, wenn das Kind krank ist, steigen eine Zeit lang oder ganz aus der Arbeitswelt aus, um sich um die Kinder zu kümmern.
Megan Sholar unterrichtet an der Loyola University in Chicago. Sie hat ein Buch über die Geschichte von Elternzeit in den USA geschrieben: „Getting Paid While taking Time“. Wenn ein Elternteil in einer heterosexuellen Beziehung zu Hause bleibt, sei es meistens die Frau, sagt sie. "Weil sie weniger verdient. Aber sie übernehmen den größten Teil der Care-Arbeit. Keinen gesetzlich vorgeschriebenen bezahlten Mutterschutz zu haben, untergräbt die Gleichberechtigung.“
Politisch wird die Rückkehr der Frauen auf den Arbeitsmarkt nicht gefördert, im Gegenteil. Die Pandemie hat den Trend noch verstärkt – seit Februar 2020 haben mehr als 2,3 Millionen Amerikanerinnen dem Arbeitsmarkt den Rücken gekehrt. Von einer „Shecession“ ist die Rede. Besonders betroffen sind nicht-weiße Frauen, oft im Gastgewerbe oder der Freizeitwirtschaft tätig.

Veto gegen Mutterschutz

Aber warum leisten sich die USA, die größte Volkswirtschaft der Welt, keinen landesweiten gesetzlich vorgeschriebenen bezahlten Mutterschutz? Derzeit müssen Paare, bei denen Nachwuchs unterwegs ist, auf einen Flickenteppich an Möglichkeiten zurückgreifen, der den Familien Zeit mit dem neuen Kind gibt, sie aber nachhaltig finanziell stresst.
Versuche, bezahlten Mutterschutz, Paid Leave, einzuführen, gab es seit Mitte der 80er-Jahre immer wieder. Die Versionen und Namen des Vorhabens änderten sich. Ursprünglich waren 26 Wochen unbezahlte Freistellung vom Job vorgesehen, der Zeitraum schrumpfte auf zwölf Wochen, verschiedene Vorbedingungen wie Länge des Arbeitsverhältnisses, Größe des Unternehmens wurden hinzugefügt.
Und es ging nicht mehr nur um die Betreuung von Neugeborenen, sondern auch um die Pflege von kranken Familienmitgliedern. Und obwohl der Kongress diesen sogenannten "Family and Medical Leave Act" schon 1990 verabschiedete, legte der damalige Präsident George H. Bush zweimal sein Veto ein. Das Vorhaben werde der Wirtschaft schaden, Unternehmen sollten nicht zur Teilnahme gezwungen werden – so seine Bedenken.
„Wir sind in den USA sehr individualistisch", erklärt die Politikwissenschaftlerin Megan Sholar. "Wir hängen der schrägen Idee nach, dass wir alles selbst schaffen können, wenn wir nur hart genug arbeiten. Man sollte auf keinen Fall von der Regierung abhängig sein. Das gilt besonders beim Kinderkriegen. Da heißt es: Aber es ist doch deine Entscheidung. Warum sollte der Staat dir helfen, wenn du es doch so gewollt hast?!“

Mit Bill Clinton kam der Umschwung

Der Umschwung kam mit dem frisch gewählten Bill Clinton. Als einer seiner ersten Amtshandlungen unterschrieb er im Februar 1993 den Family and Medical Leave Act (FMLA). „Die Mehrheit der Amerikaner haben dieses Gesetzesvorhaben unterstützt, parteiübergreifend. Aber es gab großen Widerstand, zwei Einsprüche, Vetos – und es dauerte acht Jahre, bis es endlich geltendes Recht wurde. Dieses Gesetz wird Familien stärken, aber auch unsere Firmen.“
Der US-amerikanische Präsident Bill Clinton hält seine Antrittsrede auf der Tribüne vor dem Kapitol.
Der US-Präsident Bill Clinton brachte 1993 Bewegung in die US-Familienpolitik. Doch nicht alle profitierten.© picture-alliance / dpa
Doch nur rund 60 Prozent aller amerikanischen Arbeitnehmerinnen profitieren vom FMLA. Sie erfüllen die Voraussetzungen – man muss beispielsweise für sein Unternehmen mindestens ein Jahr gearbeitet haben und darf nicht weiter als 120 Kilometer vom Arbeitsplatz entfernt wohnen. Die Firma muss mindestens 50 Angestellte haben. Wenn all diese Bedingungen erfüllt sind, können zwölf Wochen unbezahlte Freistellung mit Rückkehrgarantie in Anspruch genommen werden.

Urlaubs- und Krankentage ansparen

Novella Evans hatte Anspruch auf diese zwölf Wochen, als ihre beiden Kinder auf die Welt kamen. Tochter Charlotte ist inzwischen zehn Jahre alt, Sohn Nate ist neun.
Evans arbeitete in einer großen texanischen Gesundheitsbehörde. Um ein wenig Geld während ihrer Auszeit zu haben, hatte sie zusätzlich Urlaubs- und Krankentage angespart und eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen – ein Weg, den viele Frauen gezielt nehmen, wenn sie es sich leisten können. Vier Monate konnte sie mit ihrer Tochter Charlotte zu Hause verbringen, ihr Mann, ein Softwareentwickler, hatte keinen Anspruch auf Elternzeit.
Als sie in ihren Job zurückkehrte, begann für Charlotte die Zeit im Kindergarten. Auch hier gibt es keinerlei Unterstützung vom Staat. „Man beginnt mit der Suche nach dem besten Kindergarten", erinnert sich Novella Evans. "Am Ende landet man bei dem Kindergarten, den man sich leisten kann. Es ist deprimierend, dass man seinem Kind nicht das Beste geben kann, dass es unter Umständen sogar schlecht ist. Es sollte nicht nur davon anhängen, was man sich leisten kann. Natürlich will jeder das Beste für sein Kind.“

650 Euro pro Woche für Kindergartenbetreuung

Die Kosten für die Betreuung in einem Kindergarten sind von Stadt zu Stadt, Bundesstaat zu Bundesstaat unterschiedlich. Ein Beispiel: Eine Woche Kindergartenbetreuung kostet im US-Bundesstaat Texas durchschnittlich rund 650 Euro pro Woche. Auch alle Mahlzeiten müssen von den Eltern mitgeschickt werden. Die Zahl stammt vom Economic Policy Institute, das sich um die Belange von Menschen mit mittlerem und geringen Einkommen kümmert. Denn für diese Familien ist es oft kostengünstiger, auf ein Einkommen zu verzichten und das Kind selbst zu betreuen.
So sehr sich Novella Evans auch auf ihre Rückkehr in den Job freute, schwer war der Schritt, ihr gerade vier Monate altes Baby in einer Betreuungsstätte abzugeben, trotzdem. „Ja, das war hart", sagt sie. "Ich meine – es sind alles Fremde. Man hört diese Geschichten und fragt sich, was machen sie den ganzen Tag? Kümmern sie sich? Wird sie regelmäßig gewickelt? Singen sie ihr vor? All die Dinge, an die man halt so denkt.“

Kündigung im Mutterschutz

Auch die Architektin Deeba Haider aus Venice, Kalifornien, hatte vor, ihren Sohn Aiden nach drei Monaten in einen Kindergarten zu geben. Doch zwei Tage vor ihrer geplanten Rückkehr in den Job erhielt sie einen Anruf: Ihr wurde gekündigt. Die Kündigung in der Zeit ihres Mutterschutzes war legal.
„Es ärgerte mich, wie man mich behandelt hat, und ich ärgerte mich über das System", sagt sie rückblickend. "Aber ich bedauerte es nicht. Ich musste nicht zurück zu einem Job, den ich nicht besonders mochte, und konnte bei meinem Neugeborenen bleiben – das war ein Segen.“
Mit ihrem Arbeitsplatz verloren sie und ihr Mann aber auch ihre Krankenversicherung. Eine Hypothek für den ersten Hauskauf der kleinen Familie stand auf der Kippe – eine insgesamt aufreibende Zeit.

Fehlendes soziales Sicherheitsnetz für Eltern

Haider ist Kosmopolitin. Geboren in Hongkong, in Japan aufgewachsen. Zum Studium kam sie in die USA, ihre Schwester lebte lange in Großbritannien, die Eltern wohnen in Kanada.
Ihre Perspektive auf das fehlende soziale Sicherheitsnetz für frisch gebackene Eltern in den USA ist von diesen Erfahrungen geprägt. „Ich bin mit 19 in die USA gekommen. Ich habe hier studiert, mir ein Leben aufgebaut. Ich bin noch hier. Aber es ist in vielerlei Hinsicht kein gütiges Land", meint sie.
Höhe und Dauer des Mutterschutzes und der Elternzeit hängen entscheidend von zwei Faktoren ab: Wohnort und Arbeitsplatz. Und Letzteres hängt ab vom Bildungsgrad. Je besser bezahlt der Job, je größer das Unternehmen, desto besser sind in der Regel die sozialen Leistungen.

Netflix, Microsoft, Airbnb und Twitter als Vorbild

Der großzügigste Arbeitgeber in Sachen Mutterschutz ist Netflix. Der Streamingdienst aus Kalifornien bietet seinen Angestellten ein ganzes Jahr Elternzeit, bezahlt.
Doch damit steht der Konzern ziemlich allein. Aber auch die anderen Technologiekonzerne wie Microsoft, Airbnb oder Twitter haben für amerikanische Verhältnisse großzügige Regelungen. Sie bieten gut 20 Wochen bezahlte Elternzeit. Denn das macht wirtschaftlich Sinn, weiß Politologin Megan Sholar: „Die Fluktuationsrate in den Firmen ist geringer, die Produktivität höher, die Arbeitsmoral besser. Im Endeffekt ist es wirtschaftlich sinnvoller für die Unternehmen. Davon lassen sich schon jene beeindrucken, für die Gleichberechtigung als Argument nicht zieht.“
Doch der Gedanke, es sei wirtschaftlich unrentabel, Frauen eine bezahlte Auszeit nach der Geburt eines Kindes zu geben, hält sich hartnäckig. Der andere Grund, weshalb die USA bislang keine landesweit einheitliche Regelung haben? Die Finanzierung. Deshalb steckt Joe Bidens großes Investitionsprojekt "Build Back Better" im Senat fest.
Darin enthalten: die Einführung von vier Wochen bezahltem Mutterschutz, in jedem Bundesstaat, einkommensunabhängig. Auch eine Erweiterung des Kinderfreibetrags hängt damit in der Luft – ein wichtiges Instrument in der Bekämpfung von Kinderarmut in den USA.
„Momentan ist es nahezu unmöglich, irgendetwas gemeinsam zu verabschieden, so extrem sind die Positionen beider Parteien. Die Demokraten bleiben bei sich, die Republikaner bei sich. Es fällt beiden Seiten schwer zusammenzukommen, egal bei welcher Angelegenheit.“

Arbeiten schon zehn Tage nach der Geburt

Die Leidtragenden: jene Väter, Mütter und Kinder, für die gemeinsame erste Monate ohne Geld- oder Arbeitsplatzsorgen Luxus sind. Besonders erschütternd ist eine Statistik des Arbeitsministeriums von 2012.
Darin heißt es, in den USA kehrt jede vierte Frau schon zehn Tage nach der Geburt zurück an den Arbeitsplatz. Der emotionale und physische Stress für Mutter und Kind sind enorm und langwierig.
„Wie wir uns um unsere Kinder und Frauen kümmern, zeigt, was für eine Gesellschaft wir sind", sagt die junge Mutter Claire Kinder. "Und der Fakt, dass wir nicht mehr in das Wohlergehen unserer Kinder und jener, die sich um sie kümmern, investieren, ist alarmierend. Die Folgen werden noch Generationen später zu spüren sein.“
Das Feature wurde erstmals am 08.02.2022 gesendet.
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