Muslimische Bruderschaft im Senegal

Die Macht der Muriden

26:10 Minuten
Vor der Großen Moschee in der Stadt Touba sind drei Frauen zu sehen, die auf das Gebäude zugehen.
Das wichtigste Bauwerk der Muriden-Bruderschaft - die Moschee in ihrer zentralen Stadt Touba © imago images / Friedrich Stark
Von Jens Borchers · 23.07.2019
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Spitzenpolitiker Senegals huldigen dem General-Kalifen der Muriden regelmäßig vor wichtigen Wahlen. Der Einfluss der muslimischen Bruderschaft wuchs stetig seit der Gründung durch Cheikh Amadou Bamba. Ein Besuch in ihrer "Hauptstadt" Touba.
Die Stadt Touba im westafrikanischen Senegal ist keine normale Stadt. Touba ist von der muslimischen Bruderschaft der Muriden gegründet worden. Sie sehen Touba als ihre Stadt. Für die enorm einflussreiche Religionsgemeinschaft der Muriden, der rund 30 Prozent der Muslime im Senegal angehören sollen, ist Touba sogar ihre "heilige" Stadt. Cheikh Amadou Bamba ist der Mann, der den Orden der Muriden schuf und ihm 1887 mit der Gründung von Touba eine Art Hauptstadt gab.
Die Muriden brennen für zwei Dinge: Arbeit und Glaube. Das hat sie gesellschaftlich mächtig und wirtschaftlich sehr erfolgreich werden lassen. Senegals Spitzenpolitiker huldigen dem General-Kalifen regelmäßig vor wichtigen Wahlen. Ein Besuch in Touba ist also eine Visite in einer besonderen Stadt.

"Wenn du konvertierst, kannst du rein!"

Es ist eine längere Debatte vor der imposanten Moschee der Stadt Touba: Sie dreht sich um die Frage, ob ein deutscher Journalist einfach so hineingehen kann oder nicht. Und wenn ja, welche Teile des riesigen Sakralbaus von einem Nicht-Muslim betreten werden dürfen - und welche nicht.
Während meine senegalesischen Begleiter mit dem Sicherheitspersonal der Großen Moschee von Touba diskutieren, schaue ich schon mal: Auf das mächtige Minarett in der Mitte der Anlage, 82 Meter hoch. Auf die sechs anderen Türme der Moschee, die nach und nach dazu gebaut worden sind. Auf den weiten Platz vor der Moschee mit Platten aus kostbarem, weißem Carrara-Marmor, die hier verlegt sind. Auf die Mauern der Grabstätten muridischer Geistlicher, geschmückt mit rosafarbenem Marmor aus Portugal. Die Moschee ist Toubas größtes Gebäude. Und das wichtigste Bauwerk in der Stadt der Muriden-Bruderschaft ist sie sowieso.
Die Debatte mit dem Sicherheitspersonal hat sich kurzzeitig entspannt, wir dürfen rein – in Begleitung. Mohamed, ein Schrank von einem Mann in einer dunklen Dschellaba, führt durch die äußeren Bauten der Moschee. Aber der Saal für die Gebete, sagt er mir strikt, der bleibt für mich tabu.
"Wir haben euch ja schon akzeptiert. Aber es gibt eben Grenzen. Die Außenanlage der Moschee kannst du dir als Tourist ansehen. Aber es ist nicht korrekt, dass jemand, der kein Muslim ist, das Innere der Moschee, wo gebetet wird, betritt. Das ist verboten."
Die schlichte Frage nach dem "Warum?" löst wiederum eine längere Debatte aus.
"Wenn du konvertierst, kannst du rein!" - Ende der Diskussion.
Viele Gläubige drängen durch das Tor der großen Moschee von Touba.
Viele Gläubige drängen durch das Tor der großen Moschee von Touba. Rund 30 Prozent der Muslime im Senegal gehören zur Bruderschaft der Muriden.© Deutschlandradio / Benjamin Moscovici
Wie zufällig, ruft der Muezzin jetzt ohnehin zum Gebet ins Allerheiligste der Moschee.

Touba ist eine Art Mekka für Muriden

Dass diese Moschee überhaupt gebaut wurde, dass die Stadt überhaupt existiert, dass dieser Ort für die Muriden so etwas Ähnliches ist wie Mekka – dafür ist Cheikh Ahmadou Bamba verantwortlich.
Es gibt ein Foto von diesem Mann, das häufig in Senegal zu sehen ist – als Plakat, als Aufkleber auf Bussen und Taxen, als T-Shirt. Das Foto zeigt Ahmadou Bamba mit einem weißen Turban, das Gesicht halb verdeckt von einem Stoffzipfel. Die Augen wirken ein bisschen zusammen gekniffen, so als habe der Mann, der für Millionen Senegalesen ein Heiliger ist, beim Fotografieren in die Sonne schauen müssen.
Ahmadou Bamba hat nicht nur die Bruderschaft der Muriden gegründet. Sondern auch die Stadt Touba. Der Mann, dessen Gesicht auf dem berühmten Foto halb verdeckt bleibt, ist der Heilige dieser Stadt.
Als Ahmadou Bamba 1927 starb, hinterließ er tausende von Gedichten und Texten. Seine Anhänger haben daraus über die Jahre die Muriden-Gesänge gemacht. Sie singen sie mit Inbrunst und Andacht.
Wie viele treue und engagierte Anhänger Cheikh Ahmadou Bamba und die Muriden heute noch haben, ist nicht genau zu sagen. Schätzungen sprechen von drei bis fünf Millionen Menschen, die sich zur Muriden-Bruderschaft bekennen.
Obwohl: Bekennen ist ein zu schwaches Wort dafür. Wer Muride wird, schwört dem Khalifen Gefolgschaft: "Ich unterwerfe mich deiner Autorität – in dieser Welt und in der jenseitigen." Das ist die Formel, die jeder Muride gesprochen hat. Ein Murid ist derjenige, der sich entschlossen hat einen bestimmten religiösen Weg zu gehen – und sich auf diesem Weg der Führung des Cheikhs oder des Kalifen anvertraut.

Eine Stadt ohne Alkohol - aber mit viel Handel

Omar ist ein Murid. Er handelte mit Autos aus Europa. Er hat Schüler, die zu ihm kommen, um zu lernen, was ein Muride ist. Omar ist ein selbstbewusster, dynamischer Mann, der nur allzu gerne begeistert über die Bruderschaft und seine Heimatstadt Touba spricht:
"Auf der ganzen Welt gibt es keine andere Stadt, die erst vor 100 Jahren gegründet wurde und ein solches Niveau erreicht hat. Hier leben zwei Millionen Menschen. Es gibt keine Industrie, aber trotzdem können die Leute leben. Weil wir immer Handel getrieben haben."
Die Begeisterung geht etwas durch mit Omar. Cheikh Amadou Bamba gründete Touba immerhin schon vor 131 Jahren. Tatsache ist, die Stadt wuchs schnell. Aber es dürften keineswegs zwei Millionen Einwohner sein, die in der heiligen Stadt leben. Die offiziellen Statistiken sprechen von etwa einer Million. Aber Touba ist tatsächlich anders als alle anderen Städte in Senegal: Alkohol und Rauchen sind in der Öffentlichkeit strikt verboten. Frauen in Hosen werden gar nicht gern gesehen, Homosexuelle sowieso nicht. Es gibt kaum Polizei, aber dafür viele Sittenwächter, die nach dem Rechten sehen. Welchen Status und welche Durchgriffsmöglichkeiten sie haben – das kann mir keiner so genau sagen.
Eine Fahrt durch Touba zeigt eine geschäftige Stadt: Überall in der Stadt sind Pferde- und Eselskarren unterwegs, die Waren transportieren. Kleine Läden dominieren, Handelsvertretungen, lokale Märkte. Touba hat 16 konventionelle Banken und eine islamische. Geld und Geldverkehr sind hier wichtig. In vielen Firmennamen kommt Touba vor. Man verbindet den Namen des Unternehmens gerne mit dem der heiligen Stadt. Und Touba bedeutet, so wird mir erklärt, "der Baum in der Mitte des Paradieses".

Muriden-Netzwerk im Ausland: Geld, Kontakte, Unterkunft

Die Äste und Zweige dieses "Baumes in der Mitte des Paradieses" reichen weit über Touba hinaus. Omar, der Mann aus Touba, der versucht, uns den Muridismus zu erklären, verweist immer wieder auf das Unterstützungsnetzwerk der Bruderschaft im Ausland. Sehr früh sei das entstanden, weil viele Muriden aus dem Senegal weggingen, um anderswo nach einer wirtschaftlichen Perspektive zu suchen:
"Man hat dort Gruppen geschaffen – wir nennen sie Dahira. Wenn ich also beispielsweise nach Frankreich gehe und treffe dort Anhänger des Cheikhs Ahamadou Bamba, dann schließt man sich zusammen. Man spricht über die Alltagsprobleme, welche Schwierigkeiten es gibt, Handel zu betreiben. Diejenigen, die nicht genug Geld haben, werden von den anderen unterstützt. Dann können sie zum Eiffelturm oder vor das Schloss Versailles gehen und dort ihre Waren verkaufen. Gleichzeitig zahlt aber auch jeder in die Gemeinschaft ein: Da wird Geld gesammelt, wenn ein Muride verstorben ist und in den Senegal zurückgebracht werden muss. Wenn jemand krank wird und nicht genug Geld für die Behandlung hat. Das ist gewissermaßen die Auswanderung des Muridismus."
Das funktioniert nach wie vor. Wer als Migrant aus Senegal beispielsweise in Spanien ankommt, erkundigt sich in Madrid oder Barcelona nach der örtlichen "Dahira", der Muridengruppe. Und jeder kann sicher sein, dass er dort Hilfe bekommt: Geld, Kontakte, Unterkunft.
Dass viele Muriden auswanderten, hatte handfeste Gründe. Als Cheikh Amadou Bamba die Bruderschaft gründete, wurden die französischen Kolonialherren im Senegal schnell misstrauisch. Sie fürchteten, die rasch wachsende Gemeinschaft könnte zu viel Selbstbewusstsein, eventuell sogar Widerstand gegen die Kolonisierung entwickeln. Immerhin hatte der Cheikh seine Religionsgemeinschaft mitten im landwirtschaftlichen Zentrum von Senegal gegründet. Hier beuteten die Franzosen Erdnuss-Plantagen aus. Cheikh Amadou Bamba erschien ihnen zu eigenständig.
Zwischenzeitlich schickten sie den frommen Mann sogar jahrelang ins Exil. Später durfte er zurückkommen. Und die Gemeinschaft der Muriden arrangierte sich mit den Kolonialherren. Seitdem kontrollieren die Muriden die Erdnuss-Produktion des Senegal. Aber das anfängliche Misstrauen der Franzosen, das erklärt mir Omar in Touba, hatte konkrete Folgen für die Anhänger von Cheikh Amadou Bamba:
"Wer für die französische Verwaltung arbeiten wollte, der konnte kein Muride sein. Mitglieder der Tidschaniya, einer anderen Bruderschaft in Senegal, die durften für die Franzosen arbeiten. Muriden nicht. Weil die Franzosen etwas gegen den Cheikh und seine Anhänger hatten. Deshalb haben sich die Muriden auf den Handel verlegt, sie begannen zu reisen, um Waren zu kaufen. Beispielsweise in unserer Hauptstadt, in Dakar. Deshalb findet man dort heute Cafés, die nach Touba benannt sind."

Vier muslimische Bruderschaften im Senegal

In der Hauptstadt Dakar finden sich nicht nur Cafés die den Namen Touba tragen. Auf Märkten, in Einkaufszentren, auf Bussen und Taxen – Touba ist omnipräsent. Dabei sind die Muriden als muslimische Bruderschaft keineswegs eine Besonderheit in Senegal. Insgesamt gibt es vier Vereinigungen dieser Art, jeweils geführt von Männern, die wie Könige oder Heilige verehrt werden.
Thomas Volk leitet in Dakar das Büro der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung. Volk ist Islamwissenschaftler. Er hat die Strukturen, den Einfluss und die Geschichte der muslimischen Bruderschaften in Senegal untersucht. Die Tidschaniya ist die größte, etwa die Hälfte der senegalesischen Muslime gehört ihr an, sagt Thomas Volk:
"Die einflussreichsten sind aber die Muriden. Weil sie eben ein weitverzweigtes, internationales Netzwerk haben, weil sie aber vor allem eine dezidiert senegalesische Bruderschaft sind, die einen großen Mythos um ihren Gründer betreibt, der auch das wichtigste Symboltier, nämlich den Löwen, auch bei sich in seiner Geschichte inkorporiert hat und weil sie eine sehr arbeitssame Bruderschaft sind. Dieser Ausspruch den ein wesentlicher muridischer Marabut, also ein islamischer Geistlicher, getätigt hat‚ an seine Anhänger, die Bayefall, gerichtet: 'Ihr arbeitet für uns und wir beten für euch' – das ist bis heute prägend. Die Masse der Leute gehen arbeiten und das bedeutet in dem konkreten Fall auch Almosen sammeln für das jährliche große Fest, die Pilgerfahrt in Touba. Und die Marabouts beten für diese arbeitenden Leute."
Wenn Muriden in Madrid Sonnenbrillen auf der Straße verkaufen, in Paris Handtaschen, in Dakar Autoersatzteile und in Touba selbst Gemüse oder Früchte – dann spenden sie einen Teil ihrer Gewinne für die Bruderschaft. Das können ein paar Münzen sein, die ein kleiner Händler übrig hat. Erfolgreiche muridische Geschäftsleute legen aber auch seelenruhig Schecks über Millionensummen in die Hand von Serigne Mountakha Mbacké.

Der Top-Job der Muriden bleibt in der Familie

Er ist der amtierende Kalif der Muriden. Serigne Mountakha Mbacké ist natürlich ein Enkel des Gründers der Muriden-Bruderschaft, der Top-Job der Muriden bleibt in der Familie des Gründers. Und die Muriden haben auch eigene Medien, um solche hoch willkommenen Groß-Spenden prominent zu begleiten. Nach dem Motto, tue Gutes und rede darüber.
Touba-TV hat auch einen YouTube-Kanal. Dort kann sich die Muriden-Gemeinschaft nach Herzenslust Videos vom alljährlichen großen Muridenfest anschauen. Mitschnitte der Reden des muridischen Kalifen finden sich dort. Oder Livestreams von politischen Großereignissen, die zeigen, welche Macht die Bruderschaft in Senegal hat.
Im Dezember 2018 ist Senegals Präsident Macky Sall in Touba. Mit großem Pomp wird ein mehr als 100 Kilometer langes Autobahn-Teilstück eingeweiht. Es führt vom wichtigsten Flughafen des Landes nach Touba.
Angela Merkel und Macky Sall gehen nebeneinander auf einem roten Teppich.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird 2018 von Macky Sall, dem Präsidenten der Republik Senegal, am Flughafen begrüßt.© dpa
Präsident Macky Sall findet warme Worte des Dankes:
"Ich muss vor allem herzlichen Dank sagen an Serigne Mountakha Mbacké, den Kalifen der Muriden und die ganze Familie der heiligen Stadt Touba. Für ihre andauernde Unterstützung für dieses wichtige Bauwerk und für ihr Engagement bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Senegals."

China finanziert die Autobahn in die heilige Stadt

In Senegal gab es bisher nur eine Autobahn. Jetzt gibt es eine zweite – und die führt nach Touba. Das Erstaunliche daran ist: Kaum jemand fährt darauf. Die Autobahn ist gebührenpflichtig und damit für viele Senegalesen zu teuer. Es sind auch kaum Lastwagen auf der Strecke zu sehen. Aber Präsident Macky Sall hielt den Bau der Autobahn nach Touba wohl dennoch für strategisch relevant.
Für die Finanzierung und den Bau sorgte China, betrieben wird sie von einer französischen Firma. Und Senegals Präsident eröffnete die Autobahn kurz vor der Präsidentschaftswahl. Auch das ist kein Zufall. Eine Autobahn in die heilige Stadt der Muriden – das kann politisch eine durchaus lohnende Investition sein. Denn das Urteil der Muriden-Führer über einen Politiker hat Gewicht in Senegal.
Thomas Volk der Leiter der Konrad Adenauer-Stiftung in Senegal, sagt, dass muslimische Bruderschaften wie die Muriden ein gewichtiges Wort mitreden in der Politik:
"Alle Bruderschaften, aber gerade auch die Muriden, wollen in allererster Linie ihre Besitztümer sichern und erweitern, ausbauen. Das heißt, es wird regelmäßig gefordert, dass man gerade im Umfeld dieser religiösen Städte - das wäre Touba für die Muriden, das wäre Toivaouane für die Tidschaniya – natürlich Infrastruktur-Projekte vorantreibt. Es wurde jetzt eine Autobahn eröffnet, die nach Touba führen soll, es versprechen unterschiedliche Politiker, dass jetzt Universitäten gebaut werden sollen, beispielsweise in Touba. Das heißt, man möchte seine Privilegien und Besitztümer behalten und ausweiten. Konkret: Praktisch alle Kalifen Senegals verfügen über einen Diplomatenpass. Diese religiösen Führer sind keine Diplomaten, sind keine Politiker, verfügen aber über Diplomatenpässe und damit über Privilegien beim reisen, bei der Visa-Vergabe und so weiter."
Thomas Volk wundert sich als westlicher Beobachter in Senegal über den Einfluss von Bruderschaften wie den Muriden. Bakary Sambe nicht. Sambe leitet das Timbuktu-Institut in St. Louis, im Norden von Senegal. Er ist Professor für Religionswissenschaften und forscht seit Langem über die Zusammenhänge von Religion und Politik:
"Ich denke, es gibt eine gewissermaßen natürliche Beziehung zwischen Politik und Religion in Senegal. Heute bezeichnet man das als den sengelasischen Gesellschaftsvertrag. Diese Beziehungen zwischen den politischen und religiösen Akteuren werden immer wieder neu ausgehandelt, weiterentwickelt. Und sie sind sehr alt. Das geht zurück bis in die Zeit der Islamisierung der Region. Das funktionierte auch während der Kolonialzeit. Erinnern wir uns: General de Gaulle wollte 1958 Unterstützung für die Volksabstimmung, die entscheiden sollte, dass Senegal Teil der französisch-afrikanischen Gemeinschaft bleibt. Dafür musste sich de Gaulle die Unterstützung der großen Bruderschaften, der Muriden und der Tidschane, sichern."

Jährliches Pilgerfest "Grand Magal" in Touba

Wie einflussreich die Muriden sind, welchen Rückhalt sie immer noch in der Bevölkerung haben, lässt sich jedes Jahr beim "Grand Magal" in Touba ablesen.
Dann pilgern Muriden aus dem In- und Ausland nach Touba. Es sind zwischen drei und vier Millionen Pilger, die die Stadt tagelang in den Ausnahmezustand versetzen. Rund um die Große Moschee sind Menschenmassen unterwegs, sie wollen beten, sich auf ihren Glauben besinnen, ihre Gemeinschaft leben. Ob sie für die Fahrt nach Touba die teure, gebührenpflichtige Autobahn nutzen werden – das wird sich im Oktober zeigen, beim nächsten Grand Magal.
Mohamed, der uns durch die Große Moschee von Touba geführt hat, deutet draußen auf dem Vorplatz auf ein Gebäude direkt gegenüber:
"Da drüben, das ist das Gästehaus Khadimou Rassoul. Es gibt keine Hotels in Touba. Aber wenn hohe Gäste kommen, muss man sie unterbringen können. Das geschieht dort. Und ein bisschen weiter drüben ist die Unterkunft für den Präsidenten. Er bleibt dort, wenn er hier übernachtet"
Senegals Präsidenten kommen regelmäßig zum großen Pilgerfest nach Touba. Einfache Pilger müssen sehen, wie sie bei Familien in Touba unterkommen oder in den umliegenden Ortschaften. Oder sie schlafen schlicht im Auto oder campieren.
Auch dieses Pilgerfest ist natürlich wirtschaftlich ein willkommenes Ereignis. Wenn sich Millionen Gläubige auf den Weg nach Touba machen, aus dem In- und Ausland, dann bedeutet das Einnahmen für Herbergen, Mietwagenfirmen, Busunternehmen und Restaurants. Religionswissenschaftler Bakary Sambe vom Timbuktu-Institut in St. Louis wertet den Einfluss muslimischer Bruderschaften wie die der Muriden aber noch ganz anders.
"Religion ist längst ein politisches Thema geworden", sagt Bakary Sambe, und "eine Sicherheitsfrage".

Bruderschaften als "Puffer" gegen extremistische Strömungen

Sambe verweist damit auf die rasche Ausbreitung radikal-islamischer Gruppen in Westafrika. Auf Milizen und Terroristen-Gruppen, die in Mali, Niger oder Burkina Faso operieren. Auf fundamentalistische Auslegungen des Koran, die teilweise mit finanzieller Unterstützung aus den arabischen Golfstaaten in der Region verbreitet werden. In Senegal spielen Bruderschaften wie die der Muriden bisher eine mäßigende Rolle, sagt Thomas Volk von der Konrad Adenauer-Stiftung. Sie achten streng auf die Einhaltung religiöser Gebote in der heiligen Stadt, sind aber weit entfernt von islamistischen Tendenzen:
"Die Bruderschaften sind heute noch eine Art Puffer gegen extremistische Strömungen, weil sie eben noch einen gewissen Einfluss haben. Man sieht aber Tendenzen, dass in der sehr jungen Bevölkerung des Landes die Bruderschaften an Zustimmung verlieren. Dass man sich eher an Videos über den angeblich wahren Islam im Netz bedient und dort eben salafistische Prediger ihr Unwesen treiben und es daher nicht ausgeschlossen ist, dass diese Islam-Auslegung auch hier stärker zum Zug kommt."
Bakary Sambe vom Timbuktu-Institut wird noch deutlicher. Die Bruderschaften, auch die Muriden, meint Sambe, müssten etwas tun, wenn sie ihre starke Rolle in Senegal behalten wollen:
"Wenn die Bruderschaften ein Bollwerk gegen den Extremismus sein wollen, dann brauchen sie Reformen: Sie müssen ihre Botschaft und ihre Kommunikation modernisieren. Sie müssen sie an die Erwartungen der Jugend anpassen, die ja offen ist für Spiritualität, auch für Kommunikation via Internet. Und noch etwas: Die Bruderschaften müssen eines vermeiden – dass sie von der Jugend als Teil eines politischen Systems wahrgenommen werden. Dass sie als Teil der großen Systems betrachtet werden, das die jungen Leute bekämpfen und zurückweisen."
Das "große System" halten viele junge Senegalesen für korrupt, für ineffizient, für nur den eigenen wirtschaftlichen Interessen verpflichtet. Allzu große Nähe zwischen Muriden und Politikern könnte die bisher noch starke Akzeptanz der Bruderschaften zerstören, fürchtet Bakary Sambe. Politische Unabhängigkeit und interne Reformen könnten das Bollwerk gegen religiöse Extremisten erhalten.

Mittagessen in der Familie des Muriden-Gründers

In der Region Touba bemüht sich der Muriden-Nachwuchs jedenfalls spürbar darum, gemäßigt, konziliant und friedliebend aufzutreten. Fern von jedem Islamismus. Im Nachbarort von Touba, in Mbacké, werde ich sehr freundlich in ein Haus der Familie des Muriden-Gründers eingeladen. Gastgeber Modon Rokaya Mbacké serviert ein Reisgericht und macht Werbung für den gemäßigten Islam und die Muriden. Interviewt werden möchte er nicht.
Aber Modon Rokaya Mbacké kommt immer wieder auf Friedfertigkeit der muslimischen Bruderschaften im Senegal im Allgemeinen und der Muriden im Besonderen zurück. Er fragt beispielsweise: "Hast du schon einmal einen Muriden gesehen, der jemandem die Kehle durchgeschnitten hat?"
Natürlich ist das Mittagessen mit ihm von einem Muriden-Bruder aus Dakar vermittelt worden, persönliche Kontakte spielen in der Gemeinschaft eine große Rolle. Und anschließend werde ich weiter gereicht, an ein anderes Mitglied der weitläufigen Familie des Muriden-Gründers Ahmadou Bamba Mbacké. Hier darf ich immerhin den 31-jährigen Sohn des Hauses interviewen.
Sein Vater besteht aber darauf, dass der Name des Sohnes verändert wird – also nennen wir ihn Cherif. Auch seine Botschaft ist eindeutig und wird vom einvernehmlichen Kopfnicken seines Vaters begleitet, der mit kritischem Blick überwacht, was der Sohn sagt. Auf die Frage, ob die Stadt Touba ein eigener Staat im Staate Senegal sei, sagt Cherif:
"Touba ist wie ein Staat innerhalb von Senegal und gehört Cheikh Ahmadou Bamba. In Senegal ist eine Reihe von Dingen alltäglich, die Sie hier in Touba nicht erleben werden. Wenn Sie Raucher sind: Hier in Touba dürfen Sie nicht rauchen. Dagegen kann der Staat nichts machen. In Touba bezahlen wir nichts für das Wasser. In jeder anderen senegalesischen Stadt muss man fürs Wasser bezahlen. Hier hat Cheikh Ahmadou dafür gesorgt, das wir viel arbeiten, aber nicht für Wasser bezahlen müssen. Das bedeutet: Wir haben hier einen eigenen Staat in Senegal."
So sehen das viele Muriden in Touba. Es ist eine eigene Welt sehr eigen.

Kritik an Muriden: Wenig Geld für moderne Bildung

In der Hauptstadt Dakar habe ich durchaus Muriden getroffen die meinen, dass in Touba und Umgebung viel zu viel Geld in die Moschee, aber viel zu wenig in moderne Bildung investiert wird. Dass es ein Unding sei, dass es kaum Kanalisation und nur ein einziges Krankenhaus in Touba gebe, jetzt aber viele Millionen für eine islamische Universität ausgegeben werden. Aber das will keiner so in ein Mikrofon sagen.
Die Muriden-Bruderschaft ist einflussreich in Senegal, weit über "ihre" Stadt Touba hinaus. Sie hat enge, aber undurchsichtige Verbindungen mit der Politik. Wirtschaftlich sind die Muriden eine Macht. Nicht zuletzt deshalb, sagt Thomas Volk, der Leiter der Adenauer-Stiftung im Senegal, weil die Anhänger der Bruderschaft im Ausland erhebliche Summen in die Heimat überweisen:
"Nicht zu unterschätzen ist der gesamte Bereich der Diaspora-Wirtschaft, will heißen: Rücküberweisungen von Muriden aus aller Herren Länder, die hier wesentlich die senegalesische Wirtschaft prägen. Insgesamt liegen die Rücküberweisungen von Auslands-Senegalesen im jährlichen Bereich von zwei Milliarden Euro und mit zwei Milliarden Euro doppelt so hoch, wie die ganze internationale EZ."
"EZ", damit ist die Entwicklungszusammenarbeit gemeint, aus der Senegal Geld für Projekte bekommt. Cheikh Amadou Bamba, der Gründer der Muriden-Bruderschaft, hatte immer gepredigt: Wirtschaftliche Unabhängigkeit ist wichtig. Bamba ermutigte die Muriden selbstständig zu sein, Unternehmen zu gründen. Man könne ja mit Ausländern zusammenarbeiten, dürfe dabei aber nicht an deren Tropf hängen.

Milliardär sieht Muridentum als seine Erfolgsgrundlage

Mbackiou Faye gehört zu erfolgreichsten Muriden in Senegal. Der Milliardär hat viel Geld mit Immobilien und Medien verdient, kürzlich stieg er in die Telekommunikation ein. Faye sieht das Muridentum als Grundlage für den Erfolg:
"Unsere Gemeinschaft ist sehr stark. Wir haben Potential in Hülle und Fülle: Intellektuelle, Unternehmer, Männer, die ein gemeinsames Ideal haben. Das Ideal von Cheikh Amadou Bamba ist die Arbeit und das Gebet, die Frömmigkeit. Das ist der einzige Weg, um unsere Länder zu entwickeln. Der einzige Weg. Schauen Sie sich die Entwicklungsprogramme an – wenn sie nicht dem muridischen Modell folgen, dann funktionieren sie nicht."
Der Milliardär Mbakiou Faye ist davon überzeugt: Es ist seine Bruderschaft, die Senegals Wirtschaft zum Laufen bringen kann:
"Die Muriden haben den Wirtschaftssektor schon lange für sich besetzt. Schauen Sie nach Europa: Was sich dort wirtschaftlich tut, bei den Finanzen, bei der Kreislaufwirtschaft – das haben die Muriden schon vor 50 Jahren angefangen. Sie verwerten weggeworfene Flaschen wieder oder alte Reisesäcke. Sie haben gezeigt, dass es in uns selbst steckt, dieses Land zu entwickeln. Das schläft in uns. Und es gibt kein anderes Modell als das der Muriden und des Cheikhs Ahmadou Bamba, um es zu wecken. "
Diese Überzeugung, dieses Selbstbewusstsein, aber auch dieser Anspruch, im Besitz der richtigen Antworten auf alle wichtigen Fragen zu sein – all das findet sich keineswegs nur beim muridischen Milliardär Mbackiou Faye.

Islam gemixt mit religiösen Traditionen der Senegalesen

Omar, der Muride in Touba, mit dem wir über die Grundideen der Bruderschaft gesprochen haben, hat ein ähnlich geschlossenes Weltbild. Arbeiten und Beten, klare Hierarchie: Der Kalif, der Cheikh, steht an der Spitze, die Anhänger folgen ihm, sagt Omar. Und der Muridismus sei nicht einfach nur irgendeine Spielart des Islams. Der Islam sei den Afrikanern vor hunderten von Jahren von den Arabern mehr oder weniger aufgezwungen worden. Cheikh Ahmadou Bamba, der Gründer der Muriden-Bruderschaft, habe die senegalesischen Traditionen mit dem Islam zusammengebracht:
"Der Muridismus, das ist unsere Art, uns in den Islam zu integrieren. Auf eine Art, die uns das Gefühl gibt – das gehört zu uns. "
Cheikh Ahmadou Bamba hat die religiösen Traditionen der Senegalesen - die Amulette, die Fetische gegen das Böse beispielsweise – belassen und mit dem muslimischen Glauben vermischt. Herausgekommen ist der Muridismus, sagt Omar:
"Das ist wie eine Pyramide: Viele sind unten und orientieren sich nach oben. Aber diejenigen, die an der Spitze sind, die müssen dafür sorgen, dass auch etwas unten ankommt. Dafür, dass jeder profitiert und etwas davon hat. Denn Religion hat ja nicht nur etwas mit dem Jenseits zu tun. Es geht darum, dass es den Menschen auch schon hier, im Diesseits, gut geht. Man kann nicht dauernd nur ans Jenseits denken, ohne im Diesseits etwas geschaffen, etwas aufgebaut zu haben. Das ist der Muridismus. "
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