Musikanalyse

Moderner Reggae mit literarischer Tradition

Peter Fox und die Band Seeed während eines Konzertes in St. Gallen in der Schweiz.
Offenbar geht es bei der geplanten 'Ernte' in "Cherry oh" nicht um eine unschuldige Nascherei, sondern um einen gewaltsamen Übergriff, dem die Kirsche sich nicht widerstandslos hingeben will. © dpa picture alliance/ Ennio Leanza
Von Florian Werner · 31.07.2014
"Cherry Oh" stammt von Eric Donaldson aus dem Jahr 1971. Zu den vielen Cover-Versionen ist jetzt auch die von Seeed gekommen, mit zwei neuen deutschen Strophen. Gleichzeitig reiht sich die Band in eine viele hundert Jahre alte Literaturtradition ein.
Sommerzeit - Kirschenzeit: Hört man den entspannten Riddim von Seeeds "Cherry Oh", sieht man förmlich eine Reihe von Knorpelkirschen, die, bewegt von einer leichten Brise, im Viervierteltakt am Baum baumeln.
"Oh cherry, oh cherry, oh baby,
Don't you know I'm in need of thee?
If you don't believe it's true,
What have you left for me to do?"
Aber geht es in "Cherry Oh" um eine gewöhnliche Kirsche? Nein, die Tatsache, dass der Sänger mit dem Steinobst spricht, legt nahe, dass diese über ein Bewusstsein verfügt, also mutmaßlich ein Mensch ist. Und da der Sänger ein Mann ist und die Frucht, wie er beteuert, dringend 'braucht', wagen wir zu ergänzen: Es handelt sich um eine Metapher − und bei der Kirsche in Wirklichkeit um eine Frau.
"In deinem Garten, lieg ich und warte,
Schau zu dir hoch, sondier' die Lage,
Spätsommerlicht gibt dir deine Farbe,
Du wirfst dich für mich in feinste Schale ..."
Die Galerie der Frauen, die von lüsternen Männern als Steinobst besungen werden, ist lang: Schon im Sommernachtstraum beschwört der liebestrunkene Demetrius, zumindest in der Schlegelschen Übersetzung, dass die von ihm angebetete Helena Lippen wie Sauerkirschen habe: "O wie reifend schwellen / Die Lippen dir, zwei küssende Morellen!" Und wie in Shakespeares Komödie ist auch in "Cherry Oh" der Weg zum Liebesglück steinig: Die Kirsche sendet von ihrem Zweig nämlich widersprüchliche Signale aus.
"Hab dich im Blick, brauch' Zeit und Glück,
Denn ich weiß, du wirst nicht so einfach gepflückt,
Bist dahin lieg ich hier und zähl die Tage."
Offenbar geht es bei der geplanten 'Ernte' nicht um eine unschuldige Nascherei, sondern um einen gewaltsamen Übergriff, dem die Kirsche sich nicht widerstandslos hingeben will − tatsächlich kann der Begriff cherry im Englischen für die weibliche Jungfräulichkeit stehen, und das 'Pflücken' entsprechend für die Defloration. Die Frau hängt passiv herum, der Mann muss sie ernten - was das Frauenbild angeht, sind Seeed leider in der Shakespeare-Zeit stehen geblieben. Zum Glück für die Kirsche geben sich die drei Sänger der Gruppe als tapsige Träumer, von denen wenig Initiative zu erwarten ist:
"Ich war gleich verliebt, weiche Knie,
Bist die heißeste Kirsche am Baum, einfach süß,
Steig über'n Zaun, will dich kau'n, doch ich weiß nicht wie,
Oh, vielleicht hängst du zu hoch und ich erreich' dich nie."
Simulierte der Sänger in der ersten Strophe noch Gelassenheit, so schleichen sich nun existenzielle Zweifel ein: Warum sind gerade die süßesten Früchte oft unerreichbar? Ist all unser Streben nach Liebe, Sex, Obst letzten Endes vergeblich? Im Video zu dem Seeed-Song gehen die Männer letztlich leer aus, und die Kirsche brennt mit einem Hirschkäfer durch: Was als luftige Herrenfantasie begann, verdunkelt sich so zu einem barocken Vanitas-Gemälde. Die Kirsche mag sich in "feinste Schale" geworfen haben - aber dahinter lauert die Verwesung. Der Kirschbaum wiegt sich im Wind - aber unter der Borke warten schon die Insekten. Und auch der Sommer ist, ehe man sich versieht, vorbei.