Musikalische Todesvision

12.01.2012
Beten, Träumen, Sterben: Eine Seele verlässt den Körper und tritt in die geistige Welt ein – kein einfacher Stoff. Edward Elgar hat ihn zur Grundlage seines Oratoriums "The Dream of Gerontius" gemacht. Ein legendäres, aber selten gespieltes Werk. Heute setzt sich Daniel Barenboim dafür ein.
Schon merkwürdig: Die Berliner Philharmoniker und der Rundfunkchor Berlin werden von englischen Chefdirigenten geleitet, doch "die beiden Simons" (Rattle und Halsey) haben in Berlin noch nie den 1900 entstandenen "Dream of Gerontius" von Edward Elgar gemeinsam aufgeführt – immerhin das bedeutendste englische Oratorium neben Händels "Messiah". Zuletzt stand Elgars "Gerontius" im Januar 1979 auf dem Berliner philharmonischen Spielplan. Jetzt überlässt Rattle, der an seiner früheren Wirkungsstätte Birmingham als Elgar-Interpret hervorgetreten ist, Daniel Barenboim das Feld. Auch er hat sich in Berlin mit Elgar-Aufführungen bis jetzt zurückgehalten, obwohl er mit einer großen Elgar-Interpretin verheiratet war: mit der Cellistin Jacqueline du Pré.

Spannend wird Barenboims Annäherung an dieses Oratorium so oder so, denn der Musikchef der Berliner Staatsoper hat keine ausgeprägte Beziehung zu spiritueller, geschweige denn geistlicher Musik (daher auch erklärtermaßen seine Scheu vor den Vokalsinfonien Gustav Mahlers). In Elgars "Gerontius" aber könnte es spiritueller und geistlicher kaum zugehen: Den Text entnahm der Katholik Elgar einem Versepos des Kardinals Newman, der Großbritannien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tief prägte und der erst unlängst von Papst Benedikt XVI. selig gesprochen wurde (Begründung des Vatikans: es gebe "mindestens 10.000 belegte Konversionen von Anglikanern zur katholischen Kirche, die auf Newman zurückgehen").

Während sich der Chor in Elgars/Newmans tröstlicher Jenseitsvision dem Jauchzen und Frohlocken ausführlich widmen kann, haben die drei Gesangssolisten reichlich zu tun, vor allem der Tenor: Er muss in dem 100-Minuten-Werk erst den Gerontius, dann dessen Seele verkörpern und permanent präsent sein. Das heißt in diesem Fall: Pianissimo ansingen gegen die himmlischen Heerscharen. Es lohnt sich, auf dieser Wolke mitzuschweben!


Live aus der Philharmonie Berlin

Edward Elgar
"The Dream of Gerontius"
Oratorium für Soli, Chor und Orchester op. 38

Anna Larsson, Mezzosopran
Ian Storey, Tenor
Kwangchul Youn, Bass
Rundfunkchor Berlin
Berliner Philharmoniker
Leitung: Daniel Barenboim


ca. 20:45 Uhr Konzertpause mit Nachrichten
Olaf Wilhelmer im Gespräch mit Daniel Barenboim