Musikalische Reise mit einem biblischen Feldherrn

Von Uwe Friedrich · 06.01.2013
In Leipzig gelingt mit der Inszenierung von "Nabucco", einer Oper über das Freiheitsstreben des jüdischen Volkes in der babylonischen Gefangenschaft, ein beeindruckender Auftakt zum Verdijahr. So darf es gerne weitergehen, meint unser Kritiker.
Weite Assoziationsräume öffnet der Regisseur Dietrich Hilsdorf in seiner "Nabucco"-Inszenierung. Wie schon Verdis Zeitgenossen identifiziert sich auch das Publikum des Theaters auf dem Theater mit den unterdrückten Hebräern in dieser Handlung um den biblischen Feldherrn Nebukadnezar. Der schreitet bei seinem ersten Auftritt mürrisch durch den Vorhang des goldschimmernden Theaterportals von Bühnenbildner Dieter Richter und genießt seinen Triumph über die besiegten Hebräer, beziehungsweise des Theaterpublikums.

Die ganze Geschichte spielt an der Leipziger Oper, nicht im antiken Jerusalem, oder jedenfalls nicht nur, sondern ebenso in der Mitte des 19. Jahrhunderts, vielleicht in Italien, die Kostüme von Renate Schmitzer deuten das dezent an. Die siegreiche Armee hat das Gewehr stets im Anschlag, es herrscht eine Atmosphäre der Bedrohung. Aber Hilsdorf interessiert weniger die klischeehaft politische Ebene mit den Exzessen des Krieges, sondern vielmehr die verheerenden Auswirkungen auf das Privatleben. Das Liebesdreieck zwischen der legitimen Königstochter Fenena, der intriganten Abigaille und Ismael wird in deren großem Trio fein in Anziehungs- und Abstoßungsbewegungen gezeichnet. Das ganze Drama einer dysfunktionalen Familie wird deutlich, wenn der gestürzte Nabucco in seinem Wahn Abigaille auf seinen Schoß ziehen will, um die Tochter Fenena zu retten. Sexueller Missbrauch oder doch nur unschuldige Annäherungsversuche eines Wahnsinnigen? Auch hier zeigt sich Hilsdorf als Meister der Andeutung, bringt sein Publikum zum Selberdenken.

Die gesamte Aufführung verzichtet auf große Effekte, wirkt streckenweise beinahe konventionell, wenn auch handwerklich geradezu schwindelerregend präzise gearbeitet. Ihre volle Wucht entwickelt sie erst zum Schluss, wenn Hilsdorf das glückliche Ende verweigert und sich die Gewaltspirale unaufhörlich weiter dreht. Fenena wird enthauptet, Nabucco spielt mit ihrem abgeschlagenen Kopf. Oder lebt sie doch weiter und es handelt sich bloß um einen Wahnschub des Königs? Ein neuer Gewaltherrscher übernimmt die Soldaten mit Gewehr im Anschlag, und damit es einen dabei gruselt, muss man als Zuschauer gar nicht wissen, dass die Anordnung der Stühle in der letzten Szene an das Denkmal für die 1938 zerstörte Leipziger Synagoge erinnert.

Den politischen Verdi, der ja ohnehin nie besonders tagespolitisch engagiert war, kann man in Leipzig also kennenlernen. Den Verdi der "Tinta", der differenzierten Klangfarbendramaturgie, hingegen weniger. Denn Anthony Bramall dirigiert das Gewandhausorchester zwar schmissig und rhythmisch sehr präzise, aber wenig differenziert. Dass auch der frühe Verdi weniger drehorgelmäßig klingen kann, beweist vor allem der famose Chor, nicht nur im diesmal wirklich bewegenden "Va pensiero". Markus Marquardt ist ein wuchtiger und doch fein gestaltender Nabucco, Gaston Rivera macht die kleine Tenorrolle des Ismael zum Ereignis und Amarilli Nizza singt eine wahrhaft furchteinflößende Abigaille. In Leipzig gelingt ein beeindruckender Auftakt zum Verdijahr. So darf es gerne weitergehen.