Musikalische Liebeserklärung an die ferne Heimat

Von Katrin Wilke · 15.07.2008
Angetrieben von der berühmten "saudade", einer Art sehnsüchtigem Heimweh, beginnen viele brasilianische Musiker erst in einem anderen Land Musik zu machen. So geschehen auch im Fall der in Paris lebenden Sängerin und Songschreiberin Aline de Lima. Die sagt zwar von sich, dass sie eher singen als sprechen konnte, ist trotzdem ein musikalischer Spätzünder. Nun erscheint ihr zweites Album "Açaí" - eine Hommage an den Nordosten Brasiliens, wo Aline de Lima herkommt.
"Ich bin jemand - die Leute sagen dazu halb kauzig, halb wild - der gerne entdeckt, losgeht, schaut. Und wenn jemand was Interessantes macht, gehe ich dem gerne auf den Grund, suche nach Informationen... Von daher... Was wollte ich sagen -jetzt hab ich den Faden verloren... " (lacht)

Immer wieder mal kommt Aline de Lima vom Weg ab, obwohl sie ihre Gedanken klar und gelassen zu formulieren versteht. Viele, zu viele Ideen scheinen herumzuschwirren im Kopf der selbstbekennenden Perfektionistin. Ihr dunkel-gelocktes, langes Haar hat sie mit Blick auf ihren 30. Geburtstag schon mal leicht gekürzt. Aus Respekt vor dieser Altersschwelle, wie die zierliche, schöne Frau lachend gesteht. Ungeschminkt und ohne Schmuck, Jeans und schlichtes orange-grünes T-Shirt: Ihr Outfit passt irgendwie zur wundersamen Eintracht zwischen disziplinierter Ernsthaftigkeit und brasilianischer Leichtigkeit.

"Ich bin gern albern. Aber ich liebe es auch sehr, einfach zuhause zu bleiben. Und ich spreche nicht allzu viel, um all das, was ich so entdecke, besser verinnerlichen zu können. Ich brauch das einfach."

Bei diesem sommerlich-lauen Chachachá fällt kaum auf, dass Aline de Lima in kühlem Schwedisch singt. Eine Hommage an ihre erste, knapp dreijährige Station in Europa. Die Tochter eines Samba-begeisterten Bankangestellten und einer Lehrerin, die für die großen Barden Brasiliens schwärmt, verlässt 1998 ihre Heimatstadt im nordöstlichen Bundesstaat Maranhão. Sie folgt einem schwedischen Freund nach Stockholm, um dort Kunst und Design zu studieren. Da ist sie 19 und noch fernab vom Musikbusiness. Nah sind der Brasilianerin allerdings Musik und Poesie wie auch das Singen, seit sie denken kann.

"Mit sechs bis acht Jahren sah ich eine Tante immer mit so einem Heftchen voller Gedichte, die sie gerne vortrug. Ich mochte es, mir ihre Gedichte abzuschreiben. So kopierte ich fleißig und lernte dabei viel. Meine Tante meinte, ich sei romantisch. Dabei wusste ich nicht mal, was romantisch ist..." (lacht!).

"Ich hatte die Manie, in der Schule in Fächern wie Geschichte oder beim Gedichtlernen die Texte zu singen (lacht). Ich lernte viel schneller singend als lesend, in dem ich sie auswendig lerne. Und so vermischte sich in meinem Kopf eine Vielzahl von zusammenhangslosen Wörtern und nicht existierenden Musiken." (lacht)

Abgesehen von schüchtern-kindlichen Liebesversen für den einen oder anderen Schulfreund beginnt Aline de Lima erst in Schweden, Erlebtes, Erinnertes und Gelesenes in Gedicht- und in Liedform zu bringen. Aber erst 2002, da lebt sie schon in Paris, wittert ein befreundeter französischer Saxofonist und Produzent ihr Talent und ermuntert sie zum professionellen Musikmachen. Mittlerweile ist die Brasilianerin seit acht Jahren an der Seine. Zur Zeit lebt sie in einer Freundinnen-WG im 20. Arrondissement und flaniert so oft es geht durchs Viertel.

"Wenn ich spazieren gehe, denke ich darüber nach, wie ich mein Leben besser gestalten könnte. Sei es, was die Beziehungen zu Menschen angeht, meine Arbeit mit der Musik und so. Ich finde, beim Laufen fühlt man eine große Unabhängigkeit, ist irgendwie Herr seiner selbst. Auch denke ich viel ans Reisen, ich liebe das! Vielleicht für ein Jahr nach Berlin? Dann nach New York, nach Griechenland..."

Ebenfalls in New York nahm Aline de Lima vor drei Jahren mit renommierten Musikern aus Brasilien und den USA ihr Debüt auf. Die sanft zwischen Elektronik und Bossa Nova schwebenden, fragilen Songs beglücken Kritiker und Publikum. Ausgedehnte, gefeierte Touren folgen. Trotz ihres Erfolgs und der Verankerung in Europa hat die Künstlerin ihr Herkunftsland nie aus dem Blick und dem Herzen verloren. Das markiert schon der Titel des neuen Albums: "Açaí" ist eine in Amazonas und im Nordosten beheimatete Frucht. Ihr Saft und der Schmuck, den man aus ihren Kernen macht, sind in ganz Brasilien so populär wie Fußball oder Musik, zu der Aline so seltsam spät fand.

"Jedermann singt in Brasilien oder behauptet, er sei Sänger! Ich fand das irgendwie unfair gegenüber all den Musikern, die viel Arbeit, viele Jahre ihres Lebens opferten, bis sie sagen konnten: ich bin Sänger oder Sängerin. Um singen zu können, musste ich meine Musiken intonieren. Sie brachten mich dazu. Und weil ich niemanden kannte, der meine Songs singen könnte, war es am praktischsten, es selbst zu tun." (lacht)