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Henri-Nannen-Schule
Journalistenausbildung nach dem Fall Relotius

Die Reportagen von Claas Relotius wurden an der Henri-Nannen-Schule von angehenden Journalistinnen und Journalisten als Best-Practice-Beispiele gelesen und analysiert. Welche Schlüsse hat die Journalistenschule nach dem Skandal um Relotius' gefälschte Texte gezogen?

Von Axel Schröder | 16.05.2019
Der Journalist Claas Relotius präsentiert 2014 auf einer Gala in München seine Auszeichnung zum "CNN Journalist Of The Year".
Bis seine gefälschten Reportagen aufflogen, galt Claas Relotius als Vorbild für junge Journalistinnen und Journalisten. (picture alliance / dpa)
Die Schülerschaft der Hamburger Henri-Nannen-Schule hatte sich den Abend im Dezember, kurz vor Weihnachten, ganz anders vorgestellt. Abends sollte die Weihnachtsfeier stattfinden. Aber in den Mittagsstunden machte die Nachricht von Claas Relotius' Fälschungen die Runde:
"Es war mittags, glaube ich, und ich kam aus der Kantine wieder. Und ein Mitschüler stand unten vor unserem Gebäude und meinte: 'Hast Du schon gehört? Alles nur erfunden!' Und ich dachte, der verarscht mich."
"Das hat uns die Weihnachtsfeier versaut. Ganz klassisch! Das war am 19. Dezember. Und dann ploppte das auf unseren Handys auf. Und dann waren wir alle statt Essen zu gehen vor unseren Handys und haben uns gefragt: Was ist das?"
Relotius-Texte Teil des Unterrichts
Julia Kopatzki und Maximilian Rieger lernen das journalistische Handwerk auf der Henri-Nannen-Schule. Die Texte von Claas Relotius haben beide im Unterricht gelesen und analysiert. Begeistert vom Detailreichtum und der Dramaturgie seiner Reportagen, von den Geschichten, in denen Anfang und Wendungen, die Spannung und das Ende immer nahtlos und perfekt zusammenflossen. So perfekt, dass die Texte von Claas Relotius natürlich auch an der Henri-Nannen-Schule als Best-Practice-Beispiel behandelt wurden, so Schulleiter Andreas Wolfers:
"Wenn es um das Handwerk der Reportage ging, gibt es halt ein Dutzend Autoren, deren Stil, deren Dramaturgie wir häufig heranziehen, um zu schauen: was funktioniert? Was funktioniert nicht? Warum funktioniert es? Warum funktioniert es nicht? Und Texte von Relotius gehörten auch zu unseren Standardtexten bei der Besprechung von klassischen Reportagen."
Welche Schuld trägt Format Reportage?
Andreas Wolfers war fassungslos, als er die Meldung zu Relotius' Fälschungen bekam. Er kippte seinen Lehrplan für diesen Tag und diskutierte den Fall mit seinen Schülerinnen und Schülern. Dass nun an der Henri-Nannen-Schule die Methodenlehre überarbeitet werden müsste, diese Frage stelle sich aber nicht, stellt Wolfers klar:
"Die grundsätzlichen Regeln ändern sich nicht. Denn der Fall Relotius hat sich nicht deshalb ereignet, weil unsere Regeln falsch waren, sondern, weil es jemanden gegeben hat, der die Regeln missachtet hat."
War aber nicht auch das Format schuld? Die Reportage? Die würde, heißt es, kleine Ungenauigkeiten doch fast schon einfordern. Im Sinne des Spannungsbogens von einer atmosphärisch dichten Erzählung würden gerade Reportage-Autorinnen und -Autoren übers Ziel hinausschießen und aus zwei Protagonisten nur einen machen - wenn die Geschichte es verlangt.
Freie Journalistinnen und Journalisten unter Druck
"Ich kenne keinen Kollegen, der hier Reportage trainiert, der je gesagt hat, es ist erlaubt, zwei Personen zu einer zu verschmelzen. Oder der sagt, es sei legitim, das Zitat von der Person A der Person B zuzuschreiben, wenn es dramaturgisch besser passt. Recherche und Wahrhaftigkeit steht über literarischem Glänzen. Ich kann die Realität und darf sie auch nicht zurechtbiegen. Auf welche Weise auch immer. Und seien es auch nur Kleinigkeiten, um eine Reportage aufzuhübschen. Entweder ich bin Journalist oder ich bin Literat!"
Und genau diese Idee von Wahrhaftigkeit teilten auch seine Kollegen an anderen Journalistenschulen, betont Wolfers. Dass es aber immer wieder Autoren gibt, die ihre Reportagen allzu phantasievoll ausschmücken, dass es auch einzelne Redakteure gibt, die dies so wünschen, das bestreitet Andreas Wolfers nicht.
"Da fühlen sich Freie schon unter Druck. Dass sie sich überlegen müssen: kann es sein, dass die Redaktion denkt: 'Der hat einfach nur nicht gut genug recherchiert!' Und der Freie kriegt dann die Schuld dafür, dass die Geschichte nichts geworden ist und nicht die Realität. Und das ist vielleicht ein Punkt, den wir jetzt aus diesen Vorfällen lernen müssen. Dass wir als Redaktion den Freien gegenüber das Signal geben: Ihr könnt uns auch sagen: 'Wir haben die Geschichte totrecherchiert! Sie ist nicht, wie wir uns das vorgestellt haben'. Ihr könnt uns das sagen, ohne, dass ihr fürchten müsst, wir halten euch deshalb für keine guten Journalisten."
Lektionen aus dem Fall Relotius
Der Henri-Nannen-Schüler Maximilian Rieger, der gerade ein Praktikum bei NDRinfo macht, hat seine Lektion Wahrhaftigkeit jedenfalls schon vor dem Fall Relotius gelernt.
"Das war mit das Erste, wenn es um Reportagen geht: Nichts erfinden! Das ist natürlich eine Selbstverständlichkeit. Aber ich weiß noch, dass Herr Wolfers das auch schon vor Relotius gesagt hat: 'Erfinden Sie nichts!' Ganz einfach."
Für ein Multimediaprojekt hat Andreas Wolfers die Schülerschaft rausgeschickt, um zum Thema Armut Geschichten zu entdecken, sie aufzuschreiben, erzählt Rieger:
"Und er meinte: 'Gehen Sie hin, sprechen Sie mit den Leuten, begleiten Sie die Leute! Und Sie kriegen wunderbare Geschichten raus. Und Sie brauchen nicht ein Zitat erfinden!'"
"Kein Platz für Ausschmückungen"
Für den jungen Journalisten und seine Kollegin Julia Kopatzki steht jedenfalls fest, was im Journalismus - oder spezieller: bei der Reportage - geht und was eben nicht:
"Wenn man seinen Job richtig versteht und die Reportage dann bedeutet: wiedergeben, was man erlebt, wiedergeben, was man sieht, dann ist es genauso unanfällig oder anfällig wie jedes andere Format. Denn wenn man auf seinen Augen und Ohren vertraut, dann ist da nicht viel Platz für Ausschmückungen."