Museum der Woche

Von Paul Stänner |
Das ehemalige Kloster St. Annen in der Altstadt von Lübeck umfasst zwei künstlerische Bereiche. Einerseits beherbergt die frühere Kirche die Kunsthalle mit ihrer Sammlung zeitgenössischer Kunst. Andererseits verfügt das Museum in den einstigen Wohn- und Arbeitsräumen des Klosters über eine der wertvollsten Sammlungen sakraler Kunst in Norddeutschland.
Flöge man in einem Flugzeug über Lübeck, dann würde man im Süden der Altstadt den Grundriss einer langgestreckten Kirche sehen und daneben eine Ansammlung von Gebäuden, die um kleine, begrünte Innenhöfe gruppiert sind. Kunsthalle und Museum St. Annen – das ist ein Komplex von historischen Gebäuden, ein heimeliges Gewirr von gemütlichen Wohnräumen, Tordurchgängen und Rasenflächen.

"Dieser Innenhof erinnert so ein kleines bisschen an Brügge, an diese niederländischen Innenhöfe, das liegt daran, dass man hier in diesem Stil auch ein bisschen bebaut hat, 17., 18. Jahrhundert, und diese Häuser sind vor allen Dingen im 18. Jahrhundert als Armen- und Werkhaus genutzt worden. Die Klöster sind hier alle in der Zeit der Reformation, also 1530, aufgehoben worden, und später hat man diese Gebäude anderweitig genutzt, und das Museum ist hier 1915 eingezogen."

Hildegard Vogeler ist stellvertretende Leiterin des Museums für Kunst– und Kulturgeschichte, also des historischen Teils des künstlerischen Ensembles St. Annen. Und weil wir gerade im Innenhof stehen und von hier aus den Blick frei haben auf die Außenmauern der ehemaligen Kirche, gibt es weitere Erklärungen.

"Sie sehen hier diese alten Räume des Klosters, was 1502 bis 1515 gebaut wurde. Und dort sehen Sie noch die Stümpfe der Apsis der alten Klosterkirche, die ist 1843 abgebrannt und hat lange als Trümmergrundstück dagestanden, und 2003 hat ein Lübecker Architekt über der Apsis der Kirche und dem Grundriss der alten Kirche ein Museum für moderne Kunst gebaut."

Besonders am massiven vorderen Teil des Gebäudes fällt diese Verbindung von Altbau und modernem Zusatz auf: Auf einem ungefähr vier Meter hohen Sockel aus dunklem Backstein steigt glatt die neue Betonwand auf, die dicke Mauer der alten Apsis ist das Fundament für den Ergänzungsbau.
"Ja, das ist völlig richtig, der Neubau erhebt sich praktisch über dem Mittelschiff dieser Kirche, und Sie haben auch innen das Gefühl, dass Sie in einer Kirche sind für moderne Kunst. Und das ist eigentlich das enorm Reizvolle davon."

Die Kirche und das Kloster St. Annen wurden 1502 gegründet. Die ursprünglichen Strukturen sind noch erhalten: das Gotteshaus, der Kreuzgang, der Speisesaal der Nonnen und einige Nebengebäude, in denen sie vermutlich den Kindern Lübecker Bürger Unterricht erteilten.

Nach der Reformation wurde das Kloster aufgelöst und das Gebäude diente kommunalen sozialen Einrichtungen. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Kirche und Obergeschoss des Konventgebäudes durch einen Brand zerstört. Die Kirche blieb Ruine – bis in das Jahr 2003.

"Das war der alte Eingang der Kirche. Wenn Sie von außen reinkommen, da haben wir jetzt einen Innenhof, ein Cafe und Bistro und einen Bookshop."

Von der Straße aus sieht man ein Portal aus dunklem, verwittertem Sandstein. Ein heller gotischer Bogen öffnet den Weg in den Innenhof, in dem wir jetzt stehen, der ursprünglich einmal der vordere Teil der Kirche gewesen war.

"Das war aber schon ursprünglich ein Teil der Kirche, und jetzt können Sie durch diese Glaswände hindurch entweder in die Kunsthalle gehen oder ins St. Annenmuseum durch diese kleine Türe."

Die vordere Hälfte der ehemaligen Kirche ist der offene Innenhof, der hintere Teil um den früheren Altarraum ist die Kunsthalle, die sich wie eine Theaterbühne dem Blick darbietet.

Die Hofwand aus Glas und Stahl leitet das Licht in das Gebäude, die übrigen Wände aus glattem, hellem Beton nehmen es auf und verteilen es im Raum. Ingo Siegmund, ein Lübecker Architekt, erhielt dafür den Ersten Preis für Bauten aus Schleswig-Holstein.

Vogeler: "Das ist der Neubau, der praktisch die Ruinen der Kirche mit einbezieht, und wenn Sie eine Etage höher gehen, haben Sie praktisch nur noch moderne Architektur, und an der Seite geht so die Kirchenwand weiter, aber hier drüber erhebt sich eben der Neubau, der zeitgenössische Kunst zeigt."

Die Kunsthalle bietet wechselnde Ausstellungen aktueller Kunst, hat aber in ihren eigenen Beständen auch Werke von Emil Schumacher, Harald Duwe und Bernhard Heisig.

"Von hier oben können Sie sehr schön in diese Halle gucken, und dann erkennen Sie noch mal die ursprüngliche Struktur dieser Kirche und diesen Neubau, der die Ruinenreste mit einbezieht. Es ist also unglaublich reizvoll, weil Sie haben keine Verschmelzung beider Bauten, sondern ein ganz krasses Gegeneinandersetzen, was diesen Bau als modernen Bau eben auszeichnet."

Die modernen Träger, die das Dach stützen, sind nicht nahtlos auf die alten Säulen aufgesetzt, sondern durch schwarze, runde Scheiben, die wie überdimensionale Eishockey-Pucks aussehen, abgepolstert. Man hat den Eindruck, als würde der moderne Bau sich schützend über die Kirchenreste wölben, um sie wie ein Exponat zu präsentieren. Der historische Raum selbst wird zum Bestandteil der Sammlung.

"Und Sie können hier unten oder im ersten Stock zwischen den beiden Bauwerken wechseln, so dass Sie eigentlich auch die alte Kunst und die neue vergleichen können, das ist ganz reizvoll."

Während die Kunsthalle St. Annen in der wiedererrichteten Kirche einen Ausstellungsraum für die Moderne nach 1945 bietet, wird in den ehemaligen Räumen des Augustinerinnen-Stifts eine der wertvollsten Sammlungen sakraler Kunst des Mittelalters ausgestellt.

"Ich zeig Ihnen mal mein Lieblingsstück! Das ist mein Lieblingsstück! Also mein Lieblingsstück ist eine ganz zauberhafte Steinmadonna, die wahrscheinlich im französisch-burgundischen Raum in der Zeit um 14.hundert entstanden ist."

An einer Wand im Kreuzgang des ehemaligen Klosters steht auf einem kleinen Sockel eine schmale Frauengestalt, besonders hervorgehoben durch die Beleuchtung mit Punktstrahlern.

"Ein zauberhaftes Stück, gerade wenn Sie dieses Lächeln, dieses zarte, mädchenhafte Lächeln dieser kleinen unterlebensgroßen Figur sehen, dann merken Sie gar nicht, dass eigentlich das Wichtigste fehlt, ich weiß nicht, ob Sie das sehen – das Kind fehlt nämlich."

Die junge Frau steht mit erhobenen Armen ein wenig nach rechts gedreht und stellt durch diese nicht uncharmante Bewegung ihren Unterleib zur Schau, der auf eine Schwangerschaft im vierten oder fünften Monat schließen lässt. Man hätte jetzt vermutet, es sei eher wegen ihrer Schwangerschaft und der Vorfreude auf das Kind, dass sie so versonnen und entrückt schaut, die Hände gleichsam in Erwartung ausgestreckt.

"Das ist ein typisches Zeitphänomen. Um 1400 ist es ein Schönheitsideal, einen runden Bauch zu zeigen. Das zeigt Maria als Mutter, da wird sie, wenn Sie das so sehen, 14 oder 16 Jahre höchstens sein, was ja nach den Apokryphen auch so hinkommt mit der Zeit, und sie präsentiert das neugeborene Kind, nur ist es leider verloren gegangen. Trotzdem hat sie einen solchen Charme und eine solche Anmut, dass man einfach ganz beglückt ist, wenn man dieses schöne Bild ansieht."

Diese so genannte Niendorfer Madonna wurde auf dem gleichnamigen Stadtgut entdeckt, wo sie unbeachtet herumstand, bis vor circa 100 Jahren endlich jemand ihre Schönheit erkannte. Wahrscheinlich stammte sie aus der Petrikirche, aber so genau weiß man das nicht. Dann weiß man wahrscheinlich auch nicht, wer sie geschaffen hat?

"Man weiß es nicht, wie das oft so ist. Wenn man keine Unterlagen hat, kann man sehr schwer den Stifter wissen und den Künstler schon gar nicht. Gerade in der Zeit noch, 14., 15. Jahrhundert, hat man die Stücke nicht signiert, da trat man eigentlich hinter dem Werk zurück zur Ehre Gottes oder zu Stiftungszwecken."

Stiftungen sind in Lübeck eine Tradition – seit den alten Tagen der Hanse konnte und kann sich die Stadt glücklich schätzen, zu ihren Bürgern reiche Menschen zu zählen, die aus sozialen oder künstlerischen Gründen Stiftungen auf den Weg gebracht haben.

Auch der Bau von Kunsthalle und Museum St. Annen ist von einer solchen gemeinnützigen Einrichtung unterstützt worden. Die Possehl-Stiftung wurde 1919 eingerichtet und hat mit weltweit über 2000 Mitarbeitern keine andere Aufgabe, als die Kassen der Stiftung zu guten Zwecken zu füllen. Und wenn man so will, antwortet die Institution St. Annen darauf: Das Café im Lichthof wird von der Vorwerker Diakonie betrieben, die hier für Behinderte Arbeitsplätze schafft.